Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung

Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung

Organisatoren
Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.03.2005 - 18.03.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Christine Schönebeck, Bottrop; Sabine Trosse, Kassel

Beim achten Treffen stand ein Jubiläum an: Das "Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung" besteht nunmehr seit zehn Jahren. Die Gründung initiierten Jutta Dornheim und Eberhard Wolff beim 30. Volkskundekongress in Karlsruhe. Im gleichen Jahr brachten die beiden die erste Ausgabe der Broschüre "Gesundheit und Kultur. Forschende, Projekte, Interessengebiete" am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, heraus. Mittlerweile erscheint die Reihe am Bremer Institut für Kulturwissenschaft unter Federführung von Rainer Alsheimer. Charakteristisch für das Netzwerk und die Arbeitstreffen ist zum einen der interdisziplinäre Ansatz. Zum anderen findet der Austausch zu laufenden Forschungsprojekten statt und vermittelt dadurch die neuesten methodischen, theoretischen und empirischen Ansätze.

In diesem Jahr wurde das Arbeitstreffen von Michael Simon (Mainz) und Eberhard Wolff (Zürich/Basl) organisiert. Es trafen sich rund dreißig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Volkskunde, Geschichtswissenschaft und Pädagogik, Psychoanalyse, Medizin, Pflegedienst und Physiotherapie in Würzburg. Die Vorträge und Diskussionen waren geprägt von der Frage nach der ethischen Verantwortung des wissenschaftlichen Arbeitens. Inhaltlich und methodisch überwog ein volkskundlich-kulturhistorischer Ansatz. Er zeigte sich in der Alltagsorientierung der Themenwahl, im Begriff der Lebenswelt und in der Einbettung medizinisch-therapeutischer Praktiken in einen kulturellen und historischen Kontext. So findet mittlerweile auch der seit einigen Jahren geforderte, patientenorientierte Ansatz Anwendung. Außerdem werden in den aktuellen Arbeiten weitere Akteure als "Betroffene" einbezogen und damit beide Seiten, die Seite der Heiler/Heilberufe und die Seite der Patienten, gemeinsam betrachtet. Patienten, Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten werden analytisch nicht mehr in Opposition zueinander gebracht, sondern in ein System gestellt.
Im Gegensatz dazu wurde in den Diskussionen deutlich, dass die wissenschaftliche Haltung gegenüber den Akteuren in diesem System noch ungeklärt ist. Die Grundfrage besteht darin, ob Wissenschaft einen gesellschaftlichen Nutzen haben muss oder ob sie Distanz halten und gesellschaftlichen Wandel nur beobachten oder dokumentieren soll, sich aber nicht einmischen darf.

In den ersten historisch ausgerichteten Referaten wurde mit strategischen Quellen gearbeitet. Die Probleme damit führten zu fruchtbaren Diskussionen und verwiesen darauf, dass aus dem Umgang mit Begrifflichkeiten im historischen Kontext und im aktuellen wissenschaftlichen Handeln eine gesellschaftlich relevante Definitionsmacht erwächst.

Einblicke in die Forderung von Ärzten an die "Krankenpflege im 18. Jahrhundert" gab Bettina Blessing (Regensburg). Ihre Quellenbasis ist die zeitgenössische Krankenwärterliteratur, die vor allem das schlechte Ansehen der Krankenpflege zum Ausdruck bringt. Dies veranlasste die Ärzte, konkrete Anweisungen für die Pflege zu geben, beispielsweise zur Gestaltung des Krankenlagers, und diese nicht nur den - selten ausgebildeten - Wärtern und Wärterinnen, sondern auch den pflegenden Angehörigen zur Verfügung zu stellen.

Die Etablierung professionell-medizinischer Schwangerenbetreuung schilderte Marion Stadlober-Degwerth (Regensburg) in ihrem Beitrag über die "Konstruktion und Wahrnehmung von Arbeit und Raum - Die Gebäranstalt am Sinngrün (1821 - 1921)". Den Schwerpunkt setzte sie auf die Konkurrenzsituation zwischen Ärzten und Hebammen. Sie berichtete über die Polemik, mit der der Arzt Alois Ziegler dem Ansehen der Kindbettstuben schaden wollte, um seine Gebäranstalt einrichten zu können. Seine Strategie war erfolgreich, auch wenn dadurch die Versorgungsqualität der Schwangeren abnahm.

Über "Die medizinische Sammlung des Stadtmuseums Gütersloh: Entwicklung - Positionen - Perspektiven" referierten Norbert Ellermann und Martin Wedeking (Gütersloh), indem sie das Ausstellungskonzept sowie die Ausstellungs- und Museumspädagogik erläuterten. Die Dauerausstellung präsentiert eine medizinhistorische Übersicht und gibt Einblick in den historischen Alltag eines Allgemeinmediziners, Zahnarztes und Apothekers. Didaktisch erschlossen werden die historischen Zusammenhänge zum einen durch erlebnispädagogische Aktionen für Besuchergruppen jeder Altersstufe, zum anderen durch ein selbstevidentes Ausstellungskonzept, dass einzelnen Besuchern ermöglicht, sich die Inhalte eigenständig zu erschließen.

Dagmar Hänel (Bonn) trug "Überlegungen zur Bedeutung des Monströsen. Zur Normalität des gesunden Körpers und dem Umgang mit Normbrüchen" vor. In einem kursorischen Überblick über mehrere Jahrhunderte fragte sie, wie mit der Abweichung von üblichen Körpermaßen oder dem Überschreiten von Artgrenzen und gesetzten Tabus umgegangen wurde. Sie zeigte, dass in Medizin, Theologie und Jurisprudenz darüber ein jeweils eigener Diskurs entstand, in dem den Monströsitäten eine Zeichenhaftigkeit für Korrekturbedürftigkeit des Körpers, Sündhaftigkeit des Menschen oder kriminelle Abweichung unterlegt wurde. Zugleich illustrierte Hänel anhand von zahlreichen Beispielen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, dass die Thematisierung des Monströsen Indikatorfunktion für gesellschaftliche Wandlungsprozesse hat.

Susanne Ude-Koeller arbeitet zu ethischen Fragen im Fachbereich Medizingeschichte (Göttingen). Daraus erwuchsen auch ihre Forschungen zum Thema "Intersexualität - Wissenschaftliche Rezeption und gesellschaftlicher Diskurs". Nachdem im Allgemeinen Landrecht erst im Alter von 18 Jahren der Betroffene selbst entschied, welchem Geschlecht er sich zuordnen wollte, fordert das Gesetz heute, dass binnen 14 Tagen nach der Geburt festgelegt werden muss, ob das Kind dem männlichen oder weiblichen Geschlecht angehören soll. Zugleich empfiehlt die Medizin eine entsprechende operative Anpassung. Demgegenüber unterstelle man seit den 1960er Jahren zunehmend, dass Geschlecht nicht biologistisch determiniert, sondern als Rolle im kulturellen Kontext erlernt wird. Aktivisten fordern daher abzuwarten, während die Medizin argumentiert, die Gesellschaft sei für Intersexualität noch nicht bereit.

Auf den medizinischen Diskurs zielte der Vortrag von Julia von Hajek (München) "Zur technischen Herstellung des ,natürlichen' Körpers - Schönheitsoperationen aus medizinsoziologischer Perspektive". Sie grenzt sich ab von den bisherigen feministischen Ansätzen, die Schönheitsoperationen auf geschlechtsspezifische Machtkonstruktionen zurückführen. Von Hajek möchte sie als Körperpraktik verstanden wissen und verweist auf ihren Natürlichkeitsanspruch. Ihr Ziel sei nicht ein besonderer Körper, sondern ein "normaler", dem der chirurgische Eingriff nicht anzusehen ist. Dahinter stünde eine moderne Machbarkeitsidee, die Medizin und Gesellschaft durchziehe. Sie stellt die ärztliche Tätigkeit auf eine neue Basis, indem sie sie auch für das "gesellschaftliche Wohlbefinden" zuständig macht, dabei aber nicht klärt, was Wohlbefinden, Krankheit oder Normalität ist.

Wie sich Schönheitsideale bei Frauen konstituieren, will Sarah Dangendorf (Bremen) erforschen. In ihrem Beitrag "Wa(h)re Schönheit. Zu Identitäten und Körperpraxen junger Mädchen in der frühen Adoleszenz" erläuterte sie, dass sie 10- bis 13-jährige Mädchen beobachten und dazu befragen möchte, wie sie sich ernähren und bewegen. In diesem Alter - so Dangendorf - würden die Jugendlichen gesellschaftliche Stereotypen zumeist unreflektiert übernehmen, weil sie sie im Prozess der Identitätsfindung als Leitorientierung benötigten. Ihr Dissertationsvorhaben zielt auf die Frage nach dem Status von Körper und Schönheit in der Postmoderne, in der nicht mehr die Zeichen von geleisteter Arbeit anerkannt würden, sondern Schönheit zu einem "persönlichen Projekt" geworden sei.

Bernd Rieken (Wien) ist zugleich Psychoanalytiker und Volkskundler. Aus dieser Warte heraus stellte er seinen Vortrag unter die Überschrift ",Aberglaube' und Magie im psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontext. Vom Nutzen der Volkskunde für die psychoanalytische Praxis". An einem Fallbeispiel zeigte er: Was als schwere Störung der Alltagsbewältigung diagnostiziert werden kann, erweist sich bei Beachtung des historischen und kulturellen Kontextes in der psychoanalytischen Praxis keineswegs als pathologisch. Deutlich wurde, dass die Psychoanalyse auf die westliche Kultur zugeschnitten ist und das Ziel der Ich-Stärke verfolgt, während östliche Kulturen stärker das "Wir" betonen.

Nicholas Eschenbruchs (Freiburg/Br.) Vortrag ";Keine Modelleinrichtung'. Ethische und ethnographische Probleme mit dem Pflegealltag eines Altenheims" beruhte auf ethnographischen Tagebüchern, die er "zu Übungszwecken" während einer Tätigkeit als Hilfspfleger in einem Altenpflegeheim erstellt hat. Eschenbruch konstatierte zunächst den Pflegenotstand, in dem den Patienten Selbstbestimmung verweigert wird, das Personal überlastet ist und der Pflegeberuf kaum auf gesellschaftliches Interesse stößt. Pflege sei dennoch ein kultur- und sozialanthropologisches Thema. Gerade hier, wie ähnlich auch bei anderen Beiträgen, entzündete sich eine Diskussion um die Frage der Verantwortung, die Wissenschaft gegenüber einem Forschungs"objekt" Mensch und gegenüber der Gesellschaft hat.

Aus gänzlich anderer Perspektive entwickelte Angelika Ramsperger (Bremen) ihren Vortrag. Sie ist Physiotherapeutin und baut zwei Weiterbildungsinstitute in Sachsen auf. Unter dem Titel "Physiotherapeutischer Befund und Therapieplanung im Kontext der Lebenswelt der Patienten" zeigte sie, wie sie vor dem Hintergrund ihres abgeschlossenen kulturwissenschaftlichen Studiums die volkskundlichen Ansätze in ihrer physiotherapeutischen Praxis anwendet. So zielt ihr Behandlungskonzept für bewegungsgestörte Kinder darauf, Körpererfahrung zu ermöglichen und Selbstbestimmung zu stärken. Um den Kapazitäten und Bedürfnislagen des Kindes gerecht zu werden, ist es erforderlich, die individuelle Lebenswelt des Kindes zum Ausgangspunkt der Therapie zu nehmen.

Auch bei den letzten beiden Beiträgen war der Wunsch nach helfendem Forschungshandeln offensichtlich. Von ihrem Dissertationsvorhaben zum "Rauchen - zwischen Krankheit und Kultur" berichtete Anke Lipinsky (Bonn). Ins Zentrum ihres Vortrags stellte sie zunächst die Forschungsgeschichte, bei der die Produkt- und Konsumgeschichte bislang im Vordergrund stand. Lipinsky zielt dagegen auf eine Konsumentengeschichte und greift damit die Ansätze von Tolksdorf und Alsheimer aus den 1990er Jahren auf. Durch Beobachtung und Befragung insbesondere von Lehrern und Ärzten möchte sie nicht nur erfahren, wie geraucht wird, sondern offenbar auch ein gesundheitspolitisches Bewusstsein schärfen helfen.

Mit ähnlich pädagogischer Ausrichtung arbeitet die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Seltrecht (Wiesbaden/Frankfurt/M.) an ihrer Dissertation. Sie nutzt dabei ihre Erfahrungen aus der Tätigkeit in der klinischen Onkologie. Seltrecht fragt, ob die Krise einer Krebserfahrung gesteigerte Lernformen ermögliche. Unter dem Titel "Biographische Relevanz einer Krebserkrankung: subjektives Erleben und öffentliche Zuschreibung" machte sie darauf aufmerksam, dass die Krebserkrankung nicht immer alle anderen Aspekte des Lebens überlagert und damit keineswegs so dominant ist, wie die massenmediale Darstellung dies suggeriert.

Die anschließende Diskussion drehte sich besonders um die Frage nach der Haltung und Motivation derer, die die Forschung betreiben. Einigkeit bestand darüber, dass die subjektiven Faktoren im Forschungsprozess eine entscheidende Bedeutung haben. Uneinigkeit bestand jedoch darüber, wie weit diese Faktoren offen gelegt werden sollten: Ist es im Rahmen einer Tagung oder einer Forschungsarbeit unabdingbar, auch intimste Bereiche der eigenen Erfahrung offen zu legen?

Ähnliche Polaritäten kristallisierten sich in der Abschlussdiskussion in Bezug auf die generelle Rolle der Forschenden in der Gesellschaft heraus: Sollen sie das Handeln der Akteure bewerten und eine gesellschaftspolitische Wirkung anstreben? Diese engagierten Diskussionen zeigen, dass bei der Tagung nicht nur Ergebnisse präsentiert, sondern vor allem "works in progress" zur Debatte gestellt worden sind. In seltener Einigkeit kam dabei der volkskundliche Ansatz zum Ausdruck und das Interesse an einer Klärung der ethischen Verantwortung.


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