Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts

Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V.
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.10.2003 - 01.11.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Esther Büter, Susanne Krauß, Jens Ruppenthal

Vom 30. Oktober bis 1. November fand unter dem Titel "Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts" im Augustinerkloster Erfurt die Jahrestagung 2003 der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. statt. Sie wurde gefördert von der Deutschen Stiftung Friedensforschung und der Universität zu Köln.

Die Tagung wurde vom Vorsitzenden der Ranke-Gesellschaft, Prof. Dr. Jürgen Elvert (Köln) eröffnet. Anschließend umriss Dr. Birgit Aschmann (Kiel) einleitend methodische Ansätze und Definitionen. Dabei nahm sie interdisziplinär auf Günter Anders, Michel Foucault, Ute Frevert, Lothar Gall, Carlo Ginzburg, Hermann Schmitz, Georg Simmel und Aby M. Warburg Bezug und kam zu dem Ergebnis, dass es für den Historiker drei strukturelle Ebenen gebe, auf denen Emotionen aufträten und Bedeutung erlangten: auf der Ebene des Erkenntnissubjekts; auf der Ebene der Historiker; als Historizität von Gefühlen. Zusätzlich erschwert werde die Forschung, weil es sehr problematisch sei, echte Emotionen von demonstrativen zu trennen. Weil Emotionen als Folge des Rationalitätsgebotes lange als niedere, negative, unterdrückenswerte Teile von Einzelpersönlichkeiten und Gruppen bewertet wurden, seien sie derzeit noch ein "dunkler Fleck" für die Wissenschaften, der erst allmählich erschlossen werden müsse.

Prof. Dr. Hilde Haider-Hasebrinck (Köln) definierte emotionale Reaktionen als Zusammenspiel einer subjektiven Erlebniskomponente, einer physiologischen, einer Ausdrucks-, einer kognitiven und einer motivationalen Komponente. Zusätzlich grenzte sie Emotionen von Stimmungen und affektiven Gefühlen ab: Emotionen würden demnach durch eine spezifische Ursache hervorgerufen, seien intensiv und zeitlich relativ begrenzt; Stimmungen seien demgegenüber weniger intensiv, aber dauerhaft und ohne spezifische Ursache, während affektive Gefühle kurzfristig, aber wenig intensiv seien. Darauf aufbauend präsentierte sie ihre These, Emotionen und Kognitionen seien untrennbar miteinander verbunden, die sie anschließend in vier Schritten belegte. Erstens sei die Trennung von Kognition und Emotion problematisch; zweitens beeinflussten Emotionen menschliche Entscheidungsprozesse direkt; drittens lenkten Emotionen nachweisbar kognitive Verarbeitungsprozesse; viertens beeinflussten Emotionen den kognitiven Verarbeitungsstil unmittelbar.

Nachdem damit methodische und psychologische Grundlagen gelegt waren, wurden die Basisemotionen Angst, Liebe und Hass, Vertrauen, Ehre und Zuneigung nacheinander in Sektionen systematisch fokussiert.

In der Sektion zur "Angst" sprach zunächst Prof. Dr. Stig Förster (Bern) über "Angst und Panik - Irrationale Ursachen des Ersten Weltkriegs". Er legte dar, dass das heute als irrational gedeutete Verhalten der politischen und militärischen Entscheidungsträger des deutschen Kaiserreichs sowohl auf die damals als rational verstandene "Perzeption der äußeren Sicherheitslage" als auch auf die Weltsicht jenes Personenkreises zurückzuführen sei. In dieser Weltsicht habe sich ein sozialdarwinistischer Kulturpessimismus in der "Sehnsucht nach einem Krieg" zur Reinigung von "moralischer Auflösung" gezeigt. Resultat sei eine unsachliche und unprofessionelle Einstellung besonders der Militärs gegenüber dem Krieg gewesen. Da der Einfluss von Emotionen auf die Juli-Krise jedoch empirisch nicht messbar sei, müssten stattdessen die Mentalitäten der Zeitgenossen und ihr Weltbild als wichtige Faktoren berücksichtigt werden. Die sich hieraus ableitenden Fragen lauteten daher: Warum wurde der Krieg als unvermeidbar angesehen und warum wurde er teilweise geradezu herbeigesehnt?

Anschließend widersprach Prof. Dr. Georg Schild (Tübingen) in seinem Vortrag zum Thema "Kommunisten-Phobie. Angst und Hysterie im Kalten Krieg in den USA" der Einschätzung, die Einschätzung Stalins als Bedrohung der amerikanischen Demokratie in den fünfziger Jahren könne als rationaler Grund für die Kommunisten-Furcht gewertet werden, da ein Bedrohungsgefühl auch in Europa existiert habe, ohne die gleiche Reaktion hervorzurufen. Obwohl die ferne UdSSR den USA stets wirtschaftlich wie militärisch unterlegen gewesen sei, habe man sowjetische Parteienherrschaft, Planwirtschaft und Atheismus als Widerpart zu Amerika aufgefasst. Drei Eigenschaften der spezifisch amerikanischen Kommunistenhysterie fasste Schild zusammen: Die US-Regierung habe die Empfänglichkeit der Bürger für antiamerikanisches Gedankengut gefürchtet, es habe eine Tendenz zur Übertreibung bei politischen Vorgängen gegeben und schließlich habe man keinen Widerspruch gesehen zwischen der Bekämpfung des Kommunismus und der Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte.

Daraufhin rückte das untrennbare Gegensatzpaar von Liebe und Hass mit Ausführungen von Prof. Dr. Karen Hagemann (University of Glamorgan) zum Thema "Aus Liebe zum Vaterland. Liebe und Hass im frühen deutschen Nationalismus" in den Blickpunkt. Aufbauend auf unterschiedlichen Konzeptionen von Nation/Nationalismus von Jahn, Renan, Weber und Anderson arbeitete sie heraus, dass Gefühle im frühen deutschen Nationalismus bestimmend gewesen seien, weil die Niederlage gegen Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts auf fehlende Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft sowie fehlenden Nationalgeist zurückgeführt wurde. Hagemann verdeutlichte, dass eine Nationalerziehung über die Sprache der Zeichen, über Symbole und Rituale erfolgte. Der Vaterlandsliebe, als Kern männlicher Nationalidentität, sei der "Franzosenhass" als Abgrenzung nach außen gegenüber gestellt worden. Die starke Emotionalisierung erkläre auch die Entwicklung der folgenden Jahre, die zur Resignation und Radikalisierung verschiedener Gruppen in der politischen Kultur mit den bekannten Folgen geführt habe.

Anschließend sprach Dr. Heinrich Walle (Köln) über "Tradition in der Bundeswehr. Neue Wege zu alten Werten." In der Bundeswehr werde von einem Traditionsverständnis ausgegangen, welches Walle als "gefühlsmäßige Vermittlung und Verbindlichmachung von Werten aus der Vergangenheit" definierte. Dies geschähe in der Bundeswehr durch Symbole, Zeremonien und Vorbilder, bei denen Emotionen eine wichtige Rolle spielten. Es müsse dabei aber bedacht werden, dass es sich bei diesem Vorgang um eine Gratwanderung zwischen neuen Wegen und kritisch hinterfragten alten Werten handelte.

PD Dr. Claudia Schmölders (Berlin/Bielefeld), stellte im öffentlichen Abendvortrag in Vertretung von Prof. Dr. Ute Frevert ein Forschungsprojekt an der Universität Bielefeld zum Themenbereich Vertrauen vor. Man habe sich dort zum Ziel gesetzt, Vertrauen als historische Kategorie zu entwerfen, um Geschichte (im Sinne historischer Prozesse, Strukturen und gesellschaftlicher Beziehungsgefüge) unter diesem Aspekt zu analysieren. Vertrauen, so laute die Arbeitsthese des Projektes, sei grundsätzlich rational motiviert, es basiere auf Erfahrungen und Haltungen, die "konventionell übertragen, durch Sozialisationsprozesse und Institutionen vermittelt oder persönlich erlebt" würden. Vertrauen, als ein zentral verstandener Aspekt, stelle keine universale oder überzeitliche Konstante dar, sondern habe in unterschiedlichen Zeiten und Räumen jeweils unterschiedliche Bedeutungen, die es frei zu legen gelte. Bei einer Vielzahl von möglichen Bezugsgrößen einigte sich die Forschungsgruppe auf ein Instrumentarium analytischer Kategorien; z. B. politisches Vertrauen als "vertikales Vertrauen", dem das Vertrauen der Bürger untereinander als "horizontales Vertrauen" zur Seite stehe. Als weitere Differenzierungen gälten das Nahvertrauen, das Urvertrauen, der Risikobereich Vertrauen, das Vertrauen in Experten und das Selbstvertrauen.

Den ersten Teil der letzten Sektion, der dem Begriff "Ehre" gewidmet war, eröffnete Dr. Birgit Aschmann (Kiel) mit ihrem Vortrag "Das verletzte Gefühl als Grund für den Krieg. Der Kriegsausbruch von 1870". Ihr ging es um die Analyse der Eskalation von 1870 vor dem Hintergrund des von Bourdieu als Überbietungsritual definierten Verständnisses von Ehre. Aschmann stellte heraus, dass die stark ritualisierten Floskeln der französischen Kriegserklärung an eine Duell-Forderung erinnerten, bei der die "Ehre im Zentrum der Kriegslegitimation" gestanden habe. Nach traditionellem Verständnis gingen im Gefühl der Ehre Emotionalität und Rationalität eine Verbindung ein, wonach die Bewahrung der Ehre als Pflicht verstanden werde. Dabei sei die innere Ehre durch einen internalisierten Wertekanon geprägt, die äußere Ehre hingegen resultiere aus der Anerkennung von außen. Indem die Verletzung der nationalen Ehre heftige Emotionen in Frankreich wie in Deutschland ausgelöst habe, könne sie als Symbol für die Verbindung von innerer und äußerer Ehre und schließlich als Ursache des Krieges gelten.

Im Anschluss behandelte Prof. Dr. Michael Salewski (Kiel) das Thema "Von Ehre zu Schande und Schande zu Ehre. Zum historischen Selbstverständnis der Deutschen nach 1945". Er konstatierte, die Niederlage im Ersten Weltkrieg sei als Schande empfunden worden, weil der Verlust der nationalen Ehre für die Zeitgenossen einem Verlust der persönlichen Ehre gleichgekommen sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei keine Parallele vorhanden gewesen, weil die meisten Deutschen keine Pflicht zur Wiederherstellung ihrer Ehre verspürt hätten. In der "Wirtschaftswunderzeit" habe ein entsprechender moralischer Pragmatismus vorgeherrscht. Dennoch seien Ehre und Schande als Faktoren bundesdeutscher Befindlichkeit vorhanden und vereinzelte Symbole nationaler Ehre sichtbar gewesen: darunter der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954, Charles de Gaulles Jubel auslösende Worte von den Deutschen als "ein großes Volk" oder die Stabilität der D-Mark. Ob bei der überwiegend pragmatischen Haltung der Bundesdeutschen zu ihrer nationalen Ehre diese nicht dennoch zu einer Worthülse verkommen sei, ließ Salewski offen.

In der Sektion "Zuneigung" sprach Dr. Rafael Biermann (Bonn) zum Thema "Männerfreundschaft. Die Bedeutung freundschaftlicher Verbundenheit als Basis von Politik". Nachdem es zur Zeit des Kalten Krieges lange keine blockübergreifenden Freundschaften zwischen Politikern gegeben habe, sei es in den 1980er Jahren im Zuge der Aufweichung des Block-Antagonismus verstärkt zu Beziehungen zwischen Einzelpersonen gekommen. Biermann untersuchte exemplarisch die persönliche Beziehung zwischen Gorbatschow und Kohl, in der er verschiedene Phasen ausmachte: von der Eiszeit zur Freundschaft, die sich auch in der Krise bewährte bis hin zur Abkühlung. An diesem Fallbeispiel wurde herausgearbeitet, wie Freundschaften zwischen Politikern sich über die Profession, auf der persönlichen Ebene und als politische Inszenierung manifestierten. Gemeinsame persönliche Interessen und Erfahrungen würden dabei zum Katalysator.

Im Anschluss daran behandelte Prof. Dr. Jürgen Elvert (Köln) die "Bedeutung von Zuneigung im europäischen Einigungsprozess". Er erläuterte, dass im Zuge des europäischen Einigungsprozesses Institutionen und Einrichtungen entstanden seien, in denen Vertreter der beteiligten Staaten zusammenarbeiteten. Aus dem gemeinsamen alltäglichen Umgang habe sich ein Diskurs über das gemeinsame Gute im aristotelischen Sinn entwickelt, der zu sich intensivierenden Beziehungen führte. Neben diesem "europäischen Raum" existiere ein "nationaler Raum" weiter, in dem nicht das gemeinsame Gute, sondern nach wie vor die Durchsetzung nationaler Interessen im Vordergrund stehe. Erst aus einer Synthese beider könne ein dritter Raum erreicht werden, in dem es zu einem echten Einigungsprozess kommen könne, in dem sowohl das Arbeitsklima als auch die ökonomischen und politischen Ziele sich so ergänzten, dass die dort erzielten Ergebnisse in qualitativer wie quantitativer Hinsicht über die des ersten Raumes hinausgingen.

Abschließend bleibt festzustellen, dass Emotionen menschliches Handeln in vielfältiger Weise beeinflussen. Deshalb sind Gefühle als analytische Kategorie für die Geschichtswissenschaft bedeutsam. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass Gefühle als neues zu erforschendes Feld für Historiker eine große Herausforderung darstellen, weil noch wichtige grundlegende Arbeiten und methodische Ansätze fehlen. Die Geschichtswissenschaft steht geradezu in der Pflicht, neue Instrumente zur Erfassung der Bedeutung von Emotionen in der Vergangenheit zu entwickeln, wenn sie die Menschen als vollständige Wesen in den Blick nehmen möchte.