Deutsche Eliten in Übersee, Teil II (19./20. Jahrhundert)

Deutsche Eliten in Übersee, Teil II (19./20. Jahrhundert)

Organisatoren
Markus A. Denzel (Leipzig/Bozen); Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V.; Institut für personengeschichtliche Forschung (Bensheim)
Ort
Büdingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2005 - 19.03.2005
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Von
Alexandra Raack, Universität Leipzig

Die 42. und 43. Büdinger Gespräche 2004 und 2005 beschäftigten sich mit der Geschichte der "Deutschen Eliten in Übersee". Während der Schwerpunkt der letzten Gespräche in der Frühen Neuzeit lag, so befanden sich zur diesjährigen Tagung Beiträge im Mittelpunkt des Interesses, die sich mit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert auseinandersetzten.

Im eröffnenden Vortrag "Die deutsche ‚Kolonie' in Paris: Imperiale Engagements deutsch-jüdischer Bankiers 1860-1875" stellte Prof. Dr. Dieter Brötel (Ludwigsburg) die Beteiligung deutscher Privatbankiers an der Entwicklung der Pariser Haute Banque zwischen 1812 und den 1860er Jahren heraus. Die Tätigkeitsfelder reichten von der Finanzierung des Asienhandels über das koloniale Hypothekenwesen (Réunion), die Beteiligung an Minenkonzessionen (Madagaskar und Algerien), die Platzierung von Anleihen (Tunesien und Ägypten), die Vermögensverwaltung für indigene Eliten und die Gründung und Leitung peripherer Wirtschaftsunternehmen bis hin zur Verlegung des Europa mit den USA verbindenden Transatlantikkabels. Die dabei gesammelten Erfahrungen schlugen sich u.a. in der Asien- bzw. Überseestrategie der Deutschen Bank nieder.

Prof. Dr. Bert Becker (Hongkong) beschäftigte sich in seinem Vortrag "Das deutsche Hongkong - Informal Empire und partizipierender Kolonialismus vor dem Ersten Weltkrieg" mit der speziellen Form kolonialer Herrschaft der deutschen Kaufmannschaft in Hongkong. Obwohl die Deutschen dort keine zentralen Hoheitsfunktionen wie Besteuerung, Rechtssprechung, Polizei- oder Militärgewalt ausübten, erarbeiteten sie sich durch ihr investitionsfreudiges Engagement, den Einzug in die Handelskammer, Kapitalbeteiligungen an bedeutenden englischen Unternehmen und die starke Präsenz auf dem Hongkonger Markt eine besondere Form der wirtschaftspolitischen Mitwirkung am Kolonialregime. Als so genannte partizipierende Kolonialisten trugen die Deutschen damit nicht nur zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen des Deutschen Reiches in China, sondern auch zur Stabilisierung des britischen informal empire in Südchina bei.

Ebenfalls um die Beteiligung von Deutschen bei der Entstehung von informellen Kolonien ging es im letzten Vortrag des ersten Tagungstages mit dem Titel "Deutsche als Eliten im Lateinamerika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Typen und paradigmatische Lebensgeschichten" von Prof. Dr. Michael Zeuske (Köln). Dabei wurden beispielhaft für das Verhalten und die Rückwirkungen deutscher Eliten in den Kolonien, die - streng genommen - weder als "deutsch" noch als "elitär" anzusehen seien, zum einen Alexander von Humboldt und zum anderen deutsche Kaufleute zwischen 1820 und 1880 herangezogen. Beispiele wie die Fähigkeit der Deutschen, sich relativ schnell sprachlich anzupassen, eher Mischehen einzugehen oder auch Kleinkredite an Einheimische zu vergeben, zeugten von einer Tendenz der Deutschen, weniger und geringere Grenzen zu anderen Menschen (z.B. Einheimischen, anderen Europäern) in Lateinamerika zu ziehen als Vertreter anderer europäischer Staaten zu dieser Zeit. Kuba und Venezuela dienten aufgrund ihrer starken Unterschiede hinsichtlich geographischer Lage und dem Vorhandensein von landwirtschaftlich genutztem Hinterland im Weiteren als Illustration dieser Anpassungsfähigkeit und als Grundlage für eine Typisierung. So ließen sich auf Kuba aus Kapitalmangel nur wenige deutsche Kaufleute nieder, während sich Deutsche in Venezuela am Aufbau von Infrastruktur und Kaffeeimperien beteiligen.

Nach dem Ende des Tagungsprogramms des ersten Tages nutzte der Tagungsleiter, Prof. Dr. Markus A. Denzel (Leipzig/Bozen), den Rahmen des Empfangs durch S.D. Fürst und Fürstin Ysenburg zu Büdingen und dankte beiden für die Unterstützung und die Gastfreundschaft für die Dauer der Tagung.

Den zweiten Tagungstag eröffnete Prof. Dr. Eckhart Franz (Darmstadt) mit seinem Vortrag "Freiheit jenseits des Meeres. Hessische Polit-Emigration nach Übersee im 19. Jahrhundert", in dem es um die vorwiegend wirtschaftlich-sozial und politisch motivierte Auswanderung hessischer Untertanen vornehmlich nach Nordamerika ging. Die Ziele dieser Auswanderungsbewegungen lagen zum einen in Deutschland selbst - beispielsweise in der Verhinderung einer durch die zunehmende Proletarisierung drohenden Revolution in Deutschland durch das öffentliche Werben für Auswanderung - und zum anderen in Übersee, wo man gerade nach dem Scheitern der Revolutionen von 1830 und 1848/49 idealtypische Staaten bzw. Gemeinschaften aufbauen wollte, die aber alle fehlschlugen. Eine bedeutende Rolle spielten in diesem Zusammenhang die korporativ ausgewanderten Hessen, wie zum Beispiel die von Paul Follen und seinem Schwager Friedrich Münch gegründete "Giessener Auswanderungsgesellschaft", die 1834 in zwei Transporten über 500 Auswanderungswillige nach Amerika brachte, um in Missouri eine Kolonie zu gründen.

Der Vortrag von Dr. Thorsten Altena (Münster) zum Thema "Von den ‚Stillen im Lande' zur Elite? Überlegungen zu einer Standortbestimmung von protestantischen Missionaren in ‚Heimat' und ‚Missionsfeld'" wurde krankheitsbedingt freundlicherweise von seinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Horst Gründer (Münster) vorgetragen. Er ging der Frage nach, ob die relativ homogene Gruppe protestantischer Missionare aus dem deutschsprachigen Raum, die während der deutschen Kolonialzeit in den afrikanischen Kolonien arbeiteten, als Elite bezeichnet werden könne. Ausgehend von gängigen, soziologisch basierten Elitedefinitionen wurde dargestellt, dass die Missionare sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in ihren Missionsgebieten in komplexen sozialen Umfeldern eingebunden waren, in denen sie jeweils unterschiedliche Funktionen übernahmen. Dementsprechend könne die Frage nach Elite und Elitenzugehörigkeit nur im Zusammenhang mit der jeweiligen sozialen Rolle in Herkunftsland und Missionsgebiet geklärt werden, was zu einem differenzierten, situationsabhängigen Elitenbegriff führte, der verkürzende Verallgemeinerungen vermeidet und trotzdem eine angemessene Zahl von Definitionsvarianten einschließt.

Der Abendvortrag stand unter dem Titel "Eliten in Elysium? Anmerkungen zur deutschen und indigenen Kolonial‚elite' vor dem ersten Weltkrieg". Der Referent, Herr Prof. Dr. Hermann Hiery (Bayreuth), thematisierte darin die deutsche Kolonialelite in der Südsee. Insbesondere deutsche Eliten nutzten die Arbeit in den deutschen Kolonien für einen sozialen Aufstieg. So waren von den vierzig bis 1914 in den Kolonien tätigen deutschen Gouverneuren etwa 60 Prozent bürgerlicher, nur 35 Prozent adliger Herkunft. Im Gegensatz dazu waren in vergleichbaren englischen Kolonien fast ausschließlich (97 Prozent) Adlige als Gouverneure eingesetzt worden. Auffallend viele der deutschen Gouverneure hatten studiert, viele sogar promoviert, was auf den enormen Bedarf an qualifiziertem Personal in den überseeischen Gebieten zurückzuführen sei. Als Belege für die Nutzung dieser Aufenthalte in den Südsee-Kolonien für einen sozialen Aufstieg in Deutschland diente beispielsweise der Gouverneur von Samoa, Wilhelm Solf, der später Leiter des Reichskolonialamtes, der erste Außenminister der Republik und erster Botschafter in Neuseeland wurde. Bei den einheimischen Eliten wurden zwei Gruppen herausgearbeitet. Die traditionellen Eliten, Chiefs, die in ihrer sozialen Position verharrten, übernahmen oft Merkmale und Moden der europäischen Eliten wie Zylinder oder Anzug. Die nicht traditionellen Eliten rekrutierten sich aus neuen Berufen, die sozialen Aufstieg ermöglichten, wie beispielsweise Matrosen, Polizisten oder Telefonvermittler. Das Leben in den Kolonien sei legerer und auch moralisch weniger zwanghaft als in Deutschland gewesen. Das Zusammenleben mit einheimischen Frauen, daraus resultierende Kinder oder Übergriffe auf junge Mädchen führten zwar auch zu Ausweisungen, wurden aber toleriert, wenn es politisch opportun war. Davon waren auch die Missionare nicht ausgeschlossen, für die geeignete Quellen nur in beschränktem Maße vorliegen, da die Daten von ausgetretenen Missionaren später gelöscht wurden.

Dr. Wolfgang Tischner (Leipzig) eröffnete mit seinem Vortrag "Eliten im Neuseeland des 19. Jahrhunderts" den dritten Tagungstag. Die europäische Besiedlung Neuseelands hatte erst relativ spät im 19. Jahrhundert eingesetzt. Einige Missionare waren es, die in einer ersten Phase zwischen 1820 und 1840 (Vertrag von Waitangi) nach Neuseeland kamen. Danach spielte insbesondere für die Briten die Schließung der Sicherheitslücke vor Australien eine Rolle, als sie friedliche Siedler nach Neuseeland schickten. Eine dritte Phase, die besonders durch von den Briten subventionierte Infrastruktur- und Einwanderungsprogramme gekennzeichnet war, setzte mit den Maori-Kriegen der 1860er Jahre ein und endete mit der Umwandlung in ein Dominion 1907 bzw. der Einführung der neuseeländischen Staatsangehörigkeit im Jahre 1948. Dementsprechend spielten Deutsche - oder besser solche Europäer, die von den Maori als "Deutsche" bezeichnet wurden - in der Gesellschaft Neuseelands eine gegenüber den Briten untergeordnete Rolle. Unter den deutschen Eliten waren beispielsweise viele protestantische Pfarrer und Missionare, Unternehmer, Künstler und auch Wissenschaftler und Hochschullehrer. Hervorzuheben ist aber, dass diese "Eliten" meist nur eine begrenzte, relativ kurze Zeit in Neuseeland blieben, bevor sie entweder nach Europa zurückkehrten bzw. in weitere Kolonien zogen. Ebenso wie im Vortrag von Dr. Altena konnte auch hier herausgearbeitet werden, dass die eingewanderten Europäer durch die Übernahme von neuen Funktionen in Neuseeland oft einen sozialen Aufstieg erlebten. Die deutsche Einwanderung fand in Neuseeland mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Ende, als die Benachteiligung neuseeländischer Handelsunternehmen und die deutsch-englische Rüstungspolitik ein Erstarken des neuseeländischen Nationalgedankens mit sich brachten, was sich trotz sehr starker Anpassungsreaktionen von Deutschen oder deutschstämmigen Neuseeländern in Anfeindungen oder der Entlassung aus dem Militärdienst widerspiegelte.

Der letzte Vortrag der Tagung von Priv.-Doz. Dr. Joachim Oesterheld (Berlin) mit dem Titel "Zum Spektrum deutscher Eliten im kolonialen Indien - Tätigkeitsfelder, Wahrnehmungen und Erfahrungen" beschäftigte sich mit wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und diplomatisch-politischen deutschen Eliten in Indien zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Unter deutschen Wissenschaftlern waren es vor allem Vertreter der Völkerkunde, der Geschichte, aber auch der Medizin, der Chemie, der Forstwirtschaft und der Architektur, die sich zu Forschungsaufenthalten von unterschiedlicher Dauer in Indien aufhielten und auch teilweise in britischen Diensten standen. Damit eng verbunden waren die wirtschaftlichen Beziehungen zu Indien, die mit deutschen Ingenieuren und Vertretern großer Industrieunternehmen verbunden waren, nahm Deutschland doch im Handel mit Britisch-Indien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges den zweiten Platz hinter Großbritannien ein. Auf der diplomatisch-politischen Ebene waren es insbesondere die konsularischen Beziehungen deutscher Fürsten- und Königshäuser und der Freien Hansestädte, die bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden hatten und ab 1871 durch Generalkonsulate ersetzt wurden. Nach 1933 bestand der Hauptteil der deutschen Auswanderer nach Indien dann vor allem aus Ärzten, Wissenschaftlern, Technikern und Künstlern, die Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei aufgrund politischer Probleme verlassen mussten und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zumeist in ihre Heimat zurückkehrten.

Mit diesem Beitrag wurden die Büdinger Gespräche zum Thema "Deutsche Eliten in Übersee" beendet. Die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge der 42. und 43. Büdinger Gespräche ist im Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen, für das Jahr 2006 vorgesehen. In den beiden nächsten Jahren stehen "Die religiösen und konfessionellen Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten" im Zentrum der Erörterungen. Der für den ersten Teil dieses Themas vorgesehene Termin ist der 6.-8. April 2006.


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