Für die Staatsmacht, gegen die Staatsmacht, an der Staatsmacht vorbei – Ansichten von Arbeitern großer Industriezentren in der Volksrepublik Polen

Für die Staatsmacht, gegen die Staatsmacht, an der Staatsmacht vorbei – Ansichten von Arbeitern großer Industriezentren in der Volksrepublik Polen

Organisatoren
Kattowitzer Abteilung des polnischen Instituts des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej = IPN) in Zusammenarbeit mit der Schlesischen Bibliothek Kattowitz
Ort
Kattowitz
Land
Poland
Vom - Bis
17.11.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Smolorz, Roman

Die Kattowitzer Abteilung des polnischen Instituts des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej = IPN) veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Schlesischen Bibliothek Kattowitz am 17. November 2004 eine Konferenz zu Thema "Für die Staatsmacht, gegen die Staatsmacht, an der Staatsmacht vorbei – Ansichten von Arbeitern großer Industriezentren in der Volksrepublik Polen". In drei Teilen wurden folgende Schwerpunkte behandelt: "Anpassung, Akzeptanz und Mitläufertum – Ablehnung, gesellschaftlicher und politisch-organisierter Widerstand", ferner "Positive und negative Aspekte des sozialen Aufstiegs von Arbeitern in großen Industriezentren" sowie "Handlungen des staatlichen Sicherheitsapparates gegen die Arbeiterschaft". Łukasz Kamiński (IPN und Universität Breslau / Wrocław) begann mit der Aufzählung gängiger methodologischer Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung des Themas "Das Verhältnis der Arbeiter zur Staatsmacht sowie seine Veränderung in den Jahren 1944-1989". Er stellte ferner die wichtigsten Elemente dar, die das Verhältnis der Staatsmacht zur Arbeiterschaft in Volkspolen determinierten: die sozial-wirtschaftliche Lage, die Nähe der Arbeiter zur katholischen Kirche, den Ausprägungsgrad des National- und des sog. Klassenbewusstseins sowie das Problem der Arbeiterführer. Michał Paziewski, (Universität Stettin / Szczecin) erörterte anhand soziologischer Methodik die Ursachen für den Konflikt zwischen der Staatsmacht und den Arbeitern in der Stettiner Industrie 1970-1980. Maciej Tymiński (Universität Warschau / Warszawa) legte die Ergebnisse seiner Analyse dar, in der er auf die Beziehungen der Arbeiterschaft zum Parteikader im Jahr 1956 einging. Dieses Verhältnis sei, so der Referent, prägend für alle späteren Konfliktsituationen in Volkspolen gewesen. Die Zusammenfassung und die Diskussion, geleitet von Dariusz Jarosz (Universität Thorn / Toruń), brachten folgende Rückschlüsse: In der Krise 1956 dominierten in der gesellschaftlicher Rhetorik, zumal unter den Arbeitern, das nationale Element sowie das Bestreben nach Unabhängigkeit und eine zunehmende Mißbilligung des sowjetischen Einflusses in Polen. 1970 fehlte dieses Element ebenso wie die religiöse Komponente, die mit dem Ruf nach Befreiung Stefan Kardinal Wyszyńskis 1956 ein wesentliches Element des Protestes gewesen war. Erst 1980 kehrten die mental-rhetorischen Elemente der nationalen Unabhängigkeit und insbesondere der Religiosität zurück. Erklärungen dieses Phänomens wurden zwar nicht eindeutig gegeben, gleichwohl wurde darauf hingewiesen, dass die technische Intelligenz der Großindustrie der intellektuellen Intelligenz näher als der Arbeiterschaft gestanden habe. Daher suchte diese Intelligenz nach einer politisch-moralischen Autorität, die sie in der Kirche und der nationalen Tradition und Identifikation fand.

In den zweiten Teil der Konferenz führte Jan Franczyk (Krakau / Kraków) ein, indem er die Vor- und Nachteile des sozialen Aufstiegs der Erbauer von Nowa Huta darstellte. Die Vorstellungen vieler jungen Menschen gingen in der Nowa Huta in Erfüllung; zugleich war diese Generation von politischem Opportunismus geprägt, denn diese junge Arbeiter wurden einerseits Mitglieder einer marxistischen Partei, andererseits blieben sie der katholischen Kirche treu und wohnten regelmäßig an Sonntagen der Heiligen Messe bei. Błażej Brzostek (Universität Warschau / Warszawa) setzte sich mit dem Arbeitermilieu im Warschau der 50er Jahre auseinander, wobei er insbesondere die sog. neuen, vom Lande kommenden Arbeiter berücksichtigte. Wesentlich bei diesem Thema sei, so Brzostek, die Tatsache, dass es dieser Gruppe an Sozialisation in ihrer neuen Umgebung gefehlt habe. Ihr hätten nicht nur Führer gefehlt; vielmehr habe der Umstand, dass man nicht für den Ertrag, sondern zugunsten einer abstrakten Planerfüllung gearbeitet habe, negative Auswirkungen gehabt. Adam Bartoszek (Universität Kattowitz / Katowice) beschäftigte sich mit der Arbeitergesellschaft in Oberschlesien. Dabei korrigierte er die in der Fachliteratur herrschenden Fehlinterpretationen. Er verwies auf die Zerstörung des sog. Arbeitsmythos im oberschlesischen Industrierevier, auf die Destruktion eingefahrener Arbeitsprozesse und die seit den 1950er Jahren zunehmende Kluft zwischen der Arbeiterschaft und der Intelligenz sowie dem Parteikader.

Die Diskussion, geführt von Marcin Zaremba (Universität Warschau / Warszawa), brachte trotz dürftiger Leitung Interessantes hervor: Man ging auf die Aussagekraft des statistischen Materials ein, das vor 1989 unter sozialpolitischem Druck entstand und vom Misstrauen der Befragten gegenüber staatlichen Umfragen geprägt war. Genauso fraglich erschien den Anwesenden die Verwendung des Begriffes 'sozialer Aufstieg'. Denn die Beseitigung des Analphabetismus unter den Industriearbeitern betrieb der Staat auch aus seinem eigenen Interesse als Arbeitgeber heraus. Mit der Alphabetisierung war allerdings nicht automatisch der soziale Aufstieg verbunden; es handelt sich also in der vorhandenen Fachliteratur bei diesem Terminus um ein propagandistisches Losungswort aus der Epoche vor 1989.

Im dritten Teil referierten zwei Wissenschafter: Krzysztof Lesiakowski (IPN Lódź) stellte das Verhältnis des Sicherheitsdienstes zu den Arbeiter in Łódź zwischen Dezember 1970 und Februar 1971 dar. Der Referent ging dabei ereignisgeschichtlich vor und zeigte auf, wie deutlich die Grenzen der Sicherheitsdienste dank zivilgesellschaftlicher Kräfte in der Łódźer Arbeiterschaft gezeichnet waren. Die Schlussfolgerung seines Vortrags war, dass der Sicherheitsdienst die Intelligenz und nicht die Arbeiter beobachtet habe, der Feind also in der ersten Gruppe gesucht und gefunden worden sei. Proteste hingegen gingen 1970 tatsächlich von den Arbeitern aus. Jarosław Neja (IPN Kattowitz / Katowice) zeichnete anhand der Materialien des Sicherheitsdienstes ein Bild der Arbeiterschaft in der Woiwodschaft Kattowitz im Jahr 1980. Die meisten oberschlesischen Industriebetriebe gehörten zur Schlüsselindustrie Volkspolens und standen daher unter ständiger Beobachtung der sog. Agentur des Sicherheitsapparates, auch schon vor 1980. Dennoch gelang es dem in diesen Betrieben ansässigen Sicherheitsdienst im August 1980 nicht, die oberschlesischen Arbeiter gegen die Danziger Werftarbeiter auszuspielen, was als Präventivmaßnahme des Sicherheitsdienstes geplant war. Hier setzte sich die offizielle Partei-Politik durch - ein unmittelbarer Hinweis auf die Machtverhältnisse innerhalb des herrschenden kommunistischen Gesamtsystems, d. h. auf das Verhältnis des Sicherheitsapparates zur herrschenden Arbeiterpartei. Die Ursachen der Konflikte in Kattowitz waren im Sommer 1980 nicht neu, sie brachen in den Betrieben aus, wo man Stimmen und Handlungen der Unzufriedenheit bereits 1979 notiert hatte.

Die Diskussion, geführt von Antoni Dudek (IPN Warschau / Warszawa), machte deutlich, dass die Konferenz einen Versuch darstelle, die Historiker des IPN - die mit den spezifischen Akten des kommunistischen Sicherheitsdienstes arbeiten - mit denjenigen Historikern in einen Dialog zu bringen, die nach wie vor hauptsächlich in den Staatsarchiven ihre Quellen suchen. Die sehr soziologisch geprägten Fragestellungen machten es allerdings schwer, sich auf die methodischen Konflikt- und Schnittstellen zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften zu konzentrieren. Es zeigte sich eine zusätzliche Differenz in der zeithistorischen Forschung in Polen, die zwischen der historischen Soziologie und der „reinen“ Geschichte zu verzeichnen ist. Die Ursache dieser Differenzen liegt, wie im Rahmen der Konferenz deutlich wurde, ebenfalls in der Frage nach Quellen und ihrer Interpretation.
Abschließend bleibt festzustellen, dass es während der Konferenz nicht gelang, einen roten Faden in der Frage nach der Methodik der zeithistorischen Geschichtsforschung in Polen zu ziehen. Mit Sicherheit war dieser Versuch aber wichtig, denn er zeugt vom Bestreben in der polnischen Wissenschaftswelt, eine unabhängige, methodologisch gesicherte und interdisziplinäre Forschung betreiben zu wollen.


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Polish
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