Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin

Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin

Organisatoren
Verein für Sozialgeschichte der Medizin; Institut für Geschichte der Medizin der Medizinischen Universität Wien; Sonia Horn; Rosemarie Eichinger
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
17.11.2004 - 20.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Rosemarie Eichinger, Wien

Die Veranstaltung wurde vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, von der Abt. Wissenschaftsförderung der Stadt Wien und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft unterstützt.

Heutzutage finden sich WissenschafterInnen unterschiedlichster Fachrichtungen zu Tagungen, Meetings oder Symposien zusammen, um neueste Forschungsergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Dieser Transfer von Wissen ist für den Fortschritt und die Weiterentwicklung der Forschung von großer Bedeutung. Wie dieser Wissensaustausch im Mittelalter und der Frühen Neuzeit speziell in der Medizin vonstatten ging, war Gegenstand der diesjährigen Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin. 17 Referenten kamen zu diesem Thema vom 17. - 20. November 2004 in Wien zusammen und stellten ihre neuesten Forschungsergebnisse zur Diskussion.

Dieses breit angelegte Forschungsdesiderat wurde von den Organisatoren in drei große Blöcke unterteilt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Schnalke (Charité Berlin) stand am Donnerstag dem 18. November die Korrespondenz als Mittel des Wissensaustausches im Vordergrund. Stellvertretend für einen spannenden Themenblock sollen hier zwei Referate vorgestellt werden.

Stefan Hächler (Medizinhistorisches Institut, Universität Bern) präsentierte die Ergebnisse einer mehr als 10 jährigen Forschungsarbeit über den Briefwechsel des Gelehrten und Mediziners Albrecht von Hallers (1708 - 1777). Im Zuge dieses Projektes wurde der heute noch erhaltene Bestand des Briefkorpus (rund 13.300 Briefe an und 3700 Briefe von Haller) in einer Datenbank inventarisiert und unter verschiedensten Aspekten ausgewertet. Der Vortrag zeigte in sehr anschaulicher Art und Weise die Prinzipien und die Vorgehensweise bei der Erschließung und der elektronischen Erfassung des Briefbestandes und einige der Ergebnisse der Auswertung. Der Vortragende stellte einzelne Studien vor, in denen den unterschiedlichen Beziehungsverhältnissen, die Haller mit seinen Korrespondenzpartnern verband, nachgegangen worden war. Haller tritt dabei als wissenschaftlicher Lehrer, als Gelehrtenfreund oder wissenschaftlicher Gegner, aber auch als besorgter Familienvater und vernetzter Magistrat in Erscheinung. Der wissenschaftliche Austausch stand meist im Zentrum dieser Korrespondenzen, beispielsweise mit Partnern in einzelnen geografischen Räumen, oder über spezifische Themen wie Forschungsreisen oder Fernkonsultationen. Mit einem Schwerpunkt auf medizinische Aspekte in Hallers Korrespondenz zeichnete Stefan Hächler ein sehr plastisches Bild vom breit gefächerten Beziehungsnetzwerk eines Gelehrten des 18. Jahrhunderts.

Marion Mücke (Charité Berlin) behandelte in ihrem Vortrag die Deutsche Akademie der Naturforscher (Leopoldina) und ihre Verbindung nach Wien um 1750. Seit dem 17. Jahrhundert entwickelten sich die Akademien zu Kristallisationspunkten der frühneuzeitlichen Gelehrten, in dem sie ein Forum für das wissenschaftliche Gespräch boten und überregionale Korrespondenznetzwerke unterhielten. Mit der "Leopoldina", die 1652 von vier Ärzten gegründet worden war, wurde uns bei der Tagung eine für das Thema besonders aussagekräftige Gelehrtengesellschaft vorgestellt, da sie über 226 Jahre hinweg als ausschließlich "korrespondierende Akademie" bestand und ihren Sitz am Wohnort des jeweiligen Präsidenten einnahm. Marion Mücke lenkte ihren Vortragsschwerpunkt vor allem auf den Briefwechsel des seit 1736 amtierenden sechsten Präsidenten Andreas Elias Büchner (1701 - 1769) mit dem von ihm ernannten "director ephemeridum" Christoph Jacob Trew (1695 - 1769). Dieser Schriftverkehr gewährt tiefer gehende Einblicke in das Leben der Leopoldina um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Auf Basis der in der Korrespondenz genannten Drittkorrespondenzen lassen sich Rückschlüsse auf die Struktur des Netzwerkes sowie auf die Bedeutung einzelner Drittkorrespondenzen für diese Gelehrtengesellschaft ziehen.
Beide Vorträge führten den Zuhörern die Bedeutung des Briefwechsels als Transportmittel von Wissen in der Neuzeit sehr anschaulich vor Augen.

Der Freitag war unter der Leitung von Peter Jones (Kings College, Cambrigde) ganz dem Wissenstransfer über Bücher und Gegenstände gewidmet.

In einer beeindruckenden Powerpointpräsentation zeigte Anette Löffler wunderschöne Beispiele der medizinischen und naturwissenschaftlichen lateinischen Handschriften der Universitätsbibliothek Leipzig, die sie in einem laufenden DFG-Projekt aufnimmt und katalogisiert. Der Bestand umfasst rund 120 Bände, vor allem medizinische Texte vom frühen 13. bis zum späten 15. Jahrhundert. Mit der Demonstration verschiedener Um- und Zusammenbindeprozesse konnte die Referentin den Weg beziehungsweise die Rezeption von Wissen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ausgezeichnet visualisieren. Auch die Provenienz der Codices ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Die meisten stammen aus verschiedenen Klöstern des sächsischen Raumes und geben somit interessante Eindrücke in den Aufbau der Bibliotheken. Es finden sich jedoch auch böhmische, italienische und französische Handschriften, deren Wert durch die hochwertige Illuminierung noch gesteigert wird. Mit diesem Vortrag erhielten die Zuhörer Einblick in die Aufnahmeaspekte von medizinischen Handschriften.

Zeitlich an die Leipziger Handschriften anschließend präsentierte Andrea Praschinger (Institut für Geschichte der Medizin, Medizinische Universität Wien) ein Projekt zur Digitalisierung und Katalogisierung der frühneuzeitlichen medizinischen Fachbücher an der Universitätsbibliothek Wien. Ziel ist die Bereitstellung eines Kataloges mit der Option, die Bücher online zu lesen, um den Zugang zu diesem kulturellen Erbe einfach und praktikabel zu gestalten. Die Aufnahme der Titel geht über die standardisierte Praktik hinaus und liefert zusätzliche Informationen über Untertitel, Adlegate, Inhaltsverzeichnis, Druckersiegel und Provenienzen. Die Universitätsbibliothek Wien erhielt nach der Aufhebung zahlreicher Klöster und Stifte unter Josef II. auch deren Bibliotheken und Bestände, weshalb die umfassende Erschließung unter Berücksichtigung der Besitzvermerke zumindest auch eine fragmentarische Rekonstruktion der Bibliotheken der aufgelassenen Klöster und Stifte ermöglicht. Besonders interessant war der Vortrag in Hinblick auf die technische Umsetzung dieses Projektes, die von Andrea Praschinger sehr detailliert erläutert wurde.

Am Samstag wurde die Tagung unter der Moderation von Sonia Horn (Institut für Geschichte der Medizin, Medizinische Universität Wien) mit einem Blick auf Mobilität und Ausbildungswege der mittelalterlichen und neuzeitlichen Mediziner beendet.
Von den vier Vorträgen an diesem Vormittag möchte ich den von Elke Schlenkrich (Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) stellvertretend etwas genauer thematisieren. Ihr Beitrag mit dem Titel "Wissenstransfer und Austausch medizinischen Personals während der späten Pestzüge des ausgehenden 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Das Beispiel Niederösterreich - Sachsen - Schlesien" traf punktgenau den Kern des Tagungsthemas. In ihrem Forschungsfeld konnte Elke Schlenkrich überzeugend eine Gegenthese zur weit verbreiteten Ansicht ausarbeiten, dass zu Pestzeiten die wissenschaftliche Kommunikation stark eingeschränkt war. Nach der Auswertung sehr umfangreicher relevanter archivalischer Bestände kommt sie zu einem völlig anderen Bild von der Kommunikation in Pestzeiten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. So diente neben dem überregionalen Austausch von Pestordnungen und Pestschriften auch der gelehrte Brief als wichtiges Medium des Transfers von Wissen über die Pestbekämpfung, ebenso wie der überregionale Einsatz medizinischen Personals in pestbetroffenen Gebieten. So konnte die Referentin Pestbarbiere nachweisen, die nachdem sie 1679 in Wien im Einsatz waren, auch 1680 während der Pest in Schlesien und Sachsen tätig waren.

Für die medizingeschichtliche Forschung brachte die Tagung wichtige Impulse und Hinweise auf Bedeutung und Ablauf des Wissensaustausches in der Medizin des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Beiträge aller ReferentInnen werden im 6. Band, der vom Verein für Sozialgeschichte der Medizin herausgegebenen Reihe "Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin" voraussichtlich 2006 erscheinen.


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