HT 2004: Die islamische Welt als translokaler Handlungs- und Kommunikationsraum in der Neuzeit

HT 2004: Die islamische Welt als translokaler Handlungs- und Kommunikationsraum in der Neuzeit

Organisatoren
Ulrike Freitag
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2004 -
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Von
Christiane Reichart-Burikukiye, Justus-Liebig-Universität Gießen

Gibt es eine, gibt es überhaupt "die islamische Welt"? Mit dieser keinesfalls rhetorischen Frage eröffnete Prof. Dr. Ulrike Freitag aus Berlin die Sektion. Die Anspielung galt nicht allein dem Titel der Sektion, sie galt auch den zahlreichen, sich immer neu generierenden und von Stereotypen geprägten Imaginationen des Orients. Der Literaturwissenschaftler Edward Said hat in seinem Buch "Orientalismus" (1981) beschrieben, wie diese das Bild des Islam und des islamischen Weltsystems in der westlichen Welt formten und der Wahrnehmung seiner komplexen und differenzierten Wirklichkeit im Weg stehen. Dass dies trotz linguistischer, literarischer und kultureller Wenden in den Geisteswissenschaften - zu denen auch Saids Studie einen Anstoß gab - bis in die Gegenwart hinein gilt, belegen die in heutiger Zeit in vielen Bereichen der westlichen Gesellschaften intensiv geführten Diskussionen um die Beziehung zwischen dem Islam einerseits und Terrorismus und Gewalt andererseits.

So ist den Initiatoren dieser Sektion vom Berliner Zentrum Moderner Orient in zweierlei Hinsicht besonders zu danken. Zum einen kommt ihnen das Verdienst zu, den weitgehend durch europäische Regionen dominierten Deutschen Historikertag durch die Thematisierung einer außereuropäischen Region zu bereichern, die an den Universitäten als Forschungs- wie als Unterrichtsgegenstand in der Regel vernachlässigt wird. Zugleich wurde mit dieser Sektion auch einem Weltteil geschichtliche Tiefe verliehen, über den in der westlichen Welt so viel wie über keinen anderen nicht-europäischen debattiert, der dabei aber meist mit Stereotypen überfrachtet und als kulturell oder religiös zu einheitlich verstanden wird.

Von dieser Art der Debatte weit entfernt beabsichtigten die Beiträge der Sektion, die heute so viel diskutierte islamische Welt als einen historischen Raum vorzustellen. Dieser, so betonte Ulrike Freitag nachdrücklich, sei keine homogene, statische Einheit. Er sei als Netzwerk durch translokale Verknüpfungen geschaffen worden, durch die vielschichtige und kontinuierliche Zirkulation von Waren, Ideen und Menschen und damit in einem sich stetig wandelndem Prozess.

Das Geflecht von Verbindungen, Gemeinschaften und Organisationen sowie wirtschaftlichen, religiösen und politischen Beziehungen innerhalb der islamischen Welt aus dem Blickwinkel der Translokalität zu sehen, erwies sich dabei als äußerst sinnvoll. Translokalität ist einer der Begriffe, die das in den letzten Jahren deutlich gewachsene Interesse nicht nur historischen Forschens an grenzüberschreitenden Perspektiven wiederspiegelt. Die Grenzüberschreitungen sind keineswegs nur im geographischen Sinne als räumlich zu verstehen. Es handelt sich auch um diskursiv gezogene Grenzlinien, um Begriffe wie Nation, Kultur oder Region, die überschritten, verschoben, durchlässig gemacht oder völlig aufgelöst werden. Die Trans-Konzepte, Translokalität ebenso wie Transnationalität oder Transkulturalität, stehen im Grunde für das Hinterfragen lange dominierender, zum Teil bis heute unkritisch genutzter Konstrukte von Nation, Kultur oder Lokalität und der damit verbundenen statischen Identitätsentwürfe des Eigenen und des Fremden. Sie lösen deren essentialistischen Sinn auf, indem sie sie in neue Kontexte und Perspektiven setzen, dern deren Bedeutungsgehalt vervielfältigen und damit deren Charakter als von Zeit, Ort und Akteuren abhängige Prozesse aufzeigen.

Alle Beiträge stammten von jungen Wissenschaftlern, ausnahmslos Mitarbeiter des Zentrums Moderner Orient in Berlin, an dem der islamische Raum interdisziplinärer Forschungsgegenstand ist und das von Ulrike Freitag geleitet wird. Die Beiträge illustrierten, wie weit der islamische Raum geographisch gefasst werden kann. So wurden historische Fallstudien translokaler Praxis voregestellt, die sich in West- und Nordafrika, im Nahen Osten, an der ostafrikanische Küste, im Indischen Ozean und in der Diaspora vollzog. Die diskutierten Beispiele von Translokalität berührten ebenfalls ein weites Themenspektrum. So reichte es von Handel und informeller Wirtschaft über religiöse Einzelorganisationen wie sufi-Bruderschaften, politische und religiöse Diskurse und Verknüpfungen bis hin zu medialen Netzwerken.

Im ersten Beitrag stellte Dr. Bettina Dennerlein den Nahen Osten des 19. Jahrhunderts als einen Raum translokaler diskursiver Verknüpfungen vor. Am Beispiel von Debatten um Armeereformen in Marokko zeigte sie, welche wichtige Rolle innermuslimische Kontakte zwischen den islamischen Ländern des Mittelmeeres für Anregung und Fortgang von Reformen sowie für die Aneignung aus Europa stammender Techniken und Ordnungsmuster in einem nicht-religiösen Kontext spielten. Die gemeinsame Religion - trotz unterschiedlicher Orientierungen - schuf als Bindeglied zwischen Algerien, Ägypten, Tunesien, anderen Teilen des Osmanischen Reiches und Marokko einen translokalen Erfahrungs- und Diskursraum, die Wahrnehmung und Umsetzung der gemeinsamen Erfahrungen war jedoch auch abhängig von der jeweiligen sozialen und politischen Perspektive, z.B. von Befürwortern und Gegnern der militärischen Reorganisationen in Marokko.

Wie durch Handelsbeziehungen translokale soziale Netzwerke und Identitäten geschaffen werden können, zeigte Laurence Marfaing im nachfolgenden Beitrag am Beispiel senegalesischer Händlerinnen. Marfaing zeichnete nach, wie sich innerhalb von zwei Jahrhunderten die Pilgerfahrten von Angehörigen der sufi-Bruderschaft Tijaniyya aus dem Senegal nach Fès und später Casablanca in Marokko zu Handelsreisen wandelten. Die Akteure dieser Pilger- und Handelsreisen schufen translokale soziale Räume, in denen sie eine "abwesende Anwesenheit" herstellten. Für die senegalesischen Frauen, die heute zum größten Teil Akteure dieser bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts von Männern dominierten Handelsverbindungen sind, trägt das Reisen zu Handelszwecken zur ökonomischen Selbstständigkeit ebenso wie zu sozialem Prestige und zur persönlichen Unabhängigkeit bei. Die gemeinsame Religion sowie die lange Kontinuität in den Beziehungen zwischen beiden Orten erlaubt es ihnen, sich relativ frei in beiden Ländern zu bewegen. In Marokko bewegen sich die Frauen in einem sozialen Netzwerk, das durch den informellen translokalen Handelsverkehr geschaffen und gelebt wird, in dem Freunde zu Handelspartnern und Handelspartner zu Familienmitgliedern werden. Die Händler und Händlerinnen sind so nicht in der Fremde, sondern in einer "zweiten Heimat" unterwegs.

Um das translokale Potential einer sufi-Bruderschaft ging es auch im Vortrag von Ahmed Chanfi. Er analysierte die Bruderschaft der Shâdhiliyya-Yashrutiyya in Ostafrika, deren Mitglieder nicht nur rege Kontakte vor und nach der Kolonialzeit zwischen den Inseln des westlichen Indischen Ozeans unterhielten, sondern auch zwischen den regionalen und lokalen Zweigen in Ostafrika und dem spirituellen Zentrum der Bruderschaft im Nahen Osten. Zudem unterhielt die Bruderschaft translokale Kontakte auch zu anderen sufi-Bruderschaften. Die politische Dimension, die diese weitverzweigten Verbindungen erhielten, zeigte Chanfi für die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sowohl auf den Komoren als auch in Deutsch-Ostafrika verdächtigte die Kolonialregierung sufi-Bruderschaften als Hort politischer Unruhestifter und vermutete hinter ihnen translokale und daher geographisch und sozial weitverzweigte Verschwörungen.

Lutz Rogler präsentierte in seinem Vortrag den translokalen und transnationalen Charakter von akademischen Zeitschriften in arabischer Sprache, die seit Beginn der siebziger Jahre im Umfeld der "islamischen Strömung" in verschiedenen arabischen Ländern sowie in der arabischen Diaspora in Europa und den USA erschienen. Die Zeitschriften vernetzen die islamische Bewegung und formten sie über nationale und regionale Grenzen hinweg mit. Sie hielten sowohl über die Rezipienten als auch über die Autoren den Kontakt zwischen den verschiedenen intellektuellen Milieus. So wurden sie zu Foren eines translokalen "islamischen Denkens" und trugen zur Intellektualisierung des islamistischen Diskurses einerseits und zur Islamisierung das Wissens andererseits bei. Zugleich fragmentieren sie die Öffentlichkeit in unterschiedliche Diskurse und unterstützen eine Zivilkultur. Dabei haben die Zeitschriften auch eine identifikatorische Funktion, indem sie sich vom Westen abgrenzen.

Und schließlich verwies Ulrike Freitag auf den Indischen Ozean als Raum intensiver translokaler Kontakte, innerhalb derer arabische Händler eine wichtige Rolle spielten und seit der Entstehung des Islam zu Botschaftern ihrer Religion wurden. Auch hier griff die Zirkulation von Waren und Ideen ineinander. So breitete sich der Islam in Südostasien und Ostafrika durch ansässige muslimische Händler aus, die ihrerseits weiterhin mit ihren Herkunftsorten enge Verbindungen unterhielten. Effektivere Kommunikations- und Transportmittel intensivierten die muslimischen Kontakte besonders im 19. Jahrhundert und begünstigten die Festigung von Netzwerken auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene. Auch nachdem der Indische Ozean durch den zunehmenden Einfluss und die Konkurrenz europäischer Mächte in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht für muslimische Händler an Bedeutung verlor und die Entstehung von Nationalstaaten viele translokale Verbindungen unterbrach, bestehen bis heute weiterhin islamische Netzwerke innerhalb des Indischen Ozeans.

Leider erschöpfte sich die Diskussion in der lebhaften Nachfrage nach Einzelheiten im Anschluss an die jeweiligen Beiträge, während der spannende Aspekt des Translokalität-Konzeptes nicht erörtert wurde. Das war nicht nur insofern bedauerlich, weil hier der enge Bezug zwischen dem Thema des Historikertages und dem Entwurf von Translokalität noch einmal hätte zur Sprache kommen können. Denn translokale Kommunikation und translokales Handeln ist stets ein Prozess, sich neue Räume durch Aneignung zu erschließen, sie praktisch zu produzieren und dies über die bis dato definierten Grenzen hinweg.

Zudem hätte sich hier auch die lohnende Gelegenheit geboten, in einen erkenntnisreichen Dialog über die Perspektiven des Konzeptes einzutreten, da Lokalität und Translokalität seit einigen Jahren zu den Forschungsschwerpunkten des Zentrums Moderner Orient gehören und beide Konzepte sich dort in einem stetigen fruchtbaren Gespräch befinden. Dass dies leider ausblieb, lag wohl an einem etwas knapp bemessenem Zeitplan und der gegen Mittag immer schlechter werdenden Luft im Raum. Mit Bestimmtheit jedoch lag es nicht an den Beiträgen, die sowohl für sich gesehen als auch in der Gesamtheit an Dichte und Intensität eindrucksvoll waren.

So ergab sich durch die facettenreichen Themenauswahl ein breites Spektrum an Modellen und Ideen, wie und als was Translokalität verstanden werden kann. Im Kern lehnte es sich an Konzepte des amerikanischen Ethnologen Arjun Appadurai an, die im Kontext von Lokalitätsforschung und Sozialgeographie entstanden.1 Dass Gemeinschaft dabei nicht mehr nur im Sinne von physischer Nähe zu verstehen ist, dass sie sich auch über Grenzen hinweg durch unterschiedlichste Formen von Kontakt und Kommunikation bilden können, wobei andere und neue Bezugspunkte von Abgrenzung und Identität entstehen, wurde in allen Beiträgen deutlich. Translokalität ist damit vor allem dezentral, das Lokale und seine Verbindungen untereinander werden zum Zentrum, die Kommunikation zwischen Orten und Räumen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gesetzt.

Der so hergestellte Kosmos translokaler Netzwerke und Möglichkeiten erwies sich gerade für die eingangs erwähnte stereotypenbelastete Imagination der islamischen Welt als geeignetes Konzept, um ihrer Vielgestaltigkeit und Komplexität gerecht zu werden. Der Islam als gemeinsame Religion, so zeigte sich, ist dabei oft Basis der Begegnung und Kommunikation, diese jedoch beschränkt sich in Handlungsebene und Erfahrungshorizont keinesfalls nur auf religiöse Bereiche.

Im Prinzip aber benannte die Leiterin der Sektion mit ihrer zu Beginn aufgeworfenen Frage ein Problem, das sich im Titel der Sektion nur widerspiegelte. Befasst man sich mit einem Themenkreis, der unter einer kulturellen Kategorie wie der Religion zusammengefasst ist, so begibt man sich augenblicklich auch in Gefahr, diesen Gegenstand erneut als Einheit zu konstruieren. So zeigte sich zwar einerseits in den Einzelbeiträgen die große Vielfalt der islamischen Welt, andererseits wurde dadurch umso deutlicher die Frage nach dem Sinn einer Zusammenfassung nach religiösen Gesichtspunkten aufgeworfen.

Anmerkung:
1 Vgl. Appadurai, Arjun, The Production of Locality, in: Fardon, R. (Hg.), Counterworks: Managing the Diversity of Knowledge, London 1995, S. 204-225; sowie Ders., Sovereignty without Territoriality. Notes for a Postnational Geography, in: Yaeger, P. (Hg), The Geography of Identity, Ann Arbor 1996, S. 40-58.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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