"Moderne" Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert - Legitimation und Kritik

"Moderne" Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert - Legitimation und Kritik

Organisatoren
Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin, Georg-August- Universität Göttingen; Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf; PD Dr. Christina Vanja
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2004 - 11.09.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Karen Nolte, Universität Würzburg; Heiner Fangerau, Universität Düsseldorf

Das Symposium fand in Göttingen statt, wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Psychiatriereformer Ludwig Meyer gewirkt hatte. Dieser hatte von 1866 bis 1900 die Provinzial-Irrenanstalt zu Göttingen geleitet und sich hier bei der Planung neuer psychiatrischer Anstalten als kritischer Reformer und Idealist hervorgetan. Zuvor war er in Hamburg durch eine spektakuläre öffentliche Versteigerung von Zwangsjacken zu einem prominenten Vertreter der Non-Restraint-Behandlung geworden. Trotz Meyers kritischen, reformerischen Ansatzes hatte sich zu Beginn seiner Amtszeit in Göttingen eine psychiatriekritische Öffentlichkeit formiert, die insbesondere die Verletzung der Persönlichkeitsrechte psychisch Kranker bei den öffentlichen Krankenvorstellungen in der universitären Lehre kritisierte. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Legitimation und Kritik der sich als "modern" definierenden Anstaltspsychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts bildeten das Rahmenthema der Veranstaltung.

Die kritische Geschichte der Anstaltspsychiatrie wurde zunächst von den Arbeiten Foucaults und im Weiteren vor allem durch die These der "Sozialdisziplinierung" stark geprägt. Subjektive Sichtweisen und soziales Handeln von Kranken und somit die soziale Praxis der Anstaltspsychiatrie blieben bei diesen Forschungsperspektiven unberücksichtigt. Vielmehr erschienen diese ausschließlich als Objekte staatlichen und ärztlichen Handelns und durch Diskurse determiniert. Erst jüngst traten dieser struktur- und diskursgeschichtlichen Perspektive auf das psychiatrische Anstaltswesen patientengeschichtliche Untersuchungen zur Seite.

Doch nicht erst diese neue von Foucault eingeleitete Psychiatriegeschichtsschreibung seit 1980 hat die Konzepte und Strategien der "modernen" psychiatrischen Anstalten kritisiert: Schon in der Zeit des Gründungsbooms der neuen Anstalten um 1900 formierte sich eine psychiatriekritische Bewegung - von den "Irrenärzten" polemisch als "Antipsychiatrie" bezeichnet - welche die moderne Anstaltspsychiatrie in Theorie und Praxis einer scharfen Kritik unterzog. Die soziale Struktur sowie politische Inhalte der "antipsychiatrischen Bewegung" um 1900 sind im Detail allerdings noch kaum erforscht. Insofern ist die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen an die Psychiatrie einerseits und psychiatrischer Reaktion andererseits auf diesem Gebiet noch ein weißer Fleck in der Historiographie. Gerade aktuelle psychiatriekritische Reaktionen auf psychiatrische Forschung und Praxis erscheinen vor diesem Hintergrund als historisch bedingte Phänomene, weisen sie doch historische Äquivalente auf.

Ziel des Symposiums war es, die Spannung zwischen Legitimations- und Professionalisierungsbestrebungen der Psychiater und der öffentlichen Psychiatriekritik um 1900 zu rekonstruieren. Auch sollten Legitimationsstrategien der im 19./20. Jahrhundert noch jungen Profession der Psychiater sowie zeitgenössische und historiographische Kritiken an der modernen Anstaltspsychiatrie in den Blick genommen werden.

Das Symposium begann mit einem abendlichen Einführungsvortrag von Christina Vanja (Kassel), in dem sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandene aufklärerische Reiseberichte über die hessischen Hohen Hospitäler mit kurze Zeit später erschienenen Publikationen von Psychiatern und Archivüberlieferungen der Hessischen Hohen Hospitäler verglich. Hier zeigte sie den Einfluss früher Reisebeschreibungen auf spätere psychiatrische Literatur, die literarische Topoi aufgreift. Vanja arbeitete insbesondere die Ambivalenz der literarischen Reiseberichte heraus, indem sie die aufklärerische Kritik an der "unmenschlichen" Unterbringung der "Irren" mit der Schaulust der Reisenden kontrastiert. Dieser "objektivierende" Blick ist jedoch ein integraler Bestandteil der neuen "modernen" Psychiatrie.

An die Reisebeschreibungen der Zustände in den Hohen Hospitälern anschließend, wurde der erste Tagungstag mit einer Sektion über "Anstaltspsychiatrie um 1800" eröffnet. Fritz Dross (Göttingen) thematisierte die Verbindung zwischen abstrakten Institutionen und realen Anstalten und forderte eine Verknüpfung der Geschichten verschiedener Anstaltstypen wie Irrenhäusern, Krankenhäusern, Gefängnissen etc., bevor er sich der "Geburt" des Düsseldorfer Irrenhauses und seiner Konkurrenz zum allgemeinen Krankenhaus zuwandte. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen zwischen Irren- und Krankenhaus sowie die gegenseitige Perspektive aufeinander eröffneten Einblicke in die institutionelle Entstehungsgeschichte der "modernen" Anstaltspsychiatrie. Mit Alexandra Chmielewskis (Frankfurt) Beitrag rückten nach den Anstalten die in den Anstalten agierenden Personen in das Zentrum des Interesses. Chmielewski zeigte, inwieweit Anstaltsärzte während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einfluss auf die Organisation der institutionellen Irrenfürsorge nehmen konnten und wie sie dabei in Konflikte mit anderen Entscheidungsinstanzen (z.B. Verwaltung) gerieten. Die gegen Widerstände erfolgende Umsetzung reformatorischer Ideen der Anstaltsärzte führte letztendlich für sie auch zu einem Zugewinn an eigener Autonomie.

Nach den Anstaltsärzten sollten in der Sektion "Psychiatriekritik und Patient's View" die Patienten zu Wort kommen. Thomas Röske (Heidelberg), Karen Nolte (Würzburg) und Heiner Fangerau (Düsseldorf) präsentierten unterschiedliche Versuche und Strategien von Patienten/innen, sich gegen institutionelle Zwänge aufzulehnen und Kritik an ihren Behandlern und Behandlungszuständen zu üben. Thomas Röske präsentierte einen gestickten Wandteppich einer Patientin, auf dem diese vordergründig Bilder des bürgerlichen Lebens um 1900 zeichnete. In die Rückseite jedoch hatte die Patientin Protestbriefe an den Kaiser eingestickt, in denen sie die schlechte Behandlung in der Irrenanstalt und das ihr geschehene Unrecht der zwangsweisen Unterbringung in einer Anstalt beklagte. Karen Nolte analysierte in ihrem Vortrag über den "Querulantenwahnsinn" das Phänomen der hohen Plausibilität dieser legalistischen Diagnose. Ein Entrinnen aus dem Kreislauf von Pathologisierung, Protest und Verfestigung der Diagnose war für Patienten kaum möglich. Neben einer Darstellung der Versuche von Patienten, dieses Problem zu artikulieren, zeigte Nolte die Reichweite des zeitgenössischen Diskurses über den Querulantenwahnsinn über die Grenzen der Psychiatrie hinaus in den bürgerlichen Alltag auf. Heiner Fangerau untersuchte die Patientenkritik in einer staatlichen Volksnervenheilstätte und damit die Kritik von sich freiwillig in einer Anstalt aufhaltenden Personen. Während die Kritik der Patienten/innen sich über die Jahre konstant an denselben Themen (schlechtes Essen, schlechte Unterbringung, schlechte Behandlung etc.) abarbeitete und eine nicht erfüllte Erwartungshaltung an die Nervenheilstätte repräsentierte, folgte die ärztliche Reaktion zeitgebundenen Strömungen. Auf eine brüske Zurückweisung der Kritik in Zeiten der Vollbelegung folgte ein Bemühen um Verbesserungen in Zeiten des relativen Patientenmangels.

Mit "Psychiatriekritik und Reform um 1900" befassten sich die Beiträge von Martin Lengwiler (Zürich/Berlin) und Marietta Meier (Zürich). Lengwiler analysierte - vorrangig auf der Basis des Organs der deutschsprachigen psychiatriekritischen Öffentlichkeit, "Die Irrenrechts-Reform" - die Interaktion zwischen Psychiatriekritik und psychiatrischen Establishment und fragte darüber hinaus nach der Wirkung der psychiatriekritischen Bewegung auf die Gesetzgebung und auf die Entwicklung des psychiatrischen Anstaltswesens über den Niedergang der Bewegung in den 1920er Jahren hinaus. Lengwiler zeigte den Synergieeffekt zwischen den Interessen von Juristen, deren richterliche Kompetenzen durch die sich professionalisierenden Psychiater beschnitten worden waren, mit den Kritiken und Reformideen der psychiatriekritischen Bewegung auf. Marietta Meier analysierte den bemerkenswerten "Fall Hägi", hinter dem sich ein journalistisch ambitionierter Schneider verbirgt, der sich 1892 für vier Monate in Wallraffscher Manier als Wärter in das Burghölzli, der späteren Züricher Universitätspsychiatrie, einschleuste, um die Öffentlichkeit aus erster Hand über die "wahren" Verhältnisse dort zu unterrichten. Meier arbeitete insbesondere "Hägis" narrative Strategien heraus und stellte diese in den Kontext der weitreichenden gesellschaftspolitischen Wirkung des Skandalberichts, der in unmittelbarem Zusammenhang zu der sich formierenden schweizerischen psychiatriekritischen Bewegung zu sehen ist.

Damit war übergeleitet zu weiteren "Psychiatriekritischen Inszenierungen", denen sich die Beiträge von Heinz-Peter Schmiedebach (Hamburg) und Urs Germann (Bern) widmeten. Heinz Peter Schmiedebachs Vortrag konzentrierte sich auf literarische Psychiatriekritik, mittels derer sich Künstler an der Diskussion über Psychopathologisierung sozialer Normabweichungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts beteiligten. Während Psychiater diese künstlerische Einmischung als "Anmaßung" von Literaten kritisierten, verstand das Publikum die literarische Psychiatriekritik der Kulturschaffenden als Relativierung der psychiatrischen Definitionsmacht. Nach dieser Darstellung über literarisch "in Szene gesetzte" Psychiatriekritik wandte sich Urs Germann der fotografisch in Szene gesetzten Legitimation von Psychiatrie zu. Anhand von illustrierten Bildbänden aus den 30er Jahren, die über psychiatrische Anstalten aufklären sollten, konnte Germann zeigen, dass Bilder, die arbeitende Patienten/innen zeigen, in diesen Inszenierungen überwiegen. Dabei diskutierte er, in wieweit diese Darstellung arbeitender Patienten eine Rolle für die Legitimation der Psychiatrie spielte oder ob diese Darstellungen ungewollt sogar die Legitimationsbestrebungen unterliefen, indem sie auf die Rückständigkeit der Anstaltspsychiatrie hinwiesen, die trotz aller Fortschritte dann doch nur auf die "Arbeitstherapie" der Patienten/innen hinauslief.

Die visuellen Repräsentation von Macht in der Institution Psychiatrie nach 1945 stand dann auch im Zentrum des Beitrags der Kulturwissenschaftlerin, Susanne Regener (Berlin). Anhand von Foto- und Filmmaterial arbeitete sie Vorstellungen über den Sitz und die Heilung der Seele in der Psychochirurgie heraus. Sie stellte hierbei die Entwicklung von den in den 1940er und 1950er Jahren in Europa ohne Einwilligung der PatientInnen durchgeführten Lobotomien bis hin zur aktuellen Methode der Stereotaxie, die Patienten/innen in die operative Entfernung "kranker" Hirnareale mit einbezieht. Noch immer werde, so Regener, mit bildgenerierenden Verfahren versucht, die alte Idee von der Beherrschbarkeit der Seele in neuem Gewand zu verkaufen. Cornelia Brink (Freiburg) konzentrierte sich in ihrer Untersuchung von Psychiatriekritiken zwischen 1960 bis 1980 auf die Konstellationen zwischen Psychiatrie, Soziologie und Journalismus. Mit Gieryns Konzept des "boundary work" analysiert Brink das professionelle Management symbolischer Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, mit der sich Psychiater als Experten legitimierten. Brink kommt zu dem Befund, dass die Kritik die Psychiatrie keineswegs nur von außen traf, vielmehr hinter der Fassade der öffentlich behaupteten Geschlossenheit der Psychiater eine fachinterne kritische Auseinandersetzung über Therapiekonzepte und psychiatrische Institutionen stattgefunden habe.

Zum Ende des Symposium wurde die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den psychiatrischen Anstalten in Budapest/Ungarn sowie bei der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher im deutschen Kaiserreich um 1900 analysiert. Emese Lafferton (Budapest) präsentierte anhand ihrer umfänglichen quantitativen Forschung die Population der drei Budapester Anstalten als "Miniature Version of the Kingdom". Aus dieser Perspektive kritisierte sie liebgewonnene Thesen der Psychiatriegeschichtsforschung wie z.B. Showalters These der "female malady" - tatsächlich seien in der psychiatrischen Praxis generative Funktionen kaum als Krankheitsursache in Erscheinung getreten. Christian Müller (Essen) zeigte die offenbar gängige Pendelei ausschließlich männlicher "irrer Verbrecher" zwischen "Irrenstationen" der Gefängnisse und "Bewahrungshäusern" psychiatrischer Anstalten aus administrativer Sicht auf. Er betonte, dass die Entscheidungen der Experten - anders als bisher angenommen - keineswegs immer rational begründet waren: So waren die Verantwortlichen häufig froh die lästigen "geisteskranken Rechtsbrecher" losgeworden zu sein, so dass z.B. keinerlei Anstrengungen unternommen wurden, flüchtige Insassen zurückzuholen. Das neue wissenschaftliche Konzept "Psychopathie" als Persönlichkeitsstörung ohne Krankheitswert kam dem Problem der bis dahin mit als "unzurechnungsfähig" beurteilten Kriminellen überfüllten psychiatrischen Einrichtungen entgegen. Wie schon Fritz Dross eingangs in seinem Beitrag zu den Anfängen der Anstaltspsychiatrie ausgeführt hatte, zeigt sich auch in Müllers Untersuchung die z.T. theoretischen Konzepten zuwiderlaufende Eigendynamik der Konkurrenzen zwischen den zuständigen Institutionen, die den Umgang mit psychisch Kranken in der sozialen und administrativen Praxis wesentlich prägte.

Christina Vanja und Martin Lengwiler leiteten durch kurze Statements zum Symposium die Abschlussdiskussion ein. Das zeitliche und thematische Spektrum der Tagungsbeiträge habe die Perspektive einer "longue durée" der Psychiatriekritik ermöglicht - lohnend wäre eine Untersuchung, welche die Topoi der Kritik an Psychiatrie sowie die Verhältnisse in psychiatrischen Einrichtungen vergleichend in den Blick nehme. Kritisch angemerkt wurde, dass der Titel des Symposium eine thematische Engführung auf die Anstaltspsychiatrie unterstelle, obgleich die Beiträge sich neben der Anstaltspsychiatrie auch mit anderen (außer-)institutionellen Formen der Psychiatrie befasst hätten. Doch gerade in dieser sich aus den Vorträgen ergebenden breiteren Perspektive lag auch eine große Stärke der Tagung. Trotz der positiv hervorgehobenen thematischen Dichte des Symposiums wurden einige Forschungsdesiderate deutlich: Aus den Beiträgen zu den Konkurrenzen der verschiedenen für psychisch Kranke zuständigen Institutionen ergab sich die Frage nach einer neuen Politik- und Wirtschaftsgeschichte der Psychiatrie, die bereits in den frühen Arbeiten von Dirk Blasius angelegt ist.

Ein Tagungsband ist in Planung.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts