Profession und Markt - Akademische Karrieren in der freien Wirtschaft seit 1850

Profession und Markt - Akademische Karrieren in der freien Wirtschaft seit 1850

Organisatoren
DFG-Projekt: Akademische Karrieren 1850-1945 (AKKA)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.10.2003 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jürgen Schallmann, Göttingen

Am 31.10.2003 fand in Göttingen auf Einladung des DFG-Projektes "Akademische Karrieren 1850 - 1945 (AKKA)" eine Tagung zur Entwicklung akademischer Karrieren seit dem 19. Jahrhundert statt. Das Projekt erarbeitet die quantitative Entwicklung der Karrieren der Theologen, Gymnasiallehrer, Juristen, Mediziner, Chemiker und Ingenieure. In diesem Rahmen sollten erste Forschungsergebnisse des Projektes diskutiert werden, aber auch Vergleiche zum freien akademischen Arbeitsmarkt der neueren Zeit gezogen werden. Die Tagung war in vier verschiedene Bereiche aufgeteilt. In einer interdisziplinären Runde vornehmlich aus Erziehungswissenschaftlern, Historikern und Soziologen wurden zunächst die bisher kaum beachteten Karrieren der Chemiker und die der Ingenieure vorgestellt. Im dritten Teil sollten dann die neueren und neuesten Entwicklungen der Akademisierung und des Arbeitsmarktes dargestellt werden. Im vierten Teil wurden die Karrieren anhand der Geschlechtsverteilung und den daraus resultierenden Urteilen und Vorurteilen sowie anhand der Entwicklung der Promotionen verglichen.

Volker Müller-Benedict (Göttingen/ Leipzig) stellte in seinem Einführungsvortrag anhand der von staatlicher Seite reglementierten Karrieren der Theologen und Gymnasiallehrer ein Interpretationsgerüst für die Akademisierung vor. Akademisierung definierte er dafür in zweierlei Ausrichtung: in einer vertikalen, einer Ausweitung des Prüfungswesens, und in einer horizontalen, die aus einer Ausweitung der Fachgebiete und der Arbeitsgebiete bestand. Die beiden staatsnahen Karrieren der Theologen und Gymnasiallehrer bildeten zusammen mit der Karriere der Juristen die Vorbilder für die in ihrem Ausbildungsgang zunächst "ungeregelten" Laufbahnen, wie z. B. die der Chemiker oder der Ingenieure. Der - von Müller-Benedict nicht weiter definierte - Staat hatte ein Interesse an einer (nicht nur fachlichen) Kontrolle der Absolventen, die durch eine Akademisierung erreicht werden konnte. Die sich herauskristallisierenden Berufsverbände der einzelnen Professionen hingegen versuchten durch Akademisierung den gesellschaftlichen Status ihrer Mitglieder nach oben hin anzupassen und sich gleichzeitig nach unten hin abzuschotten. Des Weiteren versuchten sie, z. B. über Verbandsprüfungen, den Nachwuchsstrom zu regulieren. Die Folge der Akademisierung der "ungeregelten" Laufbahnen war so eine Ausweitung des Berechtigungswesens und der Zugänge zu einer Profession. Es etablierten sich in Folge allgemeine Nachfragezyklen, Überfüllungs- und Mangelkrisen. Diese Zyklen konnten bei der staatlich geregelten Karriere der evangelischen Theologen nachgewiesen werden.

Jörg Janssen (Göttingen) eröffnete den zweiten Teil der Tagung. Er stellte die Entwicklung der akademischen Ausbildung der Chemiker dar. Leider konnten auf dem aktuellen Stand seiner Untersuchungen nur Ausschnitte aus den Karrieren gezeigt werden und aufgrund der unsicheren Quellenbasis, es wurden bisher nur Verbandszeitungen genutzt, lediglich Tendenzen sichtbar gemacht werden. Organe von Berufsverbänden würden, darauf wies Harald Schomburg hin, oft eine Politik verbreiten, die mit der realen Situation auf dem Arbeitsmarkt nichts zu tun hätte. Janssen wies trotzdem ein starkes personales Anwachsen dieser Karriere nach. Eine Angleichung von Technischen Hochschulen und Universitäten war erst in den 1920er und 1930er Jahren erfolgt. Bis dahin profitierten die Universitäten von dem höheren Prestige ihrer Abschlüsse. Die Industrie verlangte nach einer einheitlichen Ausbildung. Am Beispiel der Nahrungsmittelchemiker versuchte der Referent seine allgemeinen Überlegungen zu konkretisieren. Nahrungsmittelchemiker studierten in der Mehrzahl an den Universitäten und schlugen anschließend zumeist eine Beamtenlaufbahn ein. Es erwies sich, dass Chemiker ohne akademischen Abschluss in den 1920er Jahren auf dem Arbeitsmarkt keine Chance hatten. Als Angestellte hatten sie meistens keinen hohen Verdienst. Trotzdem erfolgte in diesen Jahren keine Akademisierung der Chemikerlaufbahn. Bisher ist aber auch keine Eigendynamik der Akademisierung der chemischen Laufbahn sichtbar geworden.

Die ersten Ergebnisse Janssens ergänzte Heinrich Kahlert (Furtwangen) an Hand einiger ausgewählter Biografien aus dem IG-Farbenvorstand. Durch eine Rekonstruktion des Studienverlaufs dieser Spitzenmanager konnte nachgewiesen werden, dass sich die Studienzeit verlängerte und Diplom-Chemiker meistens promovierten. Kahlert zeigte, dass der Chemiestudent, der noch um 1870 weitestgehend als "Sonderling" gegolten hatte, sich seit der Weimarer Republik erfolgreich durchsetzte hatte und es bis zu Vorstandsposten der IG-Farben bringen konnte. Dazu wurden die Biografien u. a. von Carl Bosch, Fritz Haber oder Carl Krauch untersucht. Es blieb bei dieser Vorgehensweise aber offen, inwieweit dieses Ergebnis auf die gesamte chemische Industrie übertragen werden könne oder ob es "nur" Schlüsse auf das untersuchte Unternehmen und seine Führungsebene zulasse.

Wolfgang König (Berlin) zeichnete die Entwicklung der Ingenieure im 19. Jahrhundert nach. Eine quantitative Darstellung erschien dem Referenten wegen der dafür ungenügenden Quellenlage als nicht sinnvoll. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigte sich das Berufsbild des Ingenieurs. Die Ausbildung lässt sich in drei verschiedenen Phasen teilen: Zu Anfang dominierte die Rolle der Militäringenieure. Ihre Ausbildung fand an Militärschulen und in der Praxis statt. In der zweiten Phase lässt sich neben der militärischen Ausbildung eine weitere Ausbildung durch Gewerbeschulen und Polytechnische Schulen feststellen, die die Ausbildung schließlich in der dritten Phase beinahe komplett übernommen hatten. Diese Entwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Industrialisierung zunächst unabhängig von schulisch ausgebildeten Ingenieuren abgelaufen ist. Erst in der Spätindustrialisierung gewann die schulische Ausbildung an Bedeutung und der 1899 eingeführte Abschluss des "Diplom-Ingenieurs" wurde schnell der Standardabschluss. Um 1900 waren nur noch ca. die Hälfte der Ingenieure verbeamtet oder befanden sich im Militärdienst.

Tobias Sander (Göttingen) schloss mit seinen Ausführungen an den vorgehenden Referenten an. Er zeigte die Entwicklung der Ingenieurskarriere zwischen 1900 und dem Ende der Weimarer Republik auf. Als Datengrundlage dienten hier die Bestandszahlen einzelner Berufsverbände und Daten aus den Universitäten. Aus diesen Quellen können allerdings wieder höchstens Trends bestimmt werden. Während des gesamten Betrachtungszeitraumes war dieser Karrierezweig von einer anhaltenden Überfüllung betroffen. Gründe dafür könnten darin gesehen werden, dass dieser Zweig von "klassischen" Karrieren als Ausweichmöglichkeit genutzt wurde, oder dass der Ingenieursabschluss nach dem Weltkrieg wegen des möglichen hohen Einkommens und des technisch-fortschrittlichen Profils als attraktiv gegolten habe.

Insgesamt stellte sich gerade hier die Frage, inwieweit bei freieren Wirtschaftsstudiengängen eine Abfolge von Überfüllungs- und Mangelkrisen nachweisbar sei. Im Gegensatz zu den genau definierten Berufsbildern staatsnaher Karrieren war hier immer noch ein Ausweichen auf andere unterqualifizierte Berufe möglich. Durch das genaue, enge Berufsbild blieb z. B. den Theologen ein Ausweichen in andere Berufstätigkeiten versagt.

Mit den aktuellsten Formen der Akademisierung und des akademischen Arbeitsmarktes befasste sich Harald Schomburg (Kassel). Dabei ging er zeitlich von dem Umbruch an den Universitäten in den 1960er Jahren, dem massiven Anstieg der Studierendenzahlen und dem damit verbundenen Fortschrittsoptimismus aus. In Folge von Wirtschaftskrisen wandelte sich dieser Optimismus später zu einer Angst vor einer "overeducation" und einem "Akademischen Proletariat". Schomburg zeichnete anhand der "CHEERS-Studie" den aktuellen akademischen Arbeitsmarkt international nach. Insgesamt ist heute eine große Differenzierung nach Fächern zu beobachten, ebenso wie gravierende internationale Unterschiede. Gemeinsam war allen Befunden jedoch, dass (beinahe) alle Akademiker vier Jahre nach dem Abschluss einen Job gefunden hatten, mit dem sie meist auch zufrieden waren. Unbeantwortet blieb dabei jedoch die Frage, inwieweit diese Akademiker einen ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz erlangen konnten. Weder in dem Vortrag noch in der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach möglicherweise notwendigen berufsqualifizierenden Umschulungen im Anschluss an ein Studium gestellt.

Die Entwicklung der geschlechtlichen Zuschreibung von Studienfächern in den letzten Jahren des Kaiserreiches und während der Weimarer Republik untersuchte Ilse Costas (Göttingen). Diese Zuschreibungen, ob eine Ausbildung eher für Männer oder für Frauen normal sei, wurden nicht nur in den von Männern erstellten Berufsberatungsbroschüren verbreitet; auch durch in Organisationen der bürgerlichen Frauenbewegung wurden entsprechende Vorstellungen reproduziert. Während der Weltwirtschaftskrise wurden diese Fächerempfehlungen weiter eingeengt. Zudem wurde der Arbeitsmarkt für Frauen in dieser Krise stark eingeschränkt und während des Nationalsozialismus beinahe komplett beseitigt. Die damals etablierten Zuschreibungen sind, wie die Wahl der Studienfächer heute zeigt, noch immer gültig. Frauen bevorzugen noch immer Fächer wie z. B. Germanistik, während technische Studiengänge von Männern dominiert sind. Die Frage, die sich an diesen Vortrag anschloss, aus welchen Gründen Männer möglicherweise ein "Frauenstudium" wählten und entsprechende Berufe ergriffen, musste unbeantwortet bleiben.

Mit einem Bericht über die Wirtschaftseliten der DDR zeichnete Axel Salheiser (Jena) ein scharfes Gegenbild zu den bisherigen Vorträgen. In der DDR hatte es keine freie Wirtschaft gegeben. So ließen die politischen Verhältnisse und die Auswirkungen der Planwirtschaft Kontraste zu den vorherigen Ergebnissen erwarten. Seine Daten bezog Salheiser aus dem "Zentralen Kaderdatenspeicher (ZKDS) des Ministerrats der DDR". Die Untersuchungen zeigten, dass nur in einem gewissen Maße Fachkompetenz vor Regimetreue ging. Je höher die Stellung im Betrieb, um so mehr musste die politische Loyalität gesichert gewesen sein. Für höchste Spitzenpositionen war ein Studium des Marxismus-Leninismus beinahe unabdingbar. Dabei ist aber immer zu Bedenken, dass ohne eine "gewisse" Regimetreue schon die Möglichkeit auf ein Studium verwehrt blieb. Diese Restriktion wurde während der vierzig Jahre DDR immer weiter verschärft. Eine Mobilität zwischen einzelnen Betrieben gab es kaum. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes fand überwiegend nur innerhalb der Betriebe statt. Wenig Personal wechselte aus der Wissenschaft, noch weniger aus einem Parteiamt in die Wirtschaft. Insgesamt kann festgestellt werden, dass eine Professionalisierung im Sinne von Abkoppelung von Fachkompetenz innerhalb der DDR möglich war, insbesondere in der Computerindustrie. Je höher die Laufbahnstufen in der betrieblichen Hierarchie waren, um so wichtiger wurde wieder die Regimetreue.

Peter Lundgreen (Bielefeld/ Göttingen) verglich in seinem Vortrag die Entwicklung der Abschlüsse, besonders der Promotion, fächerübergreifend bis in die heutige Zeit. Anhand der zunehmenden Entwicklung von akademischen Abschlüssen (1899 Diplom und 1960 Magister) zeigte Lundgreen den wachsenden staatlichen Reglementierungswillen an den Universitäten auf. Für den "Staatsdienst" war ein "Staatsexamen" der Regelabschluss, die Erlangung einer Doktorwürde war nur an der Universität zur Erlangung eines Professorentitels von Belang. In den nicht staatlich reglementierten Professionen etablierte sich die Promotion als Regelabschluss. Lundgreen zeigte dabei, dass die Absolventen der im 19. Jahrhundert "ungeregelten" Fächer heute zum größten Teil noch immer promovieren. Es muss bei einem derartigen Vergleich sehr stark auf den erwarteten Nutzen dieser Bildungsinvestition geachtet werden, der je nach Profession sehr stark schwanken konnte. So hatten Gymnasiallehrer bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts häufig promoviert, da sie von ihrem Lehrerberuf oftmals an die Universitäten als Professoren wechselten. Auch zeitlich konnten Änderungen der Präferenzen bei Studienabschlüssen schnell eintreten. Mit der Einführung eines Magisterabschlusses wurde in den 1960er Jahren in geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen die Promotion als Regelabschluss weitestgehend abgelöst. Mittlerweile promovieren die meisten Absolventen mit einem solchen Abschluss auch nicht mehr.

Die Tagung wollte den Akademisierungsprozess der freien Karrieren, insbesondere der Ingenieure und Chemiker, vor dem Hintergrund der beamteten Karrieren untersuchen. Eine fortwährende Akademisierung und Professionalisierung der staatsnahen Berufe lässt sich klar aufzeigen. Quellen zu den beamteten Karrieren sind vorhanden und in ihrer Aussage eindeutig. Für die freieren Berufsfelder sieht dies aber viel schlechter aus. Eine einheitlich geregelte Studienabschlusspraxis musste sich im 19. Jahrhundert ebenso wie ein einheitliches Berufsbild erst noch etablieren. In der freien Wirtschaft wurde oftmals gar kein besonderer Wert auf die Abschlüsse gelegt, sondern im wesentlichen auf die Fertigkeiten des Bewerbers geachtet. Dadurch gibt es kaum sichere Abschlusszahlen und Berufsbestandsdaten. Es konnten immer wieder nur Entwicklungstrends beschrieben werden. Ein Aufzeigen von Überfüllungs- und Mangelkrisen, die bei den beamteten Karrieren die Professionalisierung vorangetrieben haben, fällt hier viel schwerer, wie in den Referaten demonstriert wurde. Die in den Beiträgen vorgestellten unternehmenshistorischen und verbandspolitischen Zugänge haben ihre (diskutierten) Schwächen, so dass eine abschließende Wertung der Unterschiede im Akademisierungsprozess zwischen den Karrieretypen nicht erfolgen kann. Es bleibt abzuwarten, wie die Veranstalter mit diesen Einwänden umgehen werden.


Redaktion
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