Psychological Thought and Practice

Organisatoren
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften; Leopoldina Akademie der Naturforscher; Mitchell G. Ash, Institut für Geschichte, Universität Wien; Paul B. Baltes, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin; Thomas Sturm, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2003 - 05.07.2003
Von
Thomas Sturm, AG Psychologisches Denken und psychologische Praxis, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin; Christian Wirrwitz

Wie werden und wurden psychische Phänomene in so verschiedenen Disziplinen wie der Psychologie, der Philosophie, der Hirnforschung, den Sozial- und Technikwissenschaften erforscht? Welche Instrumente werden und wurden dafür eingesetzt, mit welchen Möglichkeiten und Grenzen? Und wie wird und wurde psychologisches Denken und Forschen in verschiedenen technischen und lebenspraktischen Kontexten angewendet?

Diese drei Leitfragen bildeten den Rahmen der internationalen Konferenz Psychological Thought and Practice, die die AG Psychologisches Denken und psychologische Praxis in wissenschaftshistorischer und interdisziplinärer Perspektive vom 3. bis 5. Juli 2003 veranstaltete. Vorträge und Kommentare hierzu aus Psychologie, Neurowissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie wurden von Mitchell G. Ash (Wien), Rainer Bösel (Berlin), Jochen Brandtstädter (Trier), Cornelius Borck (Weimar), James Capshew (Bloomington), Martin Eberhardt (Berlin), Kenneth J. Gergen (Swarthmore), Horst Gundlach (Passau), Michael Heidelberger (Tübingen), Sven Lüders (Berlin), Sabine Maasen (Basel), Jill Morawski (Middletown), Joëlle Proust (Paris), Gerhard Roth (Delmenhorst/Bremen), Wolfgang Schönpflug (Berlin), Fritz Strack (Würzburg), Lothar Sprung (Berlin), Thomas Sturm (Berlin) und Bernhard Wilpert (Berlin) gehalten.

Der Zusammenhang der Leitfragen untereinander wurde nicht zuletzt an zwei Diskussionsschwerpunkten in den Beiträgen und Diskussionen deutlich. Der erste betraf das Verhältnis der Psychologie zu ihren Nachbardisziplinen, insbesondere zu den Neurowissenschaften und der Philosophie. Wie trugen etwa Anwendungsbedürfnisse, spezielle Forschungstechniken oder die zunehmende Differenzierung, ja Fragmentierung des Verständnisses von psychischen Phänomenen zu institutionellen Entwicklungen in den Wissenschaften und zum unterschiedlichen Umgang der jeweiligen Disziplinen mit psychischen Thematiken bei? Wie sind diese Entwicklungen jeweils zu bewerten? Ein zweiter wiederkehrender Diskussionsschwerpunkt betraf das Verhältnis der akademischen Psychologie zur nichtakademischen Psychologie: In welchen Beziehungen steht psychologisches Wissen zu alltäglichen Denk- und Handlungsweisen? Wie sehr ist die Psychologie von vorwissenschaftlichen Begriffen menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns abhängig? Wie sehr kann, wie sehr sollte sie sich von der "Alltagspsychologie" befreien, und in welche Richtungen soll sich die psychologische Forschung und Praxis dabei entwickeln? Was schließlich bedeuten Antworten auf diese Fragen für die Zukunft der Psychologie als Disziplin?

In seinem einführenden Vortrag formulierte Mitchell Ash zwei Thesen zum Umgang mit den genannten Fragestellungen: (1) Psychologisches Denken - definiert im breiten Sinne als Diskurs über menschliche Erfahrung und Verhalten im Allgemeinen - hat eine fundamentale Rolle in der Entstehung und Entwicklung aller Disziplinen, die sich mit menschlichen Angelegenheiten befassen. Folglich kann eine Behandlung der Geschichte psychologischen Denkens auf keinen Fall auf die Geschichte der akademischen Disziplin namens Psychologie begrenzt bleiben. (2) Die gängige Ansicht, dass praktische Anwendungen wissenschaftlichen Wissens in linearer Weise aus den jeweiligen Grundlagendisziplinen entstanden sind, traf in der Geschichte der Psychologie selten zu und mag auch für kaum eine andere Wissenschaft gelten. Im Gegenteil: Die Praxis hat ihre eigene Geschichte, die sich oft genug aus Versuchen speist, einer Nachfrage nach Lösungen für soziale und kulturelle Probleme mit psychologischem Wissen bzw. mit praktischen Adaptierungen psychologischer Forschungstechniken nachzukommen, ganz gleich, ob die Wissenschaft mit fundiertem Wissen bereit stand oder nicht. In beiden Themenfeldern geht es also um Wechselwirkungen zwischen der akademischen Psychologie und anderen Bereichen, in denen die Psychologie nicht nur eine Geberin, sondern oft genug die Nehmerin gewesen ist.

1. Die kognitive und institutionelle Differenzierung psychischer Gegenstände

Im ersten Themenblock konzentrierten sich die Beiträge und Diskussionen zunächst auf die Frage, wie sich Erklärungen derselben psychischen Phänomene durch verschiedene Theorien und Disziplinen zueinander verhalten. Joëlle Proust, Jochen Brandtstädter und Thomas Sturm untersuchten philosophische, alltagspsychologische und neurobiologische Erklärungen mentaler Phänomene. Proust berichtete von der Diskrepanz zwischen nichtreduktionistischen Erklärungen, die vor allem in der Philosophie und in der Alltagspsychologie vertreten werden, und den eliminativen und reduktionistischen Erklärungen, die vor allem in den Neurowissenschaften verbreitet sind. Brandtstädter sprach sich für das nichtreduktionistische Bild aus. Er argumentierte zudem dafür, dass dieser sogar konstitutiv für das Selbstverständnis der Psychologie sei, auch wenn die Entstehung und die Entwicklung intentionaler Zustände - wie Meinungen, Wünsche oder Handlungen - selbst nicht von einem intentionalen Standpunkt aus zu erklären sei. Intentionales und Nichtintentionales beeinflussen sich vielmehr gegenseitig, wie sich an der Genese und Kontrolle mentaler Zustände und anderen Phänomenbereichen der Psychologie zeigen lasse. Sturm untersuchte exemplarisch philosophische und psychologische Perspektiven auf das Thema der Selbsttäuschung. Eine disziplinäre Arbeitsteilung zwischen philosophischer Analyse dieses ursprünglich alltäglichen Begriffs einerseits und einer psychologisch-empirischen Erforschung der Ursachen und Funktionen von Selbsttäuschung andererseits sei zwar plausibel. Allerdings berge sie auch Probleme: "Der" richtige Begriff von Selbsttäuschung lässt sich nicht in rein begriffsanalytischer Manier finden, und man muss Zweifel an der Existenz des Phänomens ernstnehmen. Falls Selbsttäuschung jedoch vorkommt, können Psychologen und Philosophen in mancher Hinsicht fruchtbar diskutieren: beispielsweise über die Frage der Rationalität oder Irrationalität des Phänomens.

In den anschließenden Diskussionen stand neben dem Verhältnis zwischen Psychologie und Neurobiologie auch das Verhältnis zwischen akademischer und nichtakademischer Psychologie im Zentrum: Sowohl die sogenannte Alltagspsychologie mit ihren Begriffen (Wille, Selbst) und ihren Prinzipien zur Erklärung und Vorhersage, als auch die populärwissenschaftliche Literatur über psychologische Themen ("Emotionale Intelligenz") wurden unter dem Etikett der nichtakademischen Psychologie verhandelt. Umstritten war dabei, wie man den Einfluss der Alltagspsychologie auf die akademische Psychologie bewerten soll. Sollen alltagspsychologische Begriffe in der Psychologie nur revidiert oder sogar eliminiert werden? Michael Heidelberger argumentierte dafür, dass die Begriffe in großen Bereichen erhalten bleiben können und sollen, auch wenn die fehlerhaften Elemente der alltagspsychologischen Überzeugungen aufgegeben werden müssen.

Einig waren sich die Teilnehmer darin, dass es eine starke Wechselwirkung zwischen akademischer und nichtakademischer Psychologie gibt: Alltägliche mentale Begriffe werden von der Psychologie aufgegriffen und operationalisiert; alltägliche Techniken zur Vorhersage oder Erklärung werden psychologisch untersucht. Dadurch werden die Begriffe und Techniken mit neuem Wissen verknüpft. Durch Anwendungen (etwa in der Therapie), wissenschaftsjournalistische Beiträge und populärwissenschaftliche Literatur finden sie wiederum ihren Weg zurück in das öffentliche Bewußtsein und werden nun in veränderter Form erneut verwendet.

Viele Vorträge und Diskussionen ließen sich als Illustration der einzelnen Stadien dieses Kreislaufs betrachten. Sven Lüders zeigte am Beispiel der "Aufmerksamkeit", dass es grundverschiedene Versuche der Operationalisierung alltäglicher Begriffe gegeben hat. Kenneth Gergen untersuchte den Kreislauf am Beispiel der so genannte "mentalen Defizite": Begriffe wie "Depression" werden im Alltag immer häufiger verwendet; dadurch zählt man schneller als psychisch krank und nimmt häufiger professionelle Hilfe in Anspruch, was wiederum eine Reaktion der Psychologie auf diese erhöhte Nachfrage auslöst. Gergen erklärte solche Kreisläufe damit, dass psychologische Phänomene ohnehin sozial konstruiert seien, und dass diese Konstruktionen wiederum von intellektuellen und finanziellen Interessen abhängig seien. Dem wurde von Jochen Brandtstädter entgegengehalten, dass wir uns mit verschiedenen Begriffen und Theorien auf dieselben Phänomene beziehen können - entsprechend mögen die Begriffe und Theorien, aber nicht die Phänomene sozial konstruiert sein.

Jill Morawski beleuchtete die Frage, ob psychologische Phänomene objektiv erfassbar seien, von einer anderen Seite. Sie diskutierte die Schwierigkeiten, psychologische Subjekte und ihre Untersuchung trotz der Effekte der Versuchssituation auf die Versuchsperson so zu standardisieren, daß das Ideal wissenschaftlicher Objektivität gewahrt werden kann. Die Kritik an Morawskis Überlegungen bezog sich vor allem darauf, dass sie davon spreche, dass die Versuchssubjekte standardisiert würden - während man auch vorsichtiger sagen könnte, dass lediglich die Versuche standardisiert werden, ohne dass dies allzu großen Einfluss auf die Subjekte haben muss oder hat (Jochen Brandtstädter, Fritz Strack).

2. Technische und lebenspraktische Anwendungen der Psychologie

Im zweiten Block der Konferenz ging es um psychologische Anwendungen. Dabei gab es zwei Schwerpunkte: Einerseits technische Anwendungen psychologischer Theorien, andererseits die populärwissenschaftlichen Verwertungen von Theorien und Begriffen. Zum ersten Punkt berichtete Bernhard Wilpert über Anwendungen der Psychologie etwa im Bereich der Systemsicherheit (etwa in Kernkraftwerken, bei der Flugsicherheit, in der Medizin u.a.m.): Gemeinhin sieht man Sicherheitsrisiken in hochtechnologischen Arbeitsbereichen allein als Resultat von misslingender Mensch-Maschine-Interaktion. Hier können jedoch oft auch Konzepte und Theorien aus psychologischer Forschung zum Einsatz kommen: Unfälle resultieren hier oft auch aus Fehlern in der Kognition oder der sozialen Kommunikation und Kooperation der Tätigkeiten. Unter den Ingenieuren, Technikern, oder den Operationsteams von Krankenhäusern gibt es bei der Einführung von psychologischen Sicherungsverfahren anfänglich oft Gegenwehr, gerade wenn diese Verfahren von Psychologen für und mit den Akteuren eingeführt werden sollen. Wie Wilpert betonte, hängt die Möglichkeit einer Überwindung solcher Vorbehalte besonders davon ab, dass einerseits eigenständige Theorien nahe beim Anwendungsbereich entwickelt werden, und andererseits seitens der psychologischen Berater darauf beharrt wird, dass nur systematisch theoriebasierte Zugänge zu dauerhaften Problemlösungen führen.

Sabine Maasen analysierte die einflussreiche Selbsthilfeliteratur aus den 1920er Jahren und aus der Gegenwart insbesondere in Hinsicht auf die darin auftretenden Willensbegriffe. Während die früheren "Erfolgsratgeber" in ihren praktischen Ratschlägen für die Gestaltung von Privat- und Berufsleben heutigen Schriften oft ähneln, so unterscheiden sie sich in der wesentlichen Zielvorgabe: War man in den 1920ern zumeist darauf aus, den für das Arbeitsleben disziplinierten, charakterstarken Angestellten zu erzeugen, so ist das Idealbild heute eher das eines höchst flexiblen Individuums, das sich rasch den Erfordernissen neuer Lebens- und Arbeitssituationen anpassen kann. Außerdem waren die Ratgeber der früheren Zeit stärker von Bezugnahmen auf damaliges wissenschaftliches Wissen aus Psychologie, Physiologie oder sogar Physik geprägt; heute hingegen bestehen solche Bezüge in der Selbsthilfeliteratur zwar fort, doch die Grenze zu religiösen oder alltäglichen Weisheiten ist fließender geworden.

Diese Arten angewandten psychologischen Wissens riefen in der Debatte erwartungsgemäß gemischte Gefühle hervor: Während Paul Baltes betonte, dass diese Literatur dem Image der Psychologie stark schadet, gab etwa Joëlle Proust zu bedenken, dass die Psychologie die Bedürfnisse der Gesellschaft nach solchen Anwendungen nicht einfach ignorieren darf.

3. Instrumentalisierung in der psychologischen Forschung

Der dritte Themenblock diskutierte an historischen und aktuellen Beispielen die Chancen und Probleme psychologischer Forschungsinstrumente. Dieser Schwerpunkt wurde besonders durch eine von Horst Gundlach organisierte Ausstellung von Instrumenten und Apparaten aus der Geschichte der Psychologie ergänzt. Hier wurde nicht nur greifbar gemacht, mit welchen Mitteln, Schwierigkeiten der Operationalisierung und Messung, mentale Phänomene angegangen worden sind und werden.

Die Dynamik psychologischer Forschung, die Erschließung neuer Phänomenbereiche und die Entwicklung neuer Theorien, hängt bis heute in nicht zu unterschätzender Weise von der Entwicklung neuer Mess- und Beobachtungsapparate ab. Daher werden neuen Instrumenten von den Forschungsgruppen oft hohe Bedeutung beigemessen, bis hin zur Verwendung der Instrumente als Statussymbole. Zu solchen Tendenzen einer Instrumentalisierung der psychologischen Forschung gibt es freilich auch Gegenbeispiele. Martin Eberhardt diskutierte Carl Stumpfs Forschungsprogramm einer Tonpsychologie. Stumpf hat die Entwicklung seiner Forschungsmittel ganz an seiner vorgängigen tonpsychologischen Theorie ausgerichtet. Um die Wahrnehmung von Tönen oder Klängen zu untersuchen, haben er und seine Studenten zwar manche neue Instrumente und Apparate eingesetzt, doch diese erhielten weder theoretisch noch technologisch mehr Beachtung als unbedingt notwendig.

Cornelius Borck beschrieb die Anfänge des heute in psychologischen Laboren weitverbreiteten, ursprünglich von Hans Berger entwickelten EEGs. Hauptzweck dieses Instruments - und seiner historischer Vorläufer - ist die graphisch-mechanische Repräsentation psychischer Phänomene, oft in der Hoffnung, eine höhere Objektivität bei der Gewinnung von Daten zu erreichen. Dabei hat das EEG geradezu ein Eigenleben entwickelt und viele neuartige Theorien inspiriert. Berger war über die Frage, wie weit damit wirklich psychische Phänomene erfasst werden konnten - im Gegensatz zu rein hirnphysiologischen Vorgängen - zurückhaltend genug, auch wenn die damalige Presse darüber enthusiastischer war. Die Grenzen des EEG sind freilich keine absoluten: Wie in der anschließenden Diskussion betont wurde, habe seine Anwendung inzwischen wohl mehr Erfolgsaussichten, jedenfalls dann, wenn es im Zusammenhang mit anderen Instrumenten wie bildgebenden Verfahren (PET, fMRI) eingesetzt werde.

Fritz Strack diskutierte die besonderen Schwierigkeiten bei der Methode der Befragung von Versuchspersonen. Die Antworten, die Personen hierbei geben, werden von diesen oft als auf Introspektion basierend aufgefasst. Diese Methode ist jedoch keineswegs verlässlich: So lässt sich ein Einfluss der Reihenfolge und der Formulierung der Fragen auf die Versuchsergebnisse nachweisen. Sozialwissenschaftliche Umfragen nehmen auf solche Faktoren zumeist keine Rücksicht. Strack stellte ein kognitions- und sozialpsychologisches Modell der standardisierten Befragung vor: Es versucht zu berücksichtigen, dass die Generierung einer Antwort den Gesetzmäßigkeiten der Informationsverarbeitung im sozialen Kontext unterliegt. Akzeptable Antworten müssen demzufolge Bedingungen erfüllen wie die, dass Befrager und Versuchsperson dieselben Ziele haben und dieselben Regeln befolgen - etwa gemäß dem Kooperationsprinzip und den Maximen für gelingende Kommunikation des Philosophen Paul Grice. Kommunikation verläuft faktisch natürlich nicht immer nach solchen Idealen. Daher ist es für die sozialwissenschaftliche Befragung wichtig, die emprischen Umstände zu erforschen, unter denen die Kommunikation zwischen Befragern und Befragten gelingt.

Gerhard Roth und Rainer Bösel stellten abschließend neuere Entwicklungen in der Neurobiologie vor. Insbesondere ging es um die Frage, welche Phänomene man mit welchen Techniken (Bildgebende Verfahren; EEG) erfassen kann. In den Diskussionen hierzu rückte wieder das Verhältnis von Psychologie und Neurowissenschaften in den Mittelpunkt: Mitchell Ash fragte, wie weitreichend die Erklärungsansprüche der Neurobiologen sind - Roths Rhetorik könne einen glauben machen, dass psychische Phänomene nun erklärbar seien. Bösel korrigierte diesen Eindruck: Man kann technisch eingreifen, aber man ist weit davon entfernt, für alle psychischen Phänomene hinreichende neuronale Bedingungen angeben zu können. Ash fragte zudem, was genau erklärt werde - psychische oder neuronale Phänomene? Roth betonte, dass tatsächlich psychische - und nicht nur neuronale - Phänomene erklärt werden sollen. Strack gab dagegen zu bedenken, daß sich durch den Erfolg der Neurowissenschaften die Themen ändern, und dass zwar Antworten auf neue Fragen gefunden werden, die alten Fragen der Psychologen jedoch durch die Neurowissenschaften unbeantwortet bleiben könnten. Die Vielfältigkeit der Perspektiven auf dieselben Phänomene wurde von allen begrüßt; man war sich einig, dass die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Psychologen und Neurowissenschaften ein wichtiges Ziel für beide Seiten darstellt.

4. Die Zukunft der Psychologie: Reflexionen und Projektionen

Forderungen dieser Art waren auch das Thema einer abschließenden Podiumsdiskussion über die Zukunft der Psychologie, die gemeinsam von Mitchell G. Ash und Paul B. Baltes geleitet wurde. Sie diskutierten mit James Capshew, Joëlle Proust, Wolfgang Schönpflug und Fritz Strack vor allem drei Fragen: Wird die akademische Psychologie in spezialisierte Einzelwissenschaften zerfallen? Wie kann sie dem Druck der Neurowissenschaften einerseits standhalten, und andererseits ihr Ansehen, das vor allem durch populärwissenschaftliche Literatur und Auftritte vermeintlicher Spezialisten in den Medien leidet, retten? Kann sie hierbei von der Wissenschaftsgeschichte profitieren?

Die Fragmentierung der Psychologie wurde für wahrscheinlich gehalten. Wie Fritz Strack betonte, stehe die Psychologie heute von zwei Seiten unter massivem Konkurrenzdruck: einerseits von Seiten der nicht zuletzt wissenschaftspolitisch derzeit enorm einflussreichen Neurowissenschaften, andererseits durch das in der Öffentlichkeit verbreitete Bedürfnis nach Lebensberatung und dem entsprechenden Boom einer psychologischen Ratgeberliteratur, die stark populär- oder gar pseudowissenschaftliche Züge trägt. Zum Teil lasse sich in Reaktion hierauf zum Beispiel schon eine Abkoppelung der biologischen Psychologie erkennen; und es gebe auch die Beobachtung, daß sich immer weniger junge Forscher als 'Psychologen', sondern lieber als 'Kognitionswissenschaftler' oder ähnliches bezeichnen. Wolfgang Schönpflug betonte, dass die Fragmentierung letztlich von pragmatischen Faktoren abhängt: Solange es nützlich für die einzelnen Forscher ist, sich dem Kreis der Psychologen zuzurechnen, wird die Fragmentierung in Grenzen bleiben. Joëlle Proust machte das Fortbestehen der akademischen Psychologie davon abhängig, wie sehr es ihr gelingen wird, die Bedürfnisse der Gesellschaft nach psychologischen Erklärungen und professioneller Hilfe bei psychischen Problemen zu befriedigen.

Damit verbunden ist auch das Ansehen der Psychologie: Baltes konstatierte, daß Leistungen der Psychologie wie die Beiträge zur Risikominimierung in der Kernenergie oder zur Entwicklung adäquater ökonomischer Verhaltenstheorien von der Öffentlichkeit ignoriert werden; populärwissenschaftliche Selbsthilfehandbücher prägten zu oft das Image der Psychologie. Dieses negative Image sei so stark, dass es seriöse Psychologen von dem Versuch abhalte, es in der Öffentlichkeit zu korrigieren und außerhalb wissenschaftlicher Kontexte in Gesellschaft und Politik einzugreifen. Ash betonte wie Proust die Verantwortung der Psychologie gegenüber der Öffentlichkeit: Psychologen müssen sich stärker darum kümmern, ihr Expertenwissen verständlich zu machen. Vermittlung der Wissenschaft wie auch Anwendung in gesellschaftlichen Bereichen sei nicht zu leisten, wenn sich die akademische Psychologie allzu radikal von der Alltagspsychologie lösen wolle.

Schließlich fragte Baltes, ob die Beschäftigung mit der Geschichte der Psychologie die psychologische Forschung verbessere. James Capshew zeigte sich - als Historiker - optimistisch; Wolfgang Schönpflug bezweifelte - als Psychologe - die Relevanz der Geschichte für die tägliche Arbeit, auch wenn geschichtliches Wissen zur Allgemeinbildung der Psychologen gehören sollte. Strack konkretisierte diesen Gedanken: Die alltägliche Arbeit als Teil eines größeren Rahmens zu verstehen verlange historisches Wissen, auch wenn - wie Baltes zu bedenken gab - ein solches Wissen mitunter der Kreativität im Wege stehen mag.

http://www.bbaw.de/iag/ag_psycho/index.html
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