Economic Nationalism in East Central Europe

Economic Nationalism in East Central Europe

Organisatoren
Europa-Universität Viadrina- Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit und VolkswagenStiftung, Frankfurt (Oder)
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2005 - 19.03.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Angela Harre, Lehrstuhl fuer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit, Europa-Universitaet Viadrina

Einleitung
Leider geht es auf vielen Konferenzen häufig nicht nur darum Wissen auszutauschen, sondern sie arten oft in einen verbalen Schlagabtausch unter Kollegen und Kolleginnen aus. Die Konferenz Economic nationalism in East Central Europe war jedoch eine erfrischende Ausnahme. Das lag zum einen an der Persönlichkeit ihrer Initiatorin Helga Schultz, zum anderen am organisatorischen Talent von Kathrin Göritz, die schon im Vorfeld für einen reibungslosen Ablauf sorgte. Auch die Internationalität der Teilnehmer - unter ihnen bedeutende Wissenschaftler wie Ivan T. Berend, das Ehepaar Alice und Mikulas Teich(ova) und Joseph L. Love - und das Alter bzw. die Position dieser Referenten, die es ihnen erlaubten, gelassener auf das Leben zu schauen, werden ihren Anteil an der fast freundschaftlichen Atmosphäre gehabt haben. Der einzige Schatten war die kurzfristige Absage dreier wichtiger Fachkollegen (Henryk Szlajfer, Jean Batou und Thomas David). Dies wird der Veröffentlichung ihrer Beiträge im Konferenzband aber nicht im Wege stehen.

Die Konferenz war gleichzeitig die Abschlusskonferenz eines gleichnamigen Forschungsprojektes der VW-Stiftung und ein Vortreffen zum Kongress der Wirtschaftshistoriker in Helsinki (Sommer 2006), auf dem dem Wirtschaftsnationalismus eine eigene Sektion eingeräumt wird.

Leitende Fragestellungen
Die zentrale Frage war, ob man - im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsnationalismus - von einer typisch osteuropäischen Wirtschaftskultur sprechen kann. Werner Abelshauser1 unterschied vor kurzem zwischen einer angloamerikanischen, auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftskultur und ihrer europäisch-rheinischen Alternative, in der die Nachhaltigkeit im Vordergrund steht. Osteuropa - so viel steht fest - wählte keinen dieser Wege. Vielmehr scheint östlich der Elbe die Betonung bis heute auf der nationalen Wohlfahrt zu liegen, der sich alle ideologischen Strömungen (vom Nationalkommunismus bis zum Neoliberalismus) unterordnen müssen (Helga Schultz)2.

Auch wenn die Frage der Wirtschaftskultur nicht endgültig beantwortet werden konnte, stimmten die Teilnehmer darin überein, dass das osteuropäische Wirtschaftsdenken einer eigenen Dynamik unterworfen sei und das Anwenden westlicher Schemata in die Irre führe. Westliche Ideen werden hier nicht einfach kopiert, sondern integriert, verworfen, transformiert und mit regionalen Fragestellungen angereichert (Berend, Ivan T. / Teichova, Alice / Köll, Anu-Mai)3. Vor allem der Wirtschaftsnationalismus diente als Grundlage vieler fruchtbarer Ideen, angefangen von den Dependenztheorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch nach Lateinamerika und die Vereinigten Staaten ausstrahlten, bis hin zu Theorien des Dritten Weges (Love, Joseph L. / Lazarevic, Zarko / Harre, Angela)4.

Theoretische Aspekte
Der osteuropäische Wirtschaftsnationalismus muss als komplexes Phänomen von langer Dauer betrachtet werden (Schultz, Helga). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formte er sich aus der jeweiligen Nationalbewegung und dem wachsenden Bewusstsein wirtschaftlicher Rückständigkeit. Der Zusammenbruch des alten Europa nach dem Ersten Weltkrieg und die Wirren der Zwischenkriegszeit machten die Region schließlich zu einem "hotbed, where economic nationalism ran wild" (Berend, Ivan T.).

Der Wirtschaftsnationalismus stand der westeuropäischen Wirtschaftsexpansion als eine nationale Verteidigungsstrategie gegenüber, aus der die Angst sprach, dass wirtschaftliche Abhängigkeit zu politischer Unterdrückung führen würde. In der Folge wandten sich die Länder einer protektionistischen Wirtschaftspolitik zu, die den Versuch der Verdrängung ausländischen Kapitals und die Diskriminierung ethnischer Minderheiten ebenso beinhaltete, wie eine forcierte Industrialisierungspolitik und Wirtschaftsplanung.

Für eine eigene osteuropäische Wirtschaftskultur spräche, dass der Wirtschaftsnationalismus holistisch betrachtet werden muss. Er verband Wirtschaft und Politik zu einem Modernisierungsprogramm, das den Völkern zu nationaler Wohlfahrt verhelfen sollte. Kollektive (nationale) Interessen wurden über individuelle Profitmaximierung gestellt. Ziel war die Unabhängigkeit und Einheit der Nation - in jeder Hinsicht (Schultz, Helga). Die Betonung kollektiver Interessen und die zunehmende "Rettung" in die Wirtschaftsplanung - vor allem im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise - lies einige Teilnehmer vermuten, dass auch die kommunistische Planwirtschaft nicht einfach unter russischem Zwang errichtet wurde - wie es die heutige Historiographie in der Region so gern darstellt - sondern an zahlreiche Kontinuitäten der Zwischenkriegszeit anknüpfen konnte (Albrecht, Catherine / Kubu, Eduard / Pogany, Agnes)5. Der Kommunismus hätte den Wirtschaftsnationalismus lediglich in ein neues Licht gestellt, statt ihn zu verdammen (Berend, Ivan T. / Harre, Angela).

Ideologische Grundlagen
Der Wirtschaftsnationalismus war eine klare Reaktion gegen den liberalen Freihandel, der spätestens ab den 1860er Jahren östlich der Elbe als imperialistisch gebrandmarkt wurde. Er stellte sich in die Tradition Johann Gottlieb Fichtes6 und Friedrich Lists7, der Erziehungszölle als einzigen Weg sah, eine nationale Industrie gegen die vernichtende Konkurrenz fortgeschrittener Industrieländer aufzubauen (Berend, Ivan T. / David, Thomas / Batou, Jean)8. Mihail Manoilescu9 entwarf seine Theorie des Protektionismus auf dieser Grundlage und stellte den (National-) Sozialismus der Nationen dem Klassenkampf Karl Marx' gegenüber (Love, Joseph L.). Das Beispiel dieses rumänischen Theoretikers, der als einziger noch zu Lebzeiten Weltruhm erlangte, zeigt auch, wie eine ganze Generation von Intellektuellen dem Faschismus verfiel und ein geistiges Klima des Autoritarismus in den Ländern Osteuropas verbreitete (Köll, Anu-Mai).

Roman Szporluk10 war der erste Wirtschaftshistoriker, der die unterschiedlichen Einflusssphären von Karl Marx und Friedrich List in Osteuropa verglich. Tatsächlich kann man von zwei Unterströmungen des Nationalismus sprechen. Die klassische Form ist die oben beschriebene, die sich an List orientiert, die Industrialisierung und den Protektionismus in den Vordergrund stellt und die politische Arena in den jeweiligen Ländern bis 1945 dominierte.

Der agraristische Flügel entwickelte sich dagegen aus dem russischen Marxismus, dessen typisch osteuropäische Form der Narodniki mit Hilfe der traditionellen Dorfgemeinschaften direkt vom Feudalismus zum Sozialismus übergehen wollte. Der tragende Pfeiler dieser Ideologie war der Genossenschaftsgedanke, der wiederum in einen strengen Nationalismus umschlug. Wichtige Vertreter waren der Rumäne Virgil Madgearu, der Bulgare Stambolijski und der Pole Edward Abramaowski. Anu-Mai Köll wies darauf hin, dass beide Flügel des Wirtschaftsnationalismus in den Autoritarismus der 1930er und 1940er Jahre führten - unabhängig von der Einmischung der europäischen Großmächte (Lorenz, Torsten / Köll, Anu-Mai / Harre, Angela)11.

Grenzen und Paradoxa
Trotz aller Konflikte entwickelte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges keine osteuropaeische Regierung einen "master plan", der die Wirtschaftskraft ethnischer Minderheiten vollkommen ruinieren sollte und vergleichbar mit der systematischen Ausgrenzung der Juden in den ersten Jahren des Dritten Reiches gewesen waere. Das Problem nationaler Wirtschaften in den osteuropäischen Kleinstaaten war, dass sie meist gar nicht auf die fremd-ethnische Wirtschaftskraft verzichten konnten, ohne sich selbst in den Ruin zu treiben. Andere Maßnahmen, die einem aggressiven Wirtschaftsnationalismus Grenzen setzten, waren internationale Abkommen, die Beteiligung ethnischer Minderheiten am politischen Leben - so eingeschränkt sie auch immer gewesen sein mag - und die Tatsache, dass all diese Länder inzwischen zu Rechtsstaaten geworden waren. Gefährliche Züge nahm der Wirtschaftsnationalismus erst mit dem zunehmenden Wegfall dieser Hemmnisse in den 1930er Jahren an, die zu den bekannten Auswüchsen vor allem des Antisemitismus, aber auch zu Massenvertreibungen und Massakern führten (Boyer, Christoph)12.

Die große Frage, die sich durch die Analyse des Wirtschaftsnationalismus hindurch zieht, ist die nach den Ursachen wirtschaftlicher Rückständigkeit. Und hier taten sich schon vor 1918 zahlreiche Paradoxa auf. So wurden regionale Unterschiede in der Wirtschaftskraft in mehr oder weniger homogenen Nationalstaaten ignoriert, in den multi-ethnischen Großreichen vor 1918 dagegen nicht. Widersprüchlich sind auch die Beschwerden kleinerer Völker über die Ignoranz der imperialen Zentren gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer "nationalen" Territorien. Gleichzeitig bedeutete die Modernisierung dieser "nationalen" Territorien den Niedergang der traditionellen Wirtschaftsformen, der von denselben Personen hartnäckig bekämpft wurde (Müller, Uwe)13.

Ausblick
Die Frage nach einer eigenen osteuropäischen Wirtschaftskultur führte auch zu der Transformationszeit nach 1989 / 90, in der zahlreiche Eigentümlichkeiten des Wirtschaftsnationalismus wieder auftauchten. Das grausamste Beispiel stellt der Zerfall Jugoslawiens dar, der allerdings nur das Ende einer langen Reihe (auch wirtschaftsnationalistischer) Auseinandersetzungen war (Lazarevic, Zarko). Aber auch relativ erfolgreichen Ländern wie Polen sind nationalistische Wirtschaftspraktiken nicht unbekannt (Jajesniak-Quast, Dagmara)14.

Andere Referenten verwiesen auf die Wirkungslinien osteuropäischer Theoretiker nach Latein Amerika (Joseph Love). Wissenschaftler wie Raul Prebisch und André Gunder Frank, die die dependencia entscheidend prägten und ab den 1960er Jahren für eine Reform des Weltmarktes zu Gunsten der Dritten Welt eintraten, standen in der Tradition Mihail Manoilescus. Flüchtende Intellektuelle brachten osteuropäische Wirtschaftstheorien in den 1940er Jahren auch in den Westen, wie Helga Schultz am Beispiel Kurt Mandelbaums, Paul Rosenstein-Rodans und Alexander Gerschenkrons nachwies. Und schließlich berief sich Immanuel Wallerstein in seiner Weltsystemtheorie auf den Polen Marian Malowist, der - ganz im Sinne der alten Dependenztheorien Manoilescus u.a. - ein Peripherie-Modell für Osteuropa aufgestellt hatte.

Literaturverzeichnis
ABELSHAUSER, WERNER, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin 2003.
FICHTE, JOHANN GOTTLIEB, Der geschlossene Handelsstaat: Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politic, Jena 1800.
LIST, FRIEDRICH, Das nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart 1841.
MANOILESCU, MIHAIL, Die nationalen Produktivkräfte und der Außenhandel. Theorie des internationalen Warentausches, Berlin 1937.
SZPORLUK, ROMAN, Communism and Nationalism: Karl Marx versus Friedrich List, New York 1988.

Anmerkungen:
1 ABELSHAUSER, WERNER, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin 2003.
2 Vortrag: SCHULTZ, HELGA, Economic nationalism: the way of the concept.
3 BEREND, IVAN T., Economic nationalism - the historical roots / TEICHOVA, ALICE, Reflections on the transformation and heritage of the past inc entral and eastern Europe / KÖLL, ANU-MAI, Economic nationalism and agrarism.
4 LOVE, JOSEPH L., Flux and reflux: interwar and postwar structuralist theories of development in Romania and Latin America / LAZAREVIC, ZARKO, Economy and Nationalism in Yugoslavia / HARRE, ANGELA, Economic nationalism in interwar Romania.
5 ALBRECHT, CATHERINE, Cultural aspects in the economic struggle for national independence: the Bohemian case / KUBU, EDUARD, The policy of the Prague banks between panslavism and nationalism / POGANY, AGNES, The Hungarian case after Trianon.
6 FICHTE, JOHANN GOTTLIEB, Der geschlossene Handelsstaat: Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politic, Jena 1800.
7 LIST, FRIEDRICH, Das nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart 1841.
8 DAVID, THOMAS, Proto-economic nationalism in eastern Europe during the 19th century / BATOU, JEAN, Economic nationalism and globalization.
9 MANOILESCU, MIHAIL, Die nationalen Produktivkräfte und der Außenhandel. Theorie des internationalen Warentausches, Berlin 1937.
10 SZPORLUK, ROMAN, Communism and Nationalism: Karl Marx versus Friedrich List, New York 1988.
11 LORENZ, TORSTEN, Cooperatives as basic instruments of economic nationalism.
12 BOYER, CHRISTOPH, Nationality and competition: Czechs and Germans in the economy of the first Czechoslovak Republic (1918 - 1938).
13 MÜLLER, UWE, Regional policy in empires and nation states. East Central Europe before and after 1918.
14 JAJESNIAK-QUAST, DAGMARA, Foreign capital and foreign direct investment in the debates in Poland from interwar times until today.


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