HT 2004: Die Konstitution religiöser Netzwerke in Europa im 18. und 19. Jahrhundert

HT 2004: Die Konstitution religiöser Netzwerke in Europa im 18. und 19. Jahrhundert

Organisatoren
Martin Schulze Wessel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2004 - 17.09.2004
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Von
Anke Stephan, Ludwig-Maximilians-Universität München

Seit einigen Jahren interessieren sich Historikerinnen und Historiker der Neuzeit zunehmend für religionsgeschichtliche Fragestellungen. Die Vorstellung, die europäische Moderne sei von einer "Säkularisierung" im Sinne einer Entkirchlichung und Entchristlichung begleitet gewesen, wird seit längerer Zeit infrage gestellt. Vielmehr setzt sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, dass auch in modernen europäischen Gesellschaften individuelle und kollektive Identitäten in hohem Maße von religiösen Vorstellungen und Praktiken geprägt sind. Ein Manko heutiger Religionsgeschichtsschreibung bleibt jedoch, dass sich die meisten Forschungen auf einzelne nationale Kontexte beschränken, wenngleich Religion ein transnationales Phänomen darstellt. Neben die traditionelle internationale und transterritoriale Organisation vieler Religionsgemeinschaften traten seit der "Sattelzeit" neue religiöse Phänomene wie beispielsweise die Revitalisierung von Kultorten mit internationaler Bedeutung (Lourdes), die Neugründung des transnational operierenden Jesuitenordens 1814 oder der Zionismus als säkulare Bewegung mit religiöser Symbolik. Die Untersuchung religiöser Netzwerke in Europa im 18. und 19. Jahrhundert bietet vor diesem Hintergrund einen Ansatzpunkt zur transnationalen Annäherung an religionsgeschichtliche Fragestellungen.

In seinem Einleitungsreferat formulierte der Sektionsleiter Martin Schulze Wessel zentrale Aspekte, die bei der Analyse religiöser Netze im Untersuchungszeitraum 18. und 19. Jahrhundert eine Rolle spielen. So stelle sich zunächst die Frage nach dem Funktionieren der Kommunikation, den Trägern, den Mitteln, der Reichweite. Ferner interessierten die der grenzüberschreitenden Verständigung entgegenlaufenden Prozesse, zum Beispiel Regulierungsprozesse durch den Staat oder die Nationalisierung der Religion. Schließlich sei der Zusammenhang von Raum und Kommunikation von Bedeutung: Entsteht durch die Formierung religiöser Netzwerke ein neuer Raumbegriff? Welche Rolle spielen religiöse Netzwerke im mental mapping?

Als erstes Beispiel religiöser Netzwerkbildung beleuchtete François Guesnet (Potsdam) internationale jüdische Hilfsaktionen im 18. und 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt von Guesnets Überlegungen war die Zusammengehörigkeit der Juden nicht nur als Religions-, sondern auch als Herkunftsgemeinschaft, die durch die Diaspora per se national transzendierend war. Ein religiöses Netzwerk, so Guesnet, entstehe allerdings nicht allein aus der bloßen Zugehörigkeit, sondern erst dann, wenn "in Rückgriff auf die Vorstellung einer Herkunftsgemeinschaft und mit Rückbezug auf sie gehandelt" werde. Angesichts der tiefgreifenden kulturellen Angleichungsprozesse europäischer Judenheiten in der Moderne bleibe die zentrale Frage, inwieweit sowohl Herkunftsgemeinschaft als auch Religion die Kraft besaßen, ein historisches Kontinuum "Geschichte der Juden" zu erzeugen. Zwei Fallbeispiele dienten Guesnet im folgenden dazu, die Historizität und Veränderlichkeit jüdischen Selbstverständnisses zu beschreiben: die von Maria Theresia verfügte Ausweisung der Prager Juden 1744 und der Ritualmordvorwurf gegen die Damaszener Judenheit im Jahr 1840. Anhand dieser anschaulich geschilderten Beispiele wurden die Veränderungen im Charakter, in der Mobilisierung und im Funktionieren der Netzwerke deutlich: 1744 handelte es sich um ein personales Netz, das vor allem von der neuen Elite der "Hofjuden" - weniger der Gemeindehierarchien - getragen wurde. Es entfaltete sich rasch über die Staatsgrenzen hinweg. Die Mobilisierung politischer und materieller Hilfe für die Prager Juden funktionierte mittels traditioneller Formen der Fürsprache, durch den Einsatz persönlicher Kontakte und der effektiven Verknüpfung verschiedener Netzwerke. Zwar hatte auch die europäische Mobilisierung zugunsten der durch Ritualmord bedrohten Damaszener Juden 1840 eine vergleichbare Reichweite. Ein entscheidender Unterschied war jedoch die Verschiebung von personalen auf mediale Netzwerke. Die Auseinandersetzung um Hilfsaktionen fand in der jüdischen wie nichtjüdischen Presse - und damit in einem national geprägten Raum - statt. Grundlage des internationalen politischen Handelns waren keine religiös definierten einheitlichen Wertvorstellungen mehr. Vielmehr identifizierten sich die jüdischen Eliten stärker mit der jeweiligen Nation. Anhand der Kontrastierung der beiden Fallbeispiele lässt sich also ablesen, dass sich sowohl die räumlichen als auch die strukturellen Voraussetzungen für eine jüdische Interessenvertretung verändert hatten.

Anknüpfend an Guesnet beleuchtete Martin Schulze Wessel (München) die grenzüberschreitende Kommunikation der Protestanten in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert, ebenfalls anhand zweier Fallbeispiele: der Verfolgung der Thorner Protestanten 1724 und der Tätigkeit des 1832 in Leipzig gegründeten Gustav-Adolf-Vereins (GAV). Wie bei Guesnet standen die Kontinuitäten und Brüche in der Kommunikation vom 18. zum 19. Jahrhundert im Vordergrund. Im Unterschied zu den europäischen Judenheiten, so Schulze Wessel, würden in bezug auf die Prostanten allerdings nicht Minderheitsbevölkerungen untereinander kommunizieren, sondern es handele sich um eine "asymmetrische Kommunikation zwischen protestantischen Minderheiten und Mehrheitsbevölkerungen in protestantisch geprägten Staaten". Zum Vergleich der beiden Fälle nahm Schulze Wessel jeweils drei Elemente in den Blick, erstens die Mechanismen der Kommunikation, zweitens die Selbstverständigung der protestantischen Mehrheitsgesellschaften, drittens die politischen Raumkonzepte. Durch dieses strukturierte Vorgehen konnten besonders die Unterschiede zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert herausgearbeitet werden: Im Falle der Thorner Protestanten appellierte eine religiöse Minderheit an einen ausländischen Protektor (Preußen). Dieser Appell über die Grenzen hinweg diente als Mittel zur Ausweitung des Handlungsspielraums - bei gleichzeitiger Inkaufnahme des Verdachts der Illoyalität gegenüber der katholischen Mehrheitsgesellschaft. Für den europäischen Protestantismus enthielt der Fall Thorn ebenso wie die öffentlichkeitswirksame Vertreibung der Salzburger Protestanten 1731 die Funktion protestantischer Selbstvergewisserung - in Abgrenzung gegen einen als intolerant und unzivilisiert wahrgenommenen Katholizismus. Politisiert wurde der Konflikt durch seine Instrumentalisierung für territoriale Bestrebungen Preußens, insofern spielte staatliche Herrschaft in Form von Großmachtspolitik eine Rolle. Auch bei den Aktivitäten des Gustav-Adolph-Vereins handelte es sich, wie am Beispiel der Unterstützungsmaßnahmen des Vereins für böhmische Gemeinden deutlich wurde, um Akte grenzüberschreitender Solidarität. Die Handlungsmodi verschoben sich allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts: Neben konfessionelle traten zunehmend nationale Motive, allmählich entstand eine Synthese aus protestantischer Kirchlichkeit und deutschem Nationalbewusstsein. Sowohl Hilfe vom, wie auch Hilfsgesuche an den GAV konnten im Gegensatz zum Fall Thorn daher als nationale Illoyalität verstanden werden. Für die Entwicklung von Raumvorstellungen können in diesem Zusammenhang im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrere Stufen beobachtet werden: Zunächst kann man von einer Konfessionalisierung des Raumes sprechen. Die Zuwendungen des GAV an böhmische Gemeinden gingen einher mit der Konstruktion Böhmens als einem - seit der "Ersten Reformation" durch Jan Hus - eigentlich protestantischen Land. Zu einem späteren Zeitpunkt, als Beispiel führte Schulze Wessel ein Zitat anlässlich der Hundertjahrfeier des GAV von 1932 an, wurde die Konfessionalisierung des Raumes nur noch als Mittel zur Nationalisierung angesehen. Der nationale Diskurs knüpfte gleichwohl an den konfessionellen an, beispielsweise durch das Aufgreifen des Topos der Unzivilisiertheit, der schon im Fall Thorn 1724 aufkam. Insofern liest sich der Fall des GAV als Geschichte einer erfolgreichen Nationalisierung der Religion.

Während sich die ersten beiden Vorträge der Sektion ausgezeichnet ergänzten, wiesen die beiden folgenden Referate unterschiedliche Zielrichtungen auf. Anna Veronika Wendland (Köln/Leipzig) beschrieb am Beispiel der Westukraine die Rolle der Konfession(en) bei der Konstituierung von Räumen. Als konfessionelle Netzwerke nahm sie vor allem Kirchen und kirchennahe Institutionen wie Laienbruderschaften, Verlags- oder Schulwesen sowie konfessionell geprägte Gesellschaftsgruppen wie Kleriker und Adelseliten in den Blick. Den Raumbegriff entlehnte sie Henri Lefebvres Konzept der "sozialen Raumproduktion".1 Darauf aufbauend entwickelte sie eine schematische Darstellung des Wechselverhältnisses von Raum und Kommunikation: Demnach bestimmen räumliche Bedingungen die Bandbreite möglicher menschlicher Kommunikation, Raum präfiguriert also Kommunikation. Umgekehrt produziert menschliche Kommunikation räumliche Strukturen, zum Beispiel Grenzen, die wiederum Auswirkungen auf Kommunikationsmuster und Kommunikationsbedingungen haben. Ausgehend von diesen Überlegungen zeigte Wendland am Beispiel der westlichen Gebiete der heutigen Ukraine auf, wie naturräumliche Gegebenheiten und von Menschen produzierte oder imaginierte räumliche Strukturen einander bedingen können. Eine besondere Rolle bei der Konstitution des Gebiets "Westukraine", das sich an der Schnittstelle zwischen orthodoxer und katholischer Einflusssphäre befand, spielten hierbei besagte konfessionelle Netzwerke und religiöse Inhalte. Für das 17. und 18. Jahrhundert, die Zeit vor den Teilungen Polens, fasste Wendland die konfessions- und raumbildenden Prozesse in drei Typen zusammen: a) die Transformation religiöser Netzwerke durch Kulturtransfer, beispielsweise die Übernahme des westlichen Fächer- und Sprachkanons an der Kiewer Akademie, der damit auch für orthodoxe Kleriker wegweisend wurde, b) die Transformation religiöser Netzwerke durch staatliche Intervention, beispielsweise durch die Schaffung der unierten ukrainisch-katholischen Kirche und behördlich sanktionierte Netzwerke, c) die Transformation konfessioneller Netzwerke durch Inkulturation, also Angleichungsprozesse an den Katholizismus. Die religiöse Organisation und Struktur trugen entschieden zur Genese der Großregion "Westukraine" mit einem galizisch-ukrainischen Sonderbewusstsein bei. Für die Zeit nach den Teilungen Polens lässt sich konstatieren, dass die religiös motivierten Praktiken und Netzwerke beharrungsfähig waren, im Zeichen der Nationalstaatsbildung - die in dieser Region erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte - jedoch zunehmend ethnisiert und politisiert wurden.

Im letzten inhaltlichen Referat - der Vortrag Emiel Lamberts (Leuven) "Die schwarze Internationale. Katholische transnationale Laiennetzwerke in den 1870er Jahren" musste aufgrund der Erkrankung des Referenten leider entfallen - setzte sich Harald Roth (Gundelsheim/Heidelberg) mit dem Verlust des transnationalen Zusammenhalts der Armenier im 19. Jahrhundert auseinander. Im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit ließen sich die Strukturen der armenischen Diaspora durchaus mit der jüdischen vergleichen, denn beide verstanden sich sowohl als Herkunfts- wie auch als Religionsgemeinschaft. Sowohl durch weltlich geprägte Netzwerke (Kaufleute) wie auch durch religiöse Verwaltungsstrukturen blieben sowohl die Kommunikation über Länder und Grenzen hinweg als auch der Kontakt mit dem Ursprungsland über viele Jahrhunderte bestehen. Erst im 19. Jahrhundert ließen verschiedene Faktoren den Zusammenhalt der Armenier und ihre großräumige kulturelle und religiöse Identität schwinden: die Entstehung moderner Nationalstaaten, staatlicher Druck, neue Siedlungsformen und Berufe und die dadurch beförderte Akkulturation und teilweise Integration der Armenier in neue nationale Eliten. Nach Roth sei es jedoch nicht möglich, abschließend zu klären, weshalb es im 19. und 20. Jahrhundert nicht gelang, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Religions- und Herkunftsgemeinschaft in eine neue nationale Identität zu transformieren. Ein möglicher Grund könne hier im Zusammenbruch des Kommunikationsnetzes und den damit einhergehenden Verschiebungen der Raumwahrnehmung weg vom Ursprungsland hin zum Nationalstaat gesucht werden.

Betrachtet man die Gemeinsamkeiten der vorgestellten Beispiele religiöser Netzwerke so sind laut Thomas Mergel (Bochum), der den Kommentar zur Sektion abgab, mehrere Charakteristika zu konstatieren: In allen Fällen handelt es sich um Minderheiten, religiöse Netzwerke entfalten also offenbar ihre Wirksamkeit, weil sie als personale Beziehungen gegen staatlich-abstrakte Machtbeziehungen gesetzt werden können. Dennoch werden Kommunikationsstrukturen durch staatliche Grenzziehungen beeinflusst, etwa durch diplomatische Interessen, Wirtschaftsbeziehungen oder Ausbildungsstrukturen. Auffällig an allen beschriebenen grenzüberschreitenden Netzwerken ist nach Mergel ihre Transformation, Begrenzung oder Beendigung durch Nationsbildung und bürgerliche Öffentlichkeit. Einerseits wandeln sich personale Netzwerke im 19. Jahrhundert hin zu abstrakten Beziehungskomplexen, was sie auf Dauer zerstören kann. Andererseits wird transnationale religiös geprägte Kommunikation durch nationale Einschluss- und Ausschlussdynamiken begrenzt. Im Falle eines Weiterbestehens oder einer Neukonstitution solcher Netze ist eine Ethnisierung der Religion charakteristisch.

Problematisch nannte Mergel an den skizzierten Beiträgen die Unschärfe des Netzwerkbegriffs. So sei abwechselnd von Kirchen, kirchlichen Organisationen, von Institutionen oder persönlichen Kontakten, beispielsweise Briefswechseln die Rede gewesen. Darüber hinaus stelle sich die Frage, was den religiösen Charakter der Netzwerke ausmache. Als Definitionsvorschlag brachte Mergel daher ein, unter einem religiösen Netzwerk "ungerichtete stabile soziale Beziehungen zwischen Personen, die auf religiösen Zugehörigkeiten beruhen" zu verstehen. Die Beziehungen könnten verschiedene Pole haben, die Kommunikation in unterschiedliche Richtungen gehen. Ein weiteres Problem bei der Betrachtung religiöser Netze ergebe sich aus dem Befund, sie würden durch die abstrakte bürgerliche Öffentlichkeit ausgedünnt werden. Generell konstatiert die Bürgertumsforschung für das 19. Jahrhundert eher eine Bedeutungszunahme personaler Beziehungen. Heiratsverbindungen, Familienbande, Vereine oder Freimaurerei dienten den Individuen anscheinend dazu, die Komplexität moderner Gesellschaften zu reduzieren. Es müsste also noch genauer nach der Überlagerung verschiedener Beziehungsnetze, nach der Art der Beziehungen, den Kommunikationsformen, Mechanismen und Richtungen gefragt werden. Weiterführende Aspekte sind in den Augen Mergels ferner die Fragen nach der Rolle des Staates und der Nation. So könnte noch systematischer erforscht werden, an welchem Punkt grenzüberschreitende religiöse Beziehungen schließlich von staatlichen Grenzen beeinträchtigt werden. Im Hinblick auf Nationsbildung als begrenzender Faktor müsse noch genauer untersucht werden, inwiefern sich Unterschiede im "Nationalisierungsgrad" der Religionszugehörigkeiten oder ein dezidiert übernationales Selbstverständnis von Konfessionen oder Religionsgemeinschaften auf Netzwerkbildung und Kommunikationsstrukturen auswirkten.

Sowohl die Beiträge als auch die Diskussion der Sektion "Die Konstitution religiöser Netzwerke in Europa im 18. und 19. Jahrhundert" führten eindrücklich vor Augen, welche Rolle Religion bei der Konstitution geographischer und sozialer Räume spielen kann. Die Referate zeigten allesamt Möglichkeiten auf, religionsgeschichtliche Fragestellungen in transnationaler Perspektive zu beleuchten. Es zeigte sich deutlich, in welchem Maße soziale Beziehungen in der Moderne durch religiöse Zugehörigkeit geprägt wurden, wenngleich religiöse Vorstellungen und Werte entscheidende Veränderungen, beispielsweise Nationalisierungsprozesse durchliefen. Die zahlreichen neuaufgeworfenen Fragen lassen erkennen, dass der Zusammenhang von Raum, Kommunikation und Religion ein weites Feld für künftige Forschungen bietet.

Anmerkung:
1 Henri Lefebvre, La production de l'espace, Paris 1974.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/