Gegenstand der vom Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte des ländlichen Raumes und des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde vom 5. bis zum 8. Mai 2004 in St. Pölten organisierten Tagung war die Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1930 bis 1960. Je acht der insgesamt achtzehn Referate thematisierten österreichische und deutsche Aspekte; auf die schweizerischen Verhältnisse gingen zwei Beiträge ein.
Beschäftigten sich die österreichischen TeilnehmerInnen vor allem mit den Verhältnissen in der Vorkriegs- und Kriegszeit und die deutschen mit der Entwicklung in der Kriegs- und Nachkriegszeit, so legten die beiden Schweizer das Schwergewicht auf die Analyse der Auswirkungen, die der Erste Weltkrieg auf die Agrarpolitik im kurzen 20. Jahrhundert hatte.
Da die meisten Beiträge in erster Linie über bisher von der Geschichtswissenschaft nur wenig oder kaum beachtete Phänomene berichteten, zeichnete sich zunächst einmal ein facettenreiches Bild der deutsch-österreichischen Entwicklung im Agrarbereich in den 1930/40er Jahren heraus. Aus den Beiträgen von Ernst Hanisch (Salzburg), Gerhard Senft (Wien), Horst Gies und Uwe Mai (beide Berlin) wurde unter anderem deutlich, wie unterschiedlich - trotz aller bekannten Affinitäten - die Agrarpolitik der beiden Staaten bis 1938 noch war. So waren nicht nur die agrarpolitischen Zielsetzungen, sondern auch die Mittel, die den Akteuren zur Verfügung standen, verschieden. Dementsprechend vielfältige "Geschichten" aus dem ländlichen Raum wurden in St. Pölten vorgestellt.
In Österreich waren es in den frühen 1930er Jahren offenbar nicht zuletzt bäuerliche Verhaltensweisen, die Engelbert Dollfuss' vielfältigen agrarpolitischen Aktivitäten Grenzen setzten. Und ab 1934 verhinderte dann die fehlende industrielle Basis, dass die Regierung eine den bäuerlichen Anliegen umfassend nachkommende staatliche Produktions- und Preisgestaltung umsetzen konnte. In Deutschland hingegen war es die ab 1936 der kriegerischen Expansionspolitik untergeordnete Stellung der Landwirtschaft, die dazu führte, dass nun (auch) die Bauern ganz in den Dienst der NS-Expansionspolitik gestellt wurden. Wie weit das konkret gehen konnte, zeigte der Beitrag von Uwe Mai über die nationalsozialistischen Bestrebungen zur Neuordnung des ländlichen Raumes in Deutschland.
Daniela Münkel (Hannover), Stefan Eminger und Ernst Langthaler (beide St. Pölten) sowie Norbert Weigl (Linz) und Gerhard Siegl (Innsbruck) thematisierten agrar- und forstpolitische Aspekte sowie Verhaltensweisen der bäuerlichen Bevölkerung während des Krieges im Alt- und Neureich. In Österreich erfolgte die "Arisierung" gleichsam im Zeitraffer, konnte aber nicht flächendeckend durchgeführt werden - in Niederdonau bspw. wurden weniger als zwei Drittel des landwirtschaftlichen Eigentums von Juden in "arisches" Eigentum übergeführt. Und der Krieg schwächte mit dem Einsatz einer grossen Zahl von Zwangsarbeitern auch hier sowohl die traditionelle Patron-Klient als auch die Unternehmer-Lohnarbeiter Beziehung zugunsten einer schrankenlosen Willkür, die von den AkteurInnen erwartungsgemäss ganz unterschiedlich gehandhabt wurde.
Wurde schon bei diesen Themen gelegentlich auf Kontinuitäten in der Entwicklung hingewiesen, so wurde spätestens mit den Referaten von Ulrich Kluge (Buchenbach-Wagensteig), Andreas Eichmüller (München), Andreas Dix (Bonn), Arnd Bauerkämper (Berlin) und Roman Sandgruber (Linz) über die Agrar- und Bodenpolitik in Österreich und West- und Ostdeutschland nach 1945 klar, wie strukturbildend im Landwirtschaftsbereich nicht nur die relativ leicht wahrzunehmenden grossen Veränderungen sind, sondern auch die oft versteckten Kontinuitäten. Die Phase des Wiederaufbaus zerstörter Grundstrukturen im Agrarsektor bspw. ging in allen drei Gesellschaften fast nahtlos über in die Zeit der vertikalen Integration durch die Verflechtung des Produktionsbereichs mit den Zulieferindustrien technisch-chemisch-biologischer Produktionsmittel und der verarbeitenden Lebensmittelindustrie. Die je spezifischen Marktordnungen verzahnten Produktion, Verteilung und Konsum zwar unterschiedlich eng miteinander, aber sie führten allenthalben zu einem störanfälligen "Interessenkartell", das unter staatlicher Regie stand und dessen "Opfer" in erster Linie die Dienstboten, die mitarbeitenden Familienmitglieder sowie die kleinen und mittleren Produzenten waren, die überall - wenn auch auf unterschiedliche Weise und mit gegenteiliger Begründung - ihre bäuerliche Existenz verloren.
Parallel zur Entstehung eines "neuen" Bildes über die agrarische Entwicklung in Deutschland und Österreich zwischen 1930 und 1960 rückte im Verlauf der Tagung immer mehr die Frage in den Vordergrund, anhand welcher analytischer Kategorien die beschriebenen Prozesse systematischer analysiert werden könnten. Gerade weil die Frage nach dem Handlungsspielraum der Akteure in den meisten Referaten nur implizit gestellt worden war, zeigte sich immer mehr, dass dies auch und gerade für die Analyse der Agrarpolitik eine durchaus sinnvolle Kategorie zur präziseren Charakterisierung des Verhaltens der Akteure auf den unterschiedlichsten Ebenen wäre. Das Gleiche gilt für die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen, die Arnd Bauerkämper ins Zentrum seiner Ausführungen rückte.
Unbeantwortet blieb die von Horst Gies in der Diskussion explizit gestellte Frage, weshalb sich die SBZ/DDR-Behörden bei der Bodenreform so verhielten, wie sie es taten. Mit der Frage nach dem "warum" resp. "weshalb" setzt sich die Agrargeschichte auch heute interessanterweise noch kaum wirklich auseinander. Die Ausführungen von Beat Brodbeck und Peter Moser (beide Bern) zielten zwar in diese Richtung - allerdings am Beispiel der schweizerischen Entwicklung, die schon von der quantitativen Seite her etwas am Rand der Tagung stand. Sie gingen von der Frage aus, weshalb die Bauern als Gruppe in der Schweiz in der Zwischenkriegszeit - anders als in Deutschland und Österreich - politisch nicht nach rechts kippten, sondern ähnlich wie in Schweden einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung demokratischer Zustände leisteten. Als mögliche Erklärung wiesen sie auf die Rolle der sich im Ersten Weltkrieg herausbildenden Marktordnung im Milch- und Käsebereich hin, die von einer jungen Agronomengeneration im Bündnis mit Industriellen und der organisierten Konsumentenschaft in der Folge ausgebaut und auch auf praktisch alle anderen Produktionsbereiche ausgedehnt wurde. Das führte in der Schweiz dazu, dass die Landwirtschaft in der Zwischenkriegszeit nicht auf ihre Funktion als Nahrungsmittelproduzentin reduziert wurde und die Bauern - diesbezüglich ganz in der republikanischen Tradition verhaftend - potentielle und reale Bündnispartner sowohl für die politische Linke als auch die demokratischen Kräfte auf der bürgerlichen Seite blieben oder neu wurden.
Allerdings gelang es auf der Tagung kaum, diesen Befund in einen systematischen Vergleich zu stellen und dadurch die bspw. von Gerhard Senft für Österreich in der Zwischenkriegszeit postulierte Alternative einer Politik der Konsumsteigerung anstelle der effektiv durchgeführten Produktionseinschränkungen auf ihre historische Relevanz hin zu überprüfen. Oder das politische Verhalten der Bauern in Österreich und Deutschland auch noch mit einer anderen Fragestellung als der bekannten nach dem Grad der Anpassung an den Nationalsozialismus zu thematisieren (was logischerweise dazu führt, menschliches Verhalten auf ein tendenziell mechanisches Reaktionsmuster zu reduzieren).
Angesichts der bekannten materiellen Armut grosser Teile der bäuerlichen Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit in allen drei Ländern war es doch erstaunlich, dass dieser Aspekt und seine Auswirkungen überhaupt nicht zur Sprache kamen. Das gleiche gilt ein Stück weit auch für die Geschlechterfrage und die Beziehungen innerhalb der erweiterten Bauernfamilie, die für einen grossen Teil sowohl des thematisierten Raumes als auch des Zeitraumes die wichtigste organisatorische Einheit innerhalb des Agrarsektors war. Ganz ausgeblendet in der Diskussion blieben die dysfunktionalen Beziehungen auf den Agrarmärkten, wo sich die Bauern beim Absatz ihrer Produkte bekanntlich in einer oligopsonistischen und beim Kauf von Hilfsstoffen in einer oligopolistischen Situation befanden - und zwar sowohl in der Zwischenkriegs- wie auch in der Nachkriegszeit, wie die von Horst Gies und Roman Sandgruber erwähnten Öffnungen der Preisschere zuungunsten des Agrarsektors deutlich illustrierten. Diese Themenbereiche sind für ein besseres Verständnis sowohl der staatlichen als auch der privaten Akteure im Agrarbereich jedoch zentral. Ebenso wichtig scheint mir das Überdenken der in der Regel kritiklosen Übertragung von analytischen Kategorien und Begriffen auf den Agrarsektor, die an einer industriellen Welt modelliert worden sind. Das wird besonders für die Analyse der Landwirtschaft in der Nachkriegszeit von grosser Bedeutung sein, da die agrarische Produktion jetzt zwar immer mehr auch durch Phänomene charakterisiert wird, die sich aus dem Verbrauch mineralischer Vorräte ergeben, jedoch grundsätzlicher nach wie vor mit Hilfe der Sonne auf der Nutzung lebender Ressourcen beruht. Das Nebeneinander von Nutzung und Verbrauch dieser über je ganz unterschiedliche Potentiale und Grenzen verfügenden Ressourcen macht eine klare Begrifflichkeit zur Voraussetzung zum Verständnis neuer Phänomene. Die zunehmend arbeitsextensive Agrarproduktion der Nachkriegszeit wegen dem sprunghaft steigenden Einsatz fossiler Energieträger als Intensivlandwirtschaft zu bezeichnen, würde jedenfalls mindestens so viel über die realen Ursachen dieses Prozesses verdecken wie erhellen. Nur mit einer präzisen, am eigentlichen Untersuchungsgegenstand modellierten Begrifflichkeit, kann die Geschichtsschreibung Licht ins Dunkel und Klarheit in die zuweilen konfus geführten agrarpolitischen Debatten bringen. Ein Feld, auf dem eine solche Klärung besonders nötig sein wird, ist das der Frage, wer welchen Einfluss auf die nationalstaatliche resp. europäische Agrarpolitik hatte. Die auch in Historikerkreisen immer noch populäre, anfänglich von den agrarischen Interessenvertretern zur Legitimation ihrer Existenz formulierte Auffassung, wonach die Bauern einen bestimmenden Einfluss auf die staatliche Agrarpolitik der westlichen Gesellschaften hatten, wird einer differenzierten Betrachtung weichen, wenn endlich die Auswirkungen statt wie bisher die Absichtserklärungen ins Zentrum einer mit einer adäquaten Begrifflichkeit operierenden Geschichtswissenschaft gerückt werden.
So gesehen war die hervorragend organisierte Tagung in St. Pölten auch inhaltlich ein dreifacher Erfolg: sie fasste einen wesentlichen Teil des Forschungsstandes zusammen, machte Lücken deutlich sichtbar und regte zum Weiterdenken an. Damit war sie zugleich auch ein weiterer konkreter Schritt auf dem Pfad, den der von Ernst Bruckmüller, Ernst Langthaler und Josef Redel zeitgleich herausgegebene erste Band des Jahrbuchs für Geschichte des ländlichen Raumes freilegte. Denn um das dort von 10 AutorInnen behandelte Thema "Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich", ging es auch in St. Pölten.