Medizin und Judentum: Emigrantenschicksale

Medizin und Judentum: Emigrantenschicksale

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden und Medizinhistorisches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2003 - 30.10.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Nach Vorlage von Prof. Werner F. Kümmel, Medizinhistorisches Institut der Universität Mainz mit Ergänzungen durch Frau Heidel

Unter der Thematik "Emigrantenschicksale - Einfluß der Emigranten auf Sozialpolitik und Wissenschaft in den Gastländern" fand am 29. und 30. Oktober 2003 in Dresden das 7. Kolloquium "Medizin und Judentum" statt - eine Veranstaltungsreihe, die in Initiative des Institutes für Geschichte der Medizin der Medizinischen Fakultät an der TU Dresden im Jahre 1993, also vor 10 Jahren, begründet worden war und seit 1999 gemeinsam mit dem Medizinhistorischen Institut der Universität Mainz ausgerichtet wird. Das Interesse an der diesjährigen Tagung und Thematik war außerordentlich groß, was nicht zuletzt auch die aktive Teilnahme von Gästen aus Frankreich, Großbritannien, Israel, Österreich, Polen und der Türkei widerspiegelt.

Im Mittelpunkt der Untersuchungen und Referate stand das Emigrantenschicksal von Ärztinnen und Ärzten unter dem Nationalsozialismus, wobei die Einflüsse, welche die Emigranten aus Deutschland und Österreich auf ihre Fachgebiete bzw. auf das Gesundheitswesen in den Aufnahmeländern ausgeübt haben, besonders berücksichtigt werden sollten. Das Programm umfasste 21 Vorträge und 9 am Schluß der Tagung vorgestellte Posterpräsentationen. Die Vorträge waren je zur Hälfte einzelnen Personen sowie kleineren oder größeren Kollektiven gewidmet, die Poster überwiegend einzelnen Personen.

Was die Lebenswege einzelner Emigranten angeht, die erstmals genauer rekonstruiert werden konnten, so waren sie zwar je nach Aufnahmeland sehr unterschiedlich, im Ganzen jedoch, bedingt natürlich durch die Themenstellung, überwiegend "Erfolgsgeschichten", obwohl auch die teilweise großen Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, hinreichend deutlich wurden. Letzteres wurde insbesondere in der auf einem Material von 4.681 Biographien nach England emigrierter Mediziner basierenden Auswertung und Übersichtsdarstellung deutlich. Wissenschaftler, die schon einen Namen in ihrem Fach hatten, konnten naturgemäß leichter und schneller wieder Fuß fassen als niedergelassene praktische Ärzte und Fachärzte, wobei auch hier je nach Bedarf die Verhältnisse in den Aufnahmeländern unterschiedlich waren. Als sehr verschiedenartig erwiesen sich auch die Einflüsse, die von den Emigranten in den Gastländern ausgingen: Abgesehen von speziellen Fachrichtungen waren sie zum Beispiel in den USA eher gering, in Palästina dagegen sowohl in der Wissenschaft als auch im Gesundheitswesen insgesamt sehr groß, ebenso in der Türkei, dort allerdings beschränkt auf die wissenschaftliche Sphäre.

Am Beispiel einzelner Emigranten kamen auch allgemeinere Aspekte zur Sprache, wie etwa das Problem Akkulturation und Dekulturation (Martin Gumpert), der relativ seltene Fall der Rückkehr aus der Emigration nach Deutschland (Hugo Freund, Alfred Kantorowicz), die Versuche von Emigranten, durch ein Mitteilungsorgan aus dem Ausland Informationen zu verbreiten ("Internationales Ärztliches Bulletin") oder die Form "der inneren Emigration" (Ludwig Fleck).

Besonders instruktiv waren mehrere Untersuchungen zu Kollektiven. Dabei verdienen hervorgehoben zu werden die auf der Grundlage eines einmalig günstigen Quellenbestandes gebotene Analyse der Mediziner, die nach Großbritannien kamen; die Darstellung der Konflikte zwischen liberalistischen und sozialistischen Konzepten für das Gesundheitswesen, die in Palästina durch die Emigranten entstanden und unter ihnen ausgefochten wurden; die erstmals zur Berufung medizinischer Wissenschaftler in die Türkei (im Zusammenhang mit der Universitätsreform 1933) ausgewerteten Quellen aus türkischen Archiven sowie die ebenfalls erstmals zur Emigration von Ärzten nach Shanghai ausgewerteten Quellen aus chinesischen Archiven. Überhaupt konnte auf der Tagung die Forschung nicht zuletzt dadurch weitergeführt werden, daß nicht die USA, wohin zahlenmäßig die meisten Ärzte aus Deutschland und Österreich auswanderten, sondern die Türkei und Palästina im Vordergrund standen. Untersuchungen zur zahlenmäßig eher geringen Emigration in die Sowjetunion, auf die sich zwei Vorträge bezogen, sind noch immer sehr erschwert durch die Unzugänglichkeit der Archive. Immerhin konnte das Exil des Medizinhistorikers Richard Koch in Kaukasus aufgrund von jetzt zugänglich gewordenen eigenen Aufzeichnungen ein gutes Stück weit erhellt werden. Ein erhebliches Desiderat der Forschung bildet weiterhin die Auswanderung von Ärzten nach Lateinamerika; sie war auf der Tagung immerhin mit einer Posterpräsentation berücksichtigt.

Zusammenfassend kann uneingeschränkt gesagt werden, dass die Tagung das bisherige Bild von der Ärzteemigration im Gefolge des Nationalsozialismus sowohl hinsichtlich einzelner Biographien als auch hinsichtlich verschiedener Auswanderungsländer in vielen Punkten wesentlich erweitern und differenzieren konnte.

Wie bei den vorangegangenen Tagungen ist auch diesmal die Veröffentlichung der Vorträge (Bd. 7 der Schriftenreihe "Medizin und Judentum") vorgesehen.


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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