Rechtsverständnis und Handlungsstrategien im mittelalterlichen Konfliktaustrag

Rechtsverständnis und Handlungsstrategien im mittelalterlichen Konfliktaustrag

Organisatoren
PD Dr. Stefan Esders; HD Dr. Michael Oberweis; Prof. Dr. Christine Reinle; Dr. Dieter Scheler, AOR, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2004 - 05.06.2004
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Von
Christine Reinle, Ruhr-Universität Bochum

Seit einiger Zeit ist die Konfliktforschung eines der zentralen Forschungsfelder der Mediävistik. Ausgehend von der Beobachtung, daß Konflikte nicht etwa nur eine dysfunktionale Störung einer ansonsten wohlstrukturierten politischen Ordnung oder Rechtsordnung, sondern eher den gesellschaftlichen Normalfall darstellen, hat sie die vielfältigen Mechanismen des (außergerichtlichen) Konfliktaustrags und der Konfliktbeilegung in den Mittelpunkt der Forschungen gerückt. Besonders der Ritualforschung bzw. der Frage nach der Spezifik "Symbolischer Kommunikation" kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Doch auch die Akzeptanz und Legitimation physischer Gewalt werden zunehmend diskutiert. Die Bochumer Tagung, die maßgeblich von der Fritz-Thyssen-Stiftung sowie durch einen kleineren Betrag von der Ruhr-Universität Bochum gefördert wurde, betonte demgegenüber einen eher vernachlässigten komplementären Gesichtspunkt: Gefragt wurde nach dem Spannungsfeld von konfliktbezogenen Handlungsstrategien und übergreifendem Rechtsverständnis der Zeitgenossen sowie nach den Handlungsoptionen der Betroffenen in jeweils gegebenen Konfliktsituationen, wobei zu diesen Handlungsoptionen ad hoc entwickelte Lösungsstrategien ebenso gehörten wie die Berufung auf allgemeine Normen und die Nutzung von Spielräumen aufgrund von Rechtsvielfalt, aber auch der große Bereich der Vermittlung und nicht zuletzt der Einsatz von Gewalt. Dies geschah in fünf unterschiedlich umfangreichen Sektionen, die zu den Themen "Konfliktmanagement und Konfliktwahrnehmung", "Recht, Verfahren und soziale Lebenswelt", "Strategien der Schriftlichkeit", "Politische Dimensionen mittelalterlichen Konfliktaustrags" und "Konfliktvermeidung und Gewaltverzicht" anberaumt waren, deren Themen sich jedoch vielfältig aufeinander bezogen.

I. Sektion: Konfliktmanagement und Konfliktwahrnehmung

Nach einer Einführung von Prof. Dr. Christine Reinle (Bochum) in die "Forschungsperspektiven mittelalterlicher Konfliktforschung" wandte sich PD Dr. Claudia Zey (München) in ihrem Vortrag "Gleiches Recht für alle? Konfliktlösung und Rechtsprechung durch päpstliche Legaten im 12. Jahrhundert" der Rechtsprechung der päpstlichen Legaten zu. Sie konnte zeigen, daß sich die päpstlichen Legaten um Unparteilichkeit bemühten und daß ihrer Entscheidungsfindung ein gewisser "egalitärer Zug" innewohnte. Dabei arbeiteten die Legaten, wo immer möglich, auf die Aushandlung eines Vergleichs hin, während sie nur bei eindeutiger Beweislage (Stellenwert von Urkunden !) ein Urteil sprachen. Insgesamt erwiesen sich die durch compositio amicabilis geschlichteten Fälle dauerhaft beigelegt, die durch sententia definitiva beschlossenen Fälle wurden in lediglich 10 % der Fälle wieder aufgerollt. Auch wenn solche Fälle, in denen die päpstlichen Legaten vor Ort gar kein Ergebnis erzielten, keinen Niederschlag in den Urkunden fanden, konnte gezeigt werden, daß gerade die alltägliche Kleinarbeit der Legaten dem Legatenwesen Durchschlagskraft und damit letztlich dem päpstlichen Jurisdiktionsprimat Anerkennung verschaffte. PD Dr. Stefan Esders (Bochum / Berlin) diskutierte "Individuelle und kollektive Rechtsvorstellungen in der Konfliktwahrnehmung des frühen Mittelalters" auf der Basis historiographischer (Gregor von Tours, Liber historiarum VIII, 40) und hagiographischer Berichte (Vita Eligii II, 58), aus denen er Rückschlüsse auf gerichtliche Verfahrensschritte bei der Beilegung von Konflikten zu gewinnen versuchte. Dabei beschäftigte er sich besonders mit der Funktion des Reinigungseids mit Eideshelfern und der Frage, wann dessen Leistung zugestanden, wann sie einer Seite sogar zugeschoben und wann das Aufbieten von Eideshelfern zurückgewiesen wurde. Mehrere mögliche Erklärungen für den Verzicht auf den Einsatz von Eideshelfern in der von Gregor von Tours geschilderten Episode wurden diskutiert, das Zusammenwirken unterschiedlicher Rechtsvorstellungen angenommen. Auch bei dem gestuften Vorgehen gegen den in der Vita Eligii angeprangerten Räuber von Kirchengut ging Esders von einer Kombination römischer wie fränkischer Rechtsvorstellungen bzw. Verfahrenstraditionen aus. Prof. Dr. Patrick Geary (University of California, Los Angeles) untersuchte ebenfalls "Oathtaking and Conflict Management in the Ninth Century", nahm dabei allerdings mit den nicht im Original überlieferten Eiden, die 860 von den zerstrittenen Söhnen Ludwigs des Frommen, Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen, in Koblenz in der Volkssprache geleistet wurden, promissorische Eide in den Blick. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem in dem MGH Capit. Bd. 2 S. 152-158 gebotenen Text rekonstruierte Geary die Sprechsituation, in der die Eide geleistet wurden: Sie seien keine Eide der Brüder untereinander, sondern Sicherungsversprechen der Herrscher an die anwesenden Großen gewesen, die in beiden Reichsteilen begütert waren und an einer umfassenden Konfliktbeilegung ein vitales Interesse hatten. Die zur umfassenden Befriedung nötige Transparenz wurde erzielt, indem beide Brüder den Eid in der je eigenen Sprache ablegten und in der Sprache des anderen Landesteils zusammenfassend wiederholten. Die in einen formalisierten Sprechakt eingebrachte Zweisprachigkeit deutete Geary vor diesem Hintergrund als symbolische Repräsentation der Reichseinheit.

II. Sektion: Recht, Verfahren und soziale Lebenswelt

Hatte schon die erste Sektion immer wieder Fragen des Verfahrens in ihrer Rückbindung an die soziale Realität berührt, so war dies im besonderen Gegenstand der zweiten Sektion. Dr. Philippe Depreux (Tours / Mission Historique Française, Göttingen) thematisierte anhand karolingerzeitlicher Quellen aus Bayern sowie aus der Touraine und dem Anjou "Le choix du lieu concernant les actes mettant fin à un différend (soumission, restitution, abandon de droits durant le haut Moyen Age)". Er zeigte, wie die Auswahl eines Orts, an dem ein Streit öffentlichkeitswirksam beigelegt werden würde, genauso wie die Wahl eines mit liturgischem Sinngehalt versehenen Tages Bedeutungsträger sein und damit zum Gegenstand von Vorverhandlungen werden konnte. Dabei wurden Sakralbauten (Kirchenräume, besonders der Altarbereich; Kapitelsäle der Klöster) genauso in den Blick genommen wie Orte (etwa Herrschaftsmittelpunkte). Oft traf man sich am Sitz eines Vermittlers zu Verhandlungen, wogegen das Rechtsgeschäft selbst - etwa Rückgabe eines Gutes, Investitur in ein Gut - an einem anderen Ort stattfinden konnte. Depreux konnte eine bewußte Wahl des Ortes bei der Konfliktbeilegung plausibel machen; eine feststehende Regel, wie Orte ausgewählt wurden, ließ sich daraus jedoch nicht ableiten - ein Befund, der gerade deswegen spannend ist, weil er auf die Offenheit auch ritualisierter Konfliktlösungsmuster verweist. Prof. Dr. Chris Wickham (Birmingham), "Law and court practice: the 8th and 12th centuries compared", nahm die Beobachtung, daß im früheren Mittelalter bei den bis ca. 1100 belegten placita große Urteilerversammlungen aufgeboten wurden, während im 12. Jahrhundert nur noch kleine Gerichtsversammlungen bezeugt sind, zum Ausgangspunkt seiner Italien, Frankreich und England umspannenden Untersuchung. Dabei setzte er sich mit der These von Georges Duby auseinander, der hier einen Zusammenhang zur "feudal revolution" der Zeit um 1000 erblickt hatte: Der Niedergang der öffentlichen Ordnung sowie die Ausbildung kleiner, heterogener Herrschaften korrespondierten demnach mit einem zunehmenden Desinteresse dieser neuen Herren an der alten karolingischen Tradition. Wickham erwog in Weiterführung dieser These als Grund für die Verkleinerung der Gerichtsversammlungen eine Veränderung der Legitimation der neuen Herrschaften; nunmehr sei das Gericht vom Machtanspruch des "Territorial"- und Gerichtsherrn abgeleitet worden; dem versammelten "Volk" sei keine konstituierende Rolle mehr zugekommen. Dr. Dieter Scheler (Bochum) belegte in seinem Vortrag über "Exkommunikation und Alltag im Spätmittelalter" anhand niederrheinischer Beispiele, daß die Wirkung der Exkommunikation trotz aller Kritik am Mißbrauch dieses Instruments im Alltag des späten Mittelalters keineswegs verblaßt war. Auch eine Nutzung der geistlichen Gerichte samt ihrer Möglichkeit zur Exkommunikation des Gegners durch Laien war alltäglich - alltäglich war jedoch auch der Versuch, sich durch alternative Strategien oder Dispense (etwa zeitweiser Lösung vom Bann) den Folgen der geistlichen Jurisdiktion zu entziehen. Daß die Abneigung gegen das geistliche Gericht dort am größten war, wo man ihm ohne Alternative ausgeliefert war, nämlich in der bäuerlichen Bevölkerung, verwundert daher nicht. Dr. Dirk Jäckel (Bochum) untersuchte "Die rechtliche Stellung orientalischer Christen in den Kreuzfahrerstaaten" und kam zu dem Ergebnis, daß die Kreuzfahrer trotz ihres Anspruchs, die orientalischen Christen aus einer vermeintlichen Knechtschaft zu befreien, mutatis mutandis das hegemoniale System übernahmen, das sie bei den Muslimen vorgefunden hatten: Rechtliche Gleichstellung gewährten sie nur der eigenen Gruppe, während sie die unterschiedlichen christlichen Gruppen in rechtlicher Beziehung (Gerichtsstand, Testierfähigkeit) verschieden behandelten und so eine diskriminierende informelle Hierarchie zwischen den Konfessionen schufen. Dabei war es weder die Nähe oder Ferne der jeweiligen dogmatischen Positionen zu den römisch-katholischen Lehrmeinungen noch eine Rücksichtnahme auf die politischen Präferenzen des Papsttums, die die rechtliche Position der jeweiligen Glaubensgemeinschaft im Königreich Jerusalem beeinflußte, sondern es mußte der Präsenz der Kirchen vor Ort, also der demographischen und politischen Faktizität Rechnung getragen werden. Prof. Dr. Klaus Militzer (Bochum / Stadtarchiv Köln) stellte "Das Problem der zwei Schwerter in der Schlacht bei Tannenberg" dar und erwog, daß der militärisch in eine verzweifelte Lage gedrängte Orden offenbar auf Anraten von Herolden zu dem Mittel griff, den Polenkönig sowie den litauischen Großfürsten durch Übersendung zweier Schwerter zur Annahme der Schlacht herauszufordern, um diesen die Chance zu nehmen, einen für sie günstigeren Zeitpunkt zu wählen. Da dieser "Code" jedoch nur vereinzelt in Westeuropa nachweisbar sei, sei er nicht verstanden worden; in der Folge habe man polnischerseits diese Form der Kampfesaufforderung (Herausforderung gleich an zwei Gegner !) sogar als Hybris deuten und die Niederlage als gerechtes Gottesurteil darstellen können.

III. Sektion: Strategien der Schriftlichkeit

In dieser Sektion wurde der Anteil von Schriftlichkeit an der Konfliktbeilegung anhand ausgewählter Beispiele erörtert. Prof. Dr. Warren Brown (California Institute of Technology, Pasadena) sprach in leichter Abänderung seines angekündigten Titels über "Conflict, writing and personal relationship in early medieval formulars". Er zeigte auf der Basis der in frühmittelalterlichen Formularsammlungen inserierten Briefe eine Vielfalt von Konfliktlösungswegen auf, bei denen der Einsatz persönlicher Beziehungen (nutzbar zu machen für Interzession) keine geringere Rolle spielte als das förmliche Verfahren. Da in der Karolingerzeit auch die Zentralgewalt bzw. die von ihr abgeleiteten Instanzen mit Aussicht auf Erfolg angerufen werden konnten, zeichnete sich gerade diese Zeit durch eine Vielfalt von Handlungsoptionen aus, die - gestützt nicht nur auf "staatliche" Instanzen, sondern ebenso auf Patronage und Verwandtschaft - vom Hinarbeiten auf einen Kompromiß bis zum Gerichtsurteil reichten. Auch Schriftlichkeit war wichtiger Bestandteil einer so beschaffenen Konfliktbeilegung, beruhte sie doch nicht zuletzt auf "Interzessionsbriefen". Prof. Dr. Marita Blattmann (Köln) erörterte die "Protokollführung in römisch-rechtlichen und deutschrechtlichen Gerichtsverfahren im 13. und 14. Jahrhundert" und stellte nach einer instruktiven Bestandsaufnahme über den Umfang der einschlägigen Überlieferung im deutschen Bereich auf überaus plastische Weise die Umständlichkeit des deutschrechtlichen Verfahrens gegenüber dem sehr viel rationaleren römisch-rechtlichen Verfahren dar. Prof. Dr. Ludolf Kuchenbuch (Hagen) erläuterte den Weg "Vom Register über das Bild zur Tabelle": Figurationen ländlicher Herrschaft vom 9. bis zum 15. Jahrhundert". Er zeigte anhand des berühmten Falkensteiner Codex aus dem Jahre 1166, der "Charte blanc" des Klosters Marmoutier (von 1142) und des Prümer Urbars von 1222, wie sich die Funktion der Bilder in Hinblick auf die Strukturierung des Textes änderte: Zunächst in textstützender Funktion angebracht, wurden sie zu "Bildbegriffen", die eine Aussage repräsentierten, dann zu Glossen, die den Text kommentierten, und zuletzt zu unbildlichen Zeichen.

IV. Sektion: Politische Dimensionen mittelalterlichen Konfliktaustrags

In der vierten Sektion wurden die Handlungsoptionen und -motivationen prominenter Akteure anhand bekannter politischer Konflikte erörtert, wobei deren z. T. bewußte Abweichung von den Rechtsvorstellungen der Zeitgenossen ebenso diskutiert wurde wie die Chancen neutraler Vermittler, die Konflikte zu entschärfen. Prof. Dr. Stefan Weinfurter (Heidelberg) setzte sich in seinem Vortrag "Herrscher ohne Eigenschaften? Konfliktverhalten und Individualität am Beispiel Heinrichs II." mit der These auseinander, Kaiser Heinrich II. sei hinsichtlich seines Konfliktverhaltens ganz in den Bahnen traditionellen Konfliktaustrags geblieben. Statt dessen zeichnete er das Bild eines Herrschers, der - vielleicht aufgrund einer frühen Prägung im geistlichen Milieu Regensburgs, vielleicht aufgrund einer um das Jahr 1000 verstärkten Endzeiterwartung - willentlich überall dort auf prinzipiellen Konfrontationskurs ging, wo er seine Vorstellungen von der Legitimation seines Königtums und von der gottgewollten Funktion ebendieses Königtums - nämlich der, Gottes Willen zu vollstrecken - herausgefordert sah und wo ihm, wie er meinte, der unbedingte Gehorsam verweigert wurde, den er infolge seiner Mission beanspruchte. Prof. Dr. Karl-Friedrich Krieger (Mannheim) legte die "Konflikte und Konfliktbewältigung Herzog Albrechts IV. von Bayern-München (1465-1508) mit seinen Brüdern Christoph, Sigmund und Wolfgang" dar. Da Krieger plausibel machen konnte, daß es ein Testament Herzog Albrechts III., wonach immer nur die beiden ältesten Brüder regieren sollten, wohl gar nicht gegeben hatte, galt es in der Folge, die Strategien zu erörtern, die es Herzog Albrecht IV. möglich machten, seine mit guten rechtlichen Gründen zur Mitregierung drängenden jüngeren Brüder von der Regierung auszuschließen und sie obendrein ins Unrecht zu setzen. Nicht zuletzt seine Politik, die Brüder finanziell so knapp zu halten, daß sie sich in Schulden verstricken mußten, war dabei von Erfolg gekrönt, weil diese Schuldenpolitik, zusammen mit einer eher planlosen, "chaotischen" Vorgehensweise der Brüder, ihnen zuletzt den Rückhalt der lange Zeit vermittelnden Stände raubte. HD Dr. Michael Oberweis (Bochum) profilierte in seinem Vortrag "Mahner und Vermittler - Der Zisterzienserorden im deutschen Thronstreit 1198-1208" anhand einer neuen Quelle die Rolle des Zisterzienserordens als Vermittler im deutschen Thronstreit. Dabei konnte er zeigen, wie der Orden, der sich eine einseitige Stellungnahme im Thronstreit weder leisten konnte noch wollte, stauferfreundliche südwestdeutsche Äbte in die Schranken wies, um statt dessen aus wohlverstandenem Eigeninteresse und zum Schutz der Zisterzienserklöster im Reich zwischen den Parteien zu vermitteln, um so mehr, als auch Philipp von Schwaben schon früh nicht mehr in der Lage war, einen effektiven und vor allem unentgeltlichen Schutz der Klöster zu gewährleisten. Der zum Thema "Did Edward the Confessor have a Policy towards the Succession?" angekündigte Vortrag von Prof. Dr. Patrick Wormald (Oxford) mußte leider entfallen.

V. Sektion: Konfliktvermeidung und Gewaltverzicht

Zunächst stellte Prof. Dr. Rainer Walz (Bochum) "Strategien der Gewaltvermeidung im Vergleich primitiver Gesellschaften mit bäuerlichen Gesellschaften in Europa" vor. Anstelle schlichter Fortschrittstheorien, die Gewalteindämmung entweder dem sich herausbildenden Staat, der zivilisierenden Wirkung des Hofs oder der religiös begründeten Selbstbeherrschung zuschreiben, ging Walz von den in der Ethnologie diskutierten Faktoren aus, die zur Gewalteindämmung beitragen können. Genannt seien hier Magie und Religion unter Einschluß des abweichendes Verhalten strafenden und folglich disziplinierend wirkenden Hexenglaubens, gewalthemmende soziale Strukturen (Frage nach der Bedeutung der Seßhaftigkeit), die ausgleichende Rolle von Gruppenmitgliedern, die beiden rivalisierenden Gruppen verpflichtet sind, die Bedeutung von Gewaltvermeidungsritualen und die kulturell geförderte Ausbildung bestimmter - konfliktverschärfender wie konfliktbehindernder - Persönlichkeitsmerkmale u. v. m. Zu fragen ist dabei, warum manche segmentären Gesellschaften friedlichere Umgangsformen erreicht haben, als sie im frühneuzeitlichen Europa zu beobachten sind. Da Kulturen sehr unterschiedliche Muster im Umfang mit Konflikten hervorbringen können, kann nur ein multifaktorielles Modell die jeweiligen Präferenzen erklären; eine Fokussierung allein auf den Staat ist nach Walz unterkomplex, und auch die Rolle von Religion und Magie kann trotz ihrer unbestreitbaren Bedeutung im einzelnen nicht exakt bestimmt werden. Dr. Letha Böhringer (Bochum / Stadtarchiv Köln) betonte anläßlich ihrer Erörterung von "Gewaltverzicht, Gesichtswahrung und Öffentlichkeit. Beobachtungen zur Entstehung des kirchlichen Eherechts im 9. Jahrhundert" die Rolle der Kirche für die rechtliche Absicherung von Frauen in der Ehe, nicht zuletzt vor der Anwendung roher physischer Gewalt durch die eigenen Ehemänner. Zwar habe es im fränkischen Reich - unbeschadet der Existenz einzelner Rechtsnormen - weder ein geschlossenes System materieller Eherechtsnormen noch ein feststehendes Verfahrensrecht gegeben, das lediglich aus bruchstückhafter Überlieferung rekonstruiert werden müsse. Dennoch spielten die vielfältigen und nicht immer untereinander widerspruchsfreien Verfahrensvorschläge, die etwa ein Hinkmar von Reims im Fall von Ehekonflikten unterbreitete, eine wesentliche Rolle bei dem Versuch, die Parteien zu einem befriedigenden Zusammenwirken im Dienst des Friedens zu bewegen, woraus sich im Nachhinein dann auch materielle Rechtssätze entwickeln konnten. Eine Zusammenfassung der Tagungsergebnisse durch Prof. Dr. Hanna Vollrath (Bochum) beschloß die Tagung.

VI. Resumee

Die Tagung, die breiten Zuspruch seitens interessierter Teilnehmer fand, zeigte die Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten im Konfliktfall: Situative Vorschläge zur Konfliktbeilegung vor dem Hintergrund einzelner Rechtsnormen (Böhringer), einen Mix von Handlungsoptionen unter Einschluß der Techniken der Schriftlichkeit sowie unter Mobilisierung des sozialen Kapitals (Brown), die Instrumentalisierbarkeit des Reinigungseids, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der im fränkischen Reich vorhandenen Rechtsvielfalt (Esders), die Rolle des promissorischen Eides bei der Konfliktbeilegung (Geary) sowie das Bemühen um ein Verfahren, das, losgelöst von den Konstellationen vor Ort, auf möglichst unparteiische Schlichtung und erst in zweiter Linie auf rechtliche Entscheidung hinzielte (Zey). Die Gründe für die Wirksamkeit zweifelhafter Techniken der Wahrheitsfindung (Reinigungseid) sowie umstrittener Zwangsmittel (Exkommunikation) wurde ebenso aus der Handlungslogik der Betroffenen heraus dargelegt wie das Changieren zwischen der Nutzung des geistlichen Gerichts sowie der Umgehung der Sanktionen ebendieses Gerichts (Scheler). Die prinzipielle Offenheit auch von Handlungen, die man der symbolischen Kommunikation zurechnen kann wie die Wahl des Ortes für die Konfliktbeilegung, konnte dem Vortrag von Depreux entnommen werden; die weitreichenden Folgen, die es für eine auf Öffentlichkeit zielende Handlungsweise haben mußte, wenn die Gerichtsforen gleichsam "privatisiert" wurden, ließ der Vortrag von Wickham erahnen. Die zunehmende Bedeutung nicht nur von Schriftlichkeit, sondern auch der Organisation von Schriftlichkeit durch Textgestaltung (Kuchenbuch) und rationelle Organisation (Blattmann) für das Bereitstellen von rechtsrelevanten Argumenten wurde ebenfalls deutlich. Daß last but not least auch die Berufung auf den ritterlichen Ehren-Code eingesetzt werden konnte, um die Gegenseite zu Handlungen zu provozieren, zeigte Klaus Militzer, in dessen Beispiel der angestrebte Duellcharakter der Schlacht sich zum Nachteil des Deutschen Ordens in der Propaganda der Gegenseite in ein "Gottesurteil" verwandelte. Politik und Recht: Die Beschäftigung mit dem Bemühen interessierter, nichtsdestotrotz aber redlicher Vermittler um Konfliktbeilegung (Oberweis), mit dem Abweichen von überkommenen Handlungsmustern zugunsten übergeordneter Normen (Weinfurter), mit der kühl kalkulierten Rechtsbeugung, die dennoch durch geschicktes Ausnutzen der Fehler der Gegenseite Recht in Unrecht, Unrecht in Recht zu verwandeln verstand (Krieger) sowie mit der rechtlichen Diskriminierung christlicher Konfessionen (wie nichtchristlicher Religionen) als Fundament mittelalterlicher Kreuzfahrerstaaten (Jäckel) zeigte schließlich, wo aus ganz unterschiedlichen Gründen die Grenzen der Bemühungen um Ausgleich und Austarieren von Interessen im Mittelalter liegen konnten. Eine Publikation der Vorträge wird zeitnah erfolgen.