Literatur und Geschichte - Interdisziplinäre Ansätze zwischen Fakt und Fiktion

Literatur und Geschichte - Interdisziplinäre Ansätze zwischen Fakt und Fiktion

Organizer(s)
Dr. Martina Winkler
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
04.06.2004 - 05.06.2004
Conf. Website
By
Alfrun Kliems, Leipzig

"The historical use of literature". So ließe sich - in Anlehnung an eine Kontroverse zwischen dem Literaturwissenschaftler Philip Stewart und der Historikerin Lynn Hunt - das Problemfeld des zweitägigen Berliner Workshops "Literatur und Geschichte - Interdisziplinäre Ansätze zwischen Fakt und Fiktion" abstecken. Martina Winkler, Osteuropahistorikerin am Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas und Initiatorin dieses Workshops, lud Historiker und Literaturwissenschaftler dazu ein, die Frage zu diskutieren, welche historischen Erkenntnisse sich aus Literatur, namentlich der "schöngeistigen", ziehen lassen.

Der mit dem linguistic turn eröffnete und äußerst anregende Austauschprozess zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaftlern bedeutete nicht nur die Einsicht, dass Wirklichkeitserfahrungen immer sprachlich konstruiert sind, sondern auch, dass sprachliche Repräsentation wiederum Sinn stiftet. Und da der Literatur eine wichtige Rolle innerhalb dieser kulturellen Sinnstiftung zukomme, müsse sie - so die Ausgangsthese - das Interesse der Historiker in weit stärkerem Maße auf sich ziehen, als bislang geschehen. Literarische Texte entstehen in einer spezifischen historischen und gesellschaftlichen Situation, sie repräsentieren einen Teil der materiellen Dimension von Kultur, sind gewissermaßen kulturelle Objektivationen. Die Literatur nicht nur als Illustration oder schmückendes Beiwerk in geschichtswissenschaftlichen Werken verkommen zu lassen, sondern auch ihren spezifischen Charakter in die historische Forschung einzubeziehen, dies war das erklärte Ziel des Workshops.

Martina Winkler (Berlin) führte mit einigen bewusst provokant formulierten Thesen in dieses Feld ein, filterte die methodischen Probleme heraus, die eine Nutzung literarischer Texte durch Historiker mit sich bringen. Hierbei legte sie den Fokus auf "moderne Belletristik", eine Einengung, die in der Diskussion und den nachfolgenden Beiträgen nicht aufgenommen wurde, wie die Referate zur Lyrik Victor Hugos und zur "Ego-Literatur" (Tagebuch, Memoiren, Autobiographie) zeigten. Das eigentliche Schlüsselwort ihrer Überlegungen war jedoch "Literarizität". Und daran anknüpfend stand zwangsläufig die Frage im Mittelpunkt, ob man diese als Historiker zu berücksichtigen habe, wenn man Literatur als historische Quelle verwende. Winkler hob hervor, es seien vor allem Merkmale wie Emotionalität und Subjektivität, aber auch der "bewusste" Umgang mit der Sprache, welche die Quellengattung Literatur auszeichnen würden. Mit dem Großmeister des New Historicism, Stephen Greenblatt, verwies sie auf "das Wesen der Literatur: d.h. über ihren Anteil an der Erfindung des Realen und an der Erkenntnis, dass das Reale erfunden ist." Um den Realitätsbezug von literarischen Texten ging es denn auch in den anschließenden Beiträgen, und um die Frage der Fiktionalität. Fiktion meint schließlich nicht nur die narrative Konstruktion von Fakten, sondern umfasst einen weitaus größeren Komplex. Abhilfe für das Quellenproblem scheint Umberto Ecos zweckgebundene Zweiteilung in Interpretation und Quelle zu verheißen, auf die Winkler verwies. Eco unterschied hierbei, ob ein Text als Text im Mittelpunkt einer Untersuchung steht oder Mittel für einen anderen Zweck ist.

Letzteres war der Fall in Thomas Mergels (Bochum) Beitrag zum deutschen Politikroman im 20. Jahrhundert. Seine Literaturanalysen nutzte er als Quelle für eine Kulturgeschichte der Politik in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland (50/60er sowie 70er Jahre). Naturgemäß, so Mergel, brächten Stoff und Plot es mit sich, dass Politikromane mit einem Großteil an Realitätsverweisen operieren. Zwar gäbe es über diese historische Zeitspanne hinweg eine Kontinuität des Themenaufbaus, allerdings würden die literarischen Mittel variieren, was natürlich auch mit der literarischen Entwicklung zusammenhänge. Der Politiker als tragischer Lehrer oder korrupter Drahtzieher weicht in den 70er Jahren einer ironischen Karikatur, die Motivkomplexe bleiben jedoch gleich, darunter Korruption und Scheitern (wobei zuvorderst den weiblichen Figuren Reinheit und Wahrhaftigkeit zugeschrieben werden). Alles in allem scheint dieses Genre nach wie vor relativ konservative Züge aufzuweisen - im Gegensatz zur innovativen Entwicklung auf dem Sektor des historischen Romans. Kulturelle Debatten um die Figur des Politikers haben sich in den 80er und 90er Jahren - so zeigte die Diskussion - nunmehr von der Literatur ins Medium Fernsehfilm verlagert.

Um die Abgrenzung der Literatur von anderen Diskursen ging es Jürgen Link (Dortmund) im Workshop, wo er die Beziehungen zwischen Literatur, Geschichte und Interdiskurs zur Diskussion stellte. In Anlehnung an Michel Foucaults diskursive Formationen bzw. Diskurse geht Link mit dem Interdiskurs einen Schritt weiter, weil sich Literatur und Geschichte (und nicht nur diese) der Differenzierung und Spezialisierung dieser Formationen widersetzen würden. Literatur sei einerseits wie die Geschichte ein Spezialdiskurs mit eigenen Regeln, andererseits hochgradig interdiskursiv. Mit dem Begriff "Interdiskurs" meint Link die horizontalen "Beziehungen, Verbindungen, Querschnittsachsen, Brückenschläge, Kopplungen und Integrationen", welche zwischen den Spezialdiskursen zirkulieren und die Nicht-Spezialität zu ihrer Spezialität machen (Film, Literatur, Populärreligion, Populärgeschichte). Link ging es weniger um literarische Texte als historische Quellen bzw. um historische Quellen zur Kontextualisierung literarischer Texte, als vielmehr um die gemeinsame interdiskursive Wissensbasis literarischer und historiographischer Diskurse. Hierzu gehören vor allem die Kollektivsymbole als dem interdiskursiven Mechanismus der Kultur entsprungene Formen (Link nennt sie "elementar-literarisch"). So kursieren gleichermaßen erfolgreich im literarischen wie auch im historiographischen Diskurs Kollektivsymbole wie Betriebsunfall, Infektion und Epidemie. Um die Rolle solcher "elementar-literarischen" Formen in historiographischen Diskursen nicht zuletzt kritisch zu evaluieren, könne der Vergleich mit ihrer Verarbeitung in literarischen Texten sehr aufschlussreich sein, so das Fazit Links.

Nicole Münnich (Leipzig) griff mit leichten Variationen auf das Interdiskurs-Schema von Link zurück und verwies zugleich auf die von Martina Winkler aufgeworfenen Kategorien Fühlbarkeit und Emotionalität. Diese würden eine gewichtige Rolle in den Memoiren und Berichten über das jugoslawische "Umerziehungslager" Goli Otok spielen. Münnichs gewählte literarische Beispiele zeigten deutlich, dass hier literarisch vorweggenommen wurde, wofür der Rezipient unter den sozialistischen Rahmenbedingungen keine offizielle Bestätigung bekam. Über den literarischen Interdiskurs gelangten die Texte dann in den historischen und wurde dort auch - aus Mangel an Material und womöglich auch wegen des auf Authentizität zielenden Schreibgestus - als historische Quelle behandelt. Zwar erheben autobiographische Schriften den Anspruch, referentielle Texte zu sein, d.h. eine, mit Philipe Lejeune gesprochen, "Information über eine außerhalb des Textes liegende "Realität" zu bringen und sich somit der Wahrheitsprobe zu unterziehen", dennoch sind auch sie konstruiert und gehören nicht selten gänzlich in das Feld der Fiktion. Deutlich zeigte Münnich die literarischen Strategien der Texte auf, deren Verfasser damit rechnen mussten, dass es 1) keine verbürgten Dokumente zu dieser "Realität" gibt und daher 2) zuvor ein Kontext für den Leser geschaffen werden muss. Weitere Untersuchungen zur Lagerliteratur aus anderen ehemals sozialistischen Ländern würden gewiss zeigen, wie das Tabu-Thema auch hier auf die Struktur von Texten Einfluss nahm.

Ann Rigney (Utrecht) fasste die eingangs gestellten Fragen nochmals zusammen und begann mit der oben bereits erwähnten Debatte zwischen Philip Stewart und Lynn Hunt. Nicht als Wettstreiter um ein und dieselbe Quelle sollten sich Historiker und Literaturwissenschaftler sehen, sondern als "Ergänzer". Selbst wenn es um ein und dasselbe Dokument gehe, so Hunt, hätten beide doch unterschiedliche Sichtweisen auf dieses, würden es für unterschiedliche Zwecke nutzen. Ketzerisch bezweifelte Rigney aber, ob eine solche, wenn auch generöse Sicht auch akzeptabel für die anderen Disziplinen sei, denn schließlich halte Hunt an einer strikten Trennung zwischen "proper historians" und "not-quite-historians" fest: "If art is the object of art history, and literature the object of literary history, what then is the object of history? History itself?" Rigney machte den Versuch, den Umgang mit literarischen Texten zu systematisieren, ihre Verwendung im Rahmen einer Kulturgeschichte zu katalogisieren: a) Literatur als legitimes Objekt historischer Studien, um zu einer Geschichte kultureller Repräsentationen zu gelangen, b) Literatur als Quelle oder zufälliges Archiv, wobei hier klar gesagt werden müsse, dass ein Verständnis für die Literarizität des Textes unabdingbar sei, schließlich handele es sich um fiktive Weltentwürfe, und c) Literatur in ihrer heuristischen Funktion, d.h. über die Entfaltung ihrer ästhetischen Qualität und imaginativen Kraft könne sie dem Rezipienten neue Lebensbereiche erfahrbar machen. Mit dieser Präzisierung machte die Referentin deutlich, dass es sich bei literarischen Texten nicht um traditionelle Quellen handele und es daher notwendig sei, den Stellenwert von Texten und ästhetischer Erfahrung in unserem Verständnis von Vergangenheit zu überdenken. Sie hob mit ihren Überlegungen somit das spezifische Leistungsvermögen von Literatur heraus. Zu den Ausführungen von Ann Rigney hatte Katja Naumann (Leipzig) einen Kommentar vorbereitet, der sich auf die deutsche Forschungslandschaft bezog. Wie Rigney bemängelte sie die zögerliche Zusammenarbeit und den Mangel an institutionellen Verflechtungen zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaftlern.

Scott Denham (Davidson/Würzburg) widmete sich anschließend der Luftkriegsliteratur bzw. dem Bombenkrieg als historischer Quelle. Wie zuvor Mergel in Bezug auf den Politikroman einen literarischen Paradigmenwechsel konstatierte, stellte auch Denham für "sein" Genre einen solchen Wandel von Betroffenheit zu Ironie und Metafiktion fest. Seine Fallbeispiele stammten von Winfried G. Seebald, Gert Ledig, Hans Erich Nossack und Kurt Vonnegut. Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis waren die Schlagworte der literarischen Analysen, womit er mit Überlegungen Nicole Münnichs zur Funktion der Lagerliteratur konform ging.

Martin Aust (Kiel) konzentrierte sich (leider) als einziger Referent auf den historischen Roman. Anhand poetologischer Merkmale versuchte er nachzuweisen, dass in Valentin Kostylevs russischem Historienroman "Kozma Minin" (Moskau, 1939) der sowjetische Überfall auf Polen bereits literarisch vorweggenommen wurde. Mit dieser Frage wurde wiederum unverhofft die Brücke zu Münnichs Lagerliteratur geschlagen. Der Vortrag traf insofern genau die zentrale Fragestellung des Arbeitgespräches, als Aust als Historiker versuchte, aus der ästhetischen Struktur des Textes eine gewagte Interpretation eines historischen Ereignisses zu formulieren.

Den Abschluss des Workshops bildete ein gemeinsam gehaltener Vortrag von Britta van Kempen (Berlin) und Daniel Schönpflug (Berlin). Vérité und Vraisemblance waren ihre Stichwörter, um am Beispiel von Victor Hugo zu demonstrieren, wie Literatur als historische Quelle genutzt werden könnte. In gelungener Weise führten sie die praktische Zusammenarbeit einer Literaturwissenschaftlerin und eines Geschichtswissenschaftlers vor, indem van Kempen die sprachliche wie poetologische und Schönpflug die historische Dimension des Beispieltextes aufzeigte. Sie widmeten sich aber auch der relevanten Frage, wie und wann Literatur als Quelle zu verwenden sei. So habe der Historiker an einer literarischen Quelle nur Interesse, wenn im Text ein Wirklichkeitsanspruch existent, ein Bezug zum extratextuellen Referenzraum vorhanden sei.

In systematischer Hinsicht lassen sich folgende Ergebnisse des Workshops festhalten: Das Bekenntnis zur "Grenzauflösung" zwischen den Disziplinen war spürbar. Doch obwohl die Bereitschaft, den literarischen Text als historische Quelle auch in seiner ästhetischen Qualität wahrzunehmen, vorhanden war, wurden die konkreten Analysen stärker inhaltlich-mimetisch ausgerichtet, bezogen sich vor allem auf die realen Referenzbereiche. Fragen zur Semantisierung der Form, zur ästhetischen Organisation, zur Selektion und Kombination des Materials blieben oftmals außen vor. In diesem Zusammenhang war es schade, dass theoretische Bemerkungen zum hybriden Genre des historischen Romans fast gänzlich fehlten. Gleiches gilt für die Literaturgeschichtsschreibung, zu der es leider keinen gesonderten Beitrag gab. Trotz dieser "Schönheitsfehler" bot der Workshop den Vertretern beider Disziplinen eine gute (und leider seltene) Möglichkeit, die gegenseitigen Forschungsfelder abzutasten, das jeweilige methodische Vorgehen zu hinterfragen. Die durchweg anregenden Diskussionen des Workshops waren auch deshalb so gewinnbringend, weil schon vorab ein Teil der Thesenpapiere verschickt worden war. So wurden bereits zuvor die Eckpunkte der Debatten markiert, was auch für die Abschlussdiskussion von Gewinn war.


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