From "milieu de mémoire" to "lieu de mémoire". Istanbul, Izmir and Athens as strongholds of transcultural societies in the 20th century

From "milieu de mémoire" to "lieu de mémoire". Istanbul, Izmir and Athens as strongholds of transcultural societies in the 20th century

Organisatoren
Dr. Ulrike Tischler; UP Drr. h.c. Harald Heppner, Universität Graz, Inst. f. Geschichte/ Südosteuropäische Geschichte; Mag. Reinhard Reimann (Graz); Büro für Internationale Beziehungen der Univ. Graz
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
09.06.2005 - 11.06.2005
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Von
Ulrike Tischler, Karl-Franzens Universität Graz

Zwischen 9. und 11. Juni 2005 wurde an der Universität Graz im Rahmen eines derzeit laufenden FWF-Projekts eine internationale Tagung mit Workshopcharakter unter dem Titel Vom «milieu de mémoire» zum «lieu de mémoire». İstanbul, Izmir und Athen als Zentren transkultureller Gesellschaften im 20. Jahrhundert veranstaltet. 16 WissenschaftlerInnen aus insgesamt sechs europäischen Staaten wirkten an dieser Veranstaltung aktiv als Vortragende und/oder Diskutanten (UP Dr. Fikret Adanir/Univ. Bochum u. Dr. Johann Strauss/Univ. Strasbourg) mit. Zu den TeilnehmerInnen zählten sowohl junge als auch bereits etablierte, international bekannte Wissenschaftler. Besonders wurde darauf geachtet Forscher aus Südosteuropa einschließlich der Türkei in die Tagung einzubeziehen und Kooperationen mit diesen durch vertiefenden wissenschaftlichen Austausch künftig zu forcieren.

Das Generalthema der Tagung beruhte auf dem französischen Wortspiel milieu de mémoire und lieu de mémoire des Historikers Pierre Nora, der damit die Verlagerung von einem Ort, an dem sich traditionale Lebensformen stabilisieren, zu einem Ort beschreibt, der nur noch die Spuren eines abgebrochenen oder zerstörten Lebenszusammenhanges festhält. Anhand von konkreten (historischen) Schauplätzen mit traditionell transkulturellen, von verschiedensten dominant nicht-muslimischen Minoritäten geprägten Milieus wie den bekannten Europäervierteln in Istanbul (Galata/Karaköy u. Pera/Beyoğlu) und Izmir wurde (1) den Rahmenbedingungen für die Entstehung solcher milieux de mémoire und den intergenerationell tradierten identitären Bezügen nachgespürt, um in einem weiteren Schritt (2) verschiedenste Faktoren (Deportation, Enteignung, Vertreibung, Diskriminierung) auszumachen, die eine allmähliche Transformation dieser milieux in heute touristisch aufbereitete Gedenkorte (lieux de mémoire) bewirkt haben. Bei den Betroffenen, insbesondere den nicht-muslimischen Minderheiten der Türkei, die heute größtenteils im Ausland, vor allem in Athen leben, hat dieser unaufhaltsame Wandel, der Verlust des vertrauten transkulturellen Milieus zu Traumata geführt, die heute – dem situativen Kontext entrückt – literarisch und audio-visuell als sog. Gegenerinnerung (A. Assmann) aufgearbeitet werden. Daher wurde auch die Situation der Istanbuler und Smyrnioter Diaspora in Athen in die Generalthematik der Tagung miteinbezogen. Diese doch eher an mikrohistorischen Fragestellungen ausgerichtete Thematik mündete schließlich in (3) zeitgeschichtlich brisante Fragestellungen: einerseits nach dem Stellenwert nicht-muslimischer Minderheiten in der türkischen Historiographie und in den laufenden EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei; andrerseits - gleichsam um neuesten Strömungen der medialen Geschichtserzählung (Imagologie) gerecht zu werden - nach dem Einfluss der insbesondere von griechischer Seite jüngst in verstärktem Maße produzierten audio-visuellen und illustrativen Medien auf die Entstehung einer möglicherweise neuen (medialen) Erinnerungskultur im Sinne einer usable past.

Ein besonderes Anliegen der Tagung war es, Theorie (kulturwissenschaftliche Grundlagen, Methode der Oral History) und Praxis (Fallbeispiele) sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Dies gelang vor allem durch eine auf die einzelnen Themenkomplexe (Sektionen) der Tagung ausgerichtete schrittweise Präsentation einzelner Fallstudien, die in Istanbul, Izmir und Athen durchgeführt wurden. Einzelne Tagungsteilnehmer hielten daher bis zu vier Vorträge. Dadurch wurden unterschiedliche Entwicklungen deutlicher akzentuiert und verschiedene Facetten ein und derselben Stadt/Gesellschaft beleuchtet.

Die wissenschaftliche Konzeption (Tischler) wurde von der These geleitet, dass sich in Konstantinopel/Istanbul und Smyrna/Izmir seit der Tanzimat-Zeit (Mi. 19.Jh.) kosmopolitische, durch Multiethnizität und –konfessionalität charakterisierte Gesellschaften herausbildeten, die unter westlichem Einfluss ein besonderes Standes-/Elitenverständnis entwickelt hatten. Dabei standen die Istanbuler Viertel Galata und Pera als Metapher für eine einzigartige, untergegangene Welt. Galata war bereits im Mittelalter Sitz der Venezianer und Genueser Kaufleute, während das an Galata unmittelbar angrenzende Pera infolge der zwischen der Pforte und Frankreich ausgehandelten Kapitulationen erst gegen Mitte des 16.Jhs. als Sitz der französischen Botschaft Bedeutung erlangte. Damit verlor Pera nun allmählich seinen ländlichen, von Weingärten geprägten Charakter zugunsten einer intensiven Urbanisierung. Im Laufe der Jahrhunderte etablierten sich in Pera schließlich zahlreiche europäische Botschaften, 1857 schließlich wurde es als 6. arrondissement Konstantinopel eingemeindet und durch eine eigene Stadtverwaltung organisiert.

Erste Sektion: Milieux de mémoire (9.6.)

In seinem Eröffnungsvortrag Galata-Pera between myth and reality wies Edhem Eldem (Bosporus Univ./Istanbul) darauf hin, dass die –durchwegs nicht-muslimischen - Bewohner Galata-Peras die Erfahrung der Akkulturation machten. Eldem unterstrich daher nicht das Außergewöhnliche von Galata-Pera, sondern fragte nach individuellen Lebenswelten, ohne dabei mit Kategorien wie Nation oder Status zu operieren. Die wieder zunehmende Abgrenzung der Peroten ab dem 19./20. Jh. von der muslimischen Umgebung und die systematische Okzidentalisierung des Stadtteils seit der Tanzimat beleuchtete Eldem dekonstruktiv vor dem Hintergrund des heraufziehenden, besonders in diesen beiden Stadtteilen um sich greifenden Nationalismus.

Ulrike Tischler (Univ. Graz) betonte in Back to the roots. Signposts to Pera as _milieu de mémoire die einzigartige Atmosphäre (historical-topographic aura), die Pera als Europäerviertel insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts umgab, sei es durch seine religiös, sprachlich und ethnisch heterogene Bevölkerung, sei es durch sein europäisch anmutendes Weichbild oder durch die Bezeichnung Peroten, die die Bewohner des Viertels eindeutig vom übrigen Istanbul abgrenzte. Gleichsam als Reaktion auf eine sich mehr und mehr öffnende Kluft zwischen diesem Europa im Kleinen wie es in Galata-Pera zu finden war einerseits und dem vergleichsweise teils unterentwickelten teils aber auch zwangsmodernisierten restlichen Istanbul andrerseits, so Tischler, kam es zu einer negativen Umdeutung Peras durch die Türken, die Pera nun noch mehr als zuvor mit dem kapitalistischen und imperialistischen Westen assoziierten.

Nach ihrem Symbol- und Funktionsgehalt befragten Mihali Warlas und Yannis Karachristos (IME Athen/ Univ. Patras) in Stillborn Smyrna: Izmir as the lost past of the Greek refugees of 1922 die Bilder vom Smyrna der 1910er/20er Jahre, die im kollektiven Gedächtnis der griechischen Flüchtlinge aufgebaut wurden. Zentral ging es dabei um die Frage, inwieweit die Bilder der Stadt die nationale Geschichtsschreibung beeinflusst haben. Sie bauten ihre Beobachtungen auf der Auswertung der zeitgenössischen lokalen Presse und von Lebenserinnerungen auf, die den Diskurs von Smyrna als moderner und weltoffener, bourgeoisen Stadt wie auch eines sozial äußerst heterogenen Ortes anlegten.

Samim Akgönül (Univ. Strasbourg) beleuchtete in Continuités et ruptures dans l’ histoire des Grecs d’Istanbul die Jahre 1923 (Gründung der Rep. Türkei, Vertrag von Lausanne), 1942 (Einführung der sog. Vermögenssteuer/Varlık Vergisi), 1955 (Septemberereignisse) und 1964 (Ausweisung der Griechen mit griechischer Staatsbürgerschaft) als die für die griechische Minderheit in der Türkei tiefgreifenden Einschnitte. Ausgehend von diesen Eckdaten erörterte er, ob Daten, die in der Historiographie als Wendepunkte betrachtet werden, zum Zeitpunkt des Geschehens von den Betroffenen als einschneidend wahrgenommen werden oder diese ihr Leben vielmehr weiterhin in einer Kontinuität verortet sehen.

Weniger die Erinnerung denn der Versuch, das Vergangene zu verdrängen und nicht mehr auszusprechen ist für die türkischen Juden/Yahudi bezeichnend, wie Rifat Bali (Istanbul) in: The alternative way to come to terms with the past. Those who try to forget: the Jewish minority darlegte. Er zeichnete dabei die Strategien der türkischen Juden im 20. Jahrhundert nach, im türkischen Umfeld „unsichtbar“ zu bleiben, um nicht als störende Minderheit aufzufallen, insbesondere vor dem Hintergrund der Einführung der Vermögenssteuer (Varlık Vergisi) und des erstarkenden türkischen Nationalismus. Bali analysierte die Anpassungs- ebenso aber auch die vereinzelten Auflehnungsversuche der türkischen Juden, fragte nach ihrer Erinnerung an den Holocaust und stellte diesen die Erinnerungen der Armenier an den Genozid von 1915 entgegen.

Zweite Sektion: Cultural sciences approaches to the milieux de mémoire (9.6.)

Hier wurden empirische Forschung und theoretische Kulturmodelle miteinander konfrontiert. Ulrike Tischler stellte in ihrem Beitrag Cultural sciences approaches to the Istanbulian diaspora in Athens seen as artificial milieu de mémoire in Anlehnung an Pierre Nora die These auf, dass das heutige Pera-Galata ein lieu de mémoire geworden sei, der durch Diskontinuitäten und klare Trennung in Vergangenheit (milieu) und Gegenwart (lieu) charakterisiert sei. Pera, so die These, sei der Kraft seiner Erinnerung beraubt und dabei zu einem schieren Gedenkort für Touristen geworden. Zwar sei man türkischerseits bemüht wenigstens äußerlich ein möglichst authentisches Milieu etwa in den Europäervierteln in Istanbul wiederherzustellen, was allerdings eher eine Polarisierung nach P. Burke zwischen Sieger (Türken) und Besiegten (nicht-muslimische Minderheiten, bes. Griechen) noch verschärfe. In ihren weiteren Ausführungen zeigte Tischler, dass es sich hierbei jedoch keineswegs um einen Einzelfall handelte, sondern um eine in vielen Bereichen, besonders in urbanen Zentren Südosteuropas (vgl. Saloniki, Sarajevo, ...) geradezu typische Konstellation: nämlich die Kontroverse um (gemeinsames) historisches Erbe, das von zwei oder mehreren Seiten unter streng getrennten Blickwinkeln zur Durchsetzung eigener, nationalen Denkkategorien verhafteter Ansprüche instrumentalisiert wird. Damit kam ausgehend von zentralen Erinnerungstheorien (A. Assmann) auch der Stellenwert historischen Erbes in der Erinnerung, im kulturellen Gedächtnis der an diesem Erbe konkret Beteiligten (i.e. Türken, Griechen u.a. christliche bzw. jüdische Minderheiten) zur Sprache. Insbesondere einschlägige Beispiele zu den Aktivitäten der Istanbuler Diaspora in Athen haben hierbei das Zusammenspiel von sozialer Akzeptanz und öffentlicher Kommunizierbarkeit von Erinnerung einerseits und von Erinnerungskonkurrenz und öffentlich/latent betriebener Erinnerungspolitik andrerseits gezeigt.

Johannes Feichtinger (ÖAW, Wien) kontrastierte in seinem Beitrag What impact Culture Studies may have on the analysis of cultural diversity in South Eastern Europe kulturtheoretische Modelle. Ausgehend von Kultur i.S. eines kommunikativen und dynamischen Systems mit seinen jeweiligen Codes zeichnete er für das vornationale Mitteleuropa die Entstehung von Metasprachen nach. Mit dem Entstehen des Nationalismus und der Konstruktion von (meist) nationalen Differenzen verloren diese immer mehr ihre integrative und transkulturelle Funktion. Im Unterschied zu solch dichotomen Kulturbildern, auf denen auch zeitgenössische Ideen von Multikulturalismus basieren können, durchspielt das einer pluralistischen Wahrnehmung entspringende Modell des bosnischen Theaterwissenschaftlers Dževad Karahasan die Möglichkeiten eines Zusammenlebens, basierend auf Verständnis und Toleranz ohne Gleichgültigkeit.

Das Abendprogramm des ersten Veranstaltungstages ermöglichte wieder einen praktischen Zugang zur Tagungsthematik: In der inspirierenden Atmosphäre des Palmenhauses der Universität Graz zeigte die Filmemacherin Merlyn Solakhan (Berlin) ihren 1996 in Anlehnung an W. Benjamins Passagenwerk gedrehten Dokumentarfilm mit Zeitzeugen aus Pera unter dem Titel Cité de Péra. Passagen in Istanbul, der sogar im ZDF/arte ausgestrahlt wurde. Solakhan selbst entstammt einem griechisch-armenischen (perotischen) Elternhaus und ist im Pera/Beyoğlu der 1950er und 1960er Jahre aufgewachsen. Die Zuseher wurden mit den unterschiedlichen Gesichtern Peras konfrontiert, gleichsam dem ¬milieu (Erinnerungen der interviewten Zeitzeugen) und dem lieu (Bilder aus dem Jahr 1996), und konnten so den Stadtteil und dessen Geschichte akustisch und visuell erfahren.

Dritte Sektion (10.6.): Memory, counter-memory and lieux de mémoire

Zu Beginn gab Karin Schmidlechner (Univ. Graz) in Contemporary reflections on oral history einen Überblick zur Entstehung der Oral History seit den 1970er Jahren und wies auf die Chancen, aber auch Grenzen der Methode hin. Dabei erörterte sie die verschiedenen Dimensionen, in denen die Oral History produktiv eingesetzt werden kann, u.a. auf der kulturellen, sozialen und psychologischen Ebene und fragte nach den Kontexten, in denen Erinnerung produziert wird.

Anna Nomikou (Univ. Heraklion) diskutierte in Issues in the life story of a ‘repatriated immigrant’: remembering and revealing the past anhand von konkreten Beispielen, wie zum einen über lebensgeschichtliche Interviews individuelle Interpretationen der Vergangenheit nachvollzogen, andrerseits aber auch neue Fakten zur Sozial- und Alltagsgeschichte eingeholt werden können. Sie zeichnete das Spannungsverhältnis von Erinnern im individuellen und sozialen Kontext nach und ging „Erinnerungslücken“ und idealisierten Orten und Erinnerungsmomenten auf den Grund. Dabei machte sie bewusst, wie gegenwärtige Wahrnehmungen „alte“ Bilder neu interpretieren und deuten. In diesem Sinne sind Lebensgeschichten dynamisch und unterliegen den sich ständig verändernden Wahrnehmungen ihrer ErzählerInnen.

Im Anschluss diskutierte Ulrike Tischler in The Perotes’ memories and counter-memories as a mirror of a transnational past, ob bzw. wenn, dann wie sich die Erinnerungsräume und –welten an Pera von Türken und Griechen gegenseitig beeinflussten und die Bilder der nachfolgenden Generationen prägten. Die Ambivalenz zwischen offizieller Gedächtniskultur und persönlicher Erinnerung in den lebensgeschichtlichen Interviews war ein weiterer Punkt, den Tischler ansprach.

Edhem Eldem fing in Galata. The memories of the businessmen of Bankalar Caddesi Erinnerungen zur Voyvoda Straße/heute Bankalar Cad. in Galata ein, jener zentralen Straße, die vom bombastischen Gebäudekomplex der Banque Ottomane beherrscht wurde und bis heute wird und damit wenigstens bis ins frühe 20. Jh. ein Zentrum von v.a. ökonomischer Macht symbolisierte. Mit einem einfachen Fragebogen näherte sich Eldem ganz unkonventionell diesem als Lebensmittelpunkt geltenden Umfeld und arbeitete heraus, dass die Straße von den meisten der Befragten als äußerst ereignisloser Ort wahrgenommen worden war. So baute sich ein reizvoller Kontrast zwischen Mythos und individueller Erinnerung auf.

Samim Akgönül machte mit seinem Vortrag Que pensent les Grecs d’Istanbul d’eux-mêmes? Analyse d’une auto-perception auf die Mechanismen der Selbstkonstruktion durch lebensgeschichtliche Interviews aufmerksam und zeigte dabei auf, inwiefern für die emigrierten Griechen Istanbul zu einem mythenbeladenen lieu de mémoire geworden ist und wie hingegen die noch heute in Istanbul ansässigen Griechen diesen Ort der Erinnerung tagtäglich entmystifizieren. Der Erinnerungsdiskurs der letzteren weist in eine andere Richtung: Er unterscheidet klar zwischen einem „kosmopolitischen“ Istanbul vor 1964, der Zeit vor dem letzten griechischen Massenexodus aus Istanbul und der Gegenwart, also der Zeit seit 1964/65, wo die Stadt nun als anatolisches Istanbul wahrgenommen wird.

Vierte Sektion: Interviews as memory storage; archiving and analysis (10.6.)

Hier wurde das Spannungsverhältnis zwischen „Geschichte sammeln“ und „Geschichte kreieren“ thematisiert. Mihali Warlas und Yannis Karachristos beleuchteten die methodischen Zugänge aus den Sozial- und Geschichtswissenschaften bei ihren Arbeiten mit lebensgeschichtlichen Interviews. Ihr Beitrag The „unspoken“ Symrna. The reminiscences of Greek and Levantine refugees griff zunächst generell Zeitpunkte und Orte auf, an denen Menschen sich ihrer Vergangenheit erinnern. Dabei reflektierten sie u. a., wie Menschen eine Erinnerungsgemeinschaft herstellen und wie diese wiederum auf die Erinnerung selbst rückwirkt. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erörterten sie die gängigen Erinnerungsbilder von griechischen/levantinischen Flüchtlingen an ihre Heimatstadt Smyrna und fragten nach den blinden, unausgesprochenen Bildern, nach den Schattenseiten einer Stadt, die im gängigen Erinnerungsdiskurs als kosmopolitisch und lebendig stilisiert wird.

Peter Teibenbacher (Univ. Graz) stellte das Oral History Archiv der Universität Graz, Abteilung Wirtschafts- und Sozialgeschichte, vor. Dabei diskutierte er die Funktion des Archivs als Empfänger und Produzent von Material und damit Geschichte.

Anna Nomikou präsentierte die wenig bekannten Bestände des Zentrums für kleinasiatische Studien (KMS) in Athen, die in Fachkreisen vor allem mit Renée Hirschons Monographie Heirs of the Greek Catastrophe assoziiert werden. Die Archive dieses Forschungszentrums reichen von Interviewdokumenten, Manuskripten, Fotographien von griechischen Flüchtlingen aus Kleinasien, über Dokumente amtlich-offiziellen Charakters der Communities bis hin zu zahlreichen Privatarchiven, antiquarischen aus Privatsammlungen hervorgegangenen Buchbeständen aus Konstantinopel und Smyrna bis hin zu einer bedeutenden Sammlung an Karamanlı-Büchern, kartographischen Materialien und einem auf kleinasiatische Volksmusik spezialisierten Archiv.

Im anschließenden Vortrag erörterte Mihali Warlas Konzept und Ziele des Video-Oral History project of the foundation of the Hellenic World, “Testimonies of Greek Asia Minor Refugees“, ein von der Foundation of the Hellenic World (IME) ins Leben gerufenes Video-Oral-History Projekt. Seit 1996 werden von Mitarbeitern dieser Forschungseinrichtung Lebensgeschichten griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien aufgenommen, archiviert und analysiert. Die große soziale und kulturelle Heterogenität der Flüchtlinge stellt hohe Anforderungen an die Interviewer: einerseits muß der Vielfalt der Lebenserfahrungen stattgegeben werden, andrerseits gilt es dabei aber auch auf mögliche Schnittstellen zu achten, die eine Zusammenführung der verschiedenen Lebensgeschichten möglich machen.

Fünfte Sektion: Turkey’s historical heritage and the EU(11.6.05)

Den Aktualitätsbezug der Tagungsthematik unterstrichen die Vorträge der abschließenden Sektion. In The adoption and reception of non-Muslim minorities in Istanbul in Turkish historiography with a special emphasis on Turkey’s planned access to the EU beleuchtete Kerstin Tomenendal (Univ. Ankara) die türkische Minderheitenpolitik vor dem Hintergrund des Kopenhagener Europäischen Rates (2002). Sie ging u.a. auf die besondere Situation der kurdischen und syrischen Minderheiten ein, die nach dem Vertrag von Lausanne (1923) offiziell nicht als Minderheit in der Türkei anerkannt, de facto aber durchaus als solche behandelt, von Restriktionen betroffen sind. Obwohl die Türkei den Aufforderungen der EU, eine liberale Minderheitenpolitik zu betreiben, allmählich nachkommt, konstatiert Tomenendal immer wieder Einschränkungen, sei es in der begrenzten Sendezeit für nicht-türkische Rundfunkprogramme oder im schulischen Bereich. Sena Dogans (ÖAW, Wien) anschließender Vortrag Changes in Turkish Historiography beleuchtete zentrale Aspekte und Paradigmenwechsel in der türkischsprachigen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Dabei zeigte sie, wie außerhalb der etablierten Strukturen der türkischsprachigen Historiographie neue Impulse verliehen wurden. Infolge des durch den Militärputsch (1980) herbeigeführten Umbruchs regte sich in den 1980er Jahren ein kritischer Geist, getragen insbesondere von Historikern außerhalb der Universitäten, der sich z. B. in der Gründung neuer Periodika niederschlug. Inhaltlich führte Dogan u.a. die Debatte um die Modernisierung der Türkei seit den 1970ern an, um die Wende von national bestimmten Interpretationsmustern von Ereignissen wie der Jungtürkischen Revolution hin zu differenzierteren Deutungen nachzuzeichnen.

Den Schlussvortrag der Tagung gestaltete schließlich Ulrike Tischler gemeinsam mit Mihali Warlas. Sie gaben mit The visual turn in contemporary memory culture. Iconic criticism – the power and significance of images. Istanbul and Izmir as lieux de mémoire in audiovisual and illustrative media einen Einblick in gegenwärtige Funktionalisierungen von Lebenserinnerungen v. a. am Beispiel der griechischen Medienkultur. So bindet die offizielle Gedächtniskultur das individuelle Erinnern in den offiziellen Diskurs ein, nicht zuletzt auch, um nationalistische und nostalgische Bedürfnisse zu befriedigen bzw. oft diese überhaupt erst zu wecken. Eindrucksvoll veranschaulichte Warlas dies multimedial anhand von authentischer Musik (aus dem kleinasiat. Raum bzw. aus Istanbul) in Kombination mit (Dokumentar-)Filmausschnitten und anderen Bildmedien wie Fotographien, Prospekten und TV-Werbespots. Durch die Wirkkraft solcher medialen Geschichtserzählungen verstehen sich die Zeitzeugen in zunehmendem Maße als Repräsentanten einer Erinnerungsgemeinschaft, oft auch Schicksalsgemeinschaft, während das individuelle Erinnern zusehends in den Hintergrund treten muss.

Fazit:

Der innovative Charakter der Tagungsthematik mit ihrer multiperspektivischen Ausrichtung auf die Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert unter Einbeziehung aktuellster Trends (visual turn, Imagologie, Transnationalismus- u. Kulturtransferforschung) förderte die sehr diskussionsfreudige, offene und fruchtbare Atmosphäre während der gesamten Tagung. Durch Anwendung dieses kombinierten Ansatzes auf Themen der Fächer Südosteuropäische Geschichte und Turkologie konnten sowohl die genannten Disziplinen stärker in den internationalen kulturwissenschaftlichen Diskurs eingebunden als auch richtungsweisende Konzepte für die Transferforschung erarbeitet werden. Diesem Grundgedanken wurde auch in der Diskussion Rechnung getragen: Mehrmals wurde hier über den engeren Kontext der primär Kleinstregionen (einzelne Stadtviertel) innerhalb urbaner Zentren wie Istanbul und Izmir charakterisierenden Mikrophänomene (z.B. Gesellschaft von Pera) hinausgewiesen indem grundlegende sich daraus herleitende Fragen, wie z.B. die unterschiedliche Auslegung der Begriffe kosmopolitischmulti- und plurikulturell, eingehend erörtert wurden. Dabei ging es den DiskutantInnen jedoch keineswegs darum, Widersprüche, abstrakte Definitionen oder Multiperspektivität einfach in einen bisher entwickelte Konzepte umstoßenden, neuen Rahmen zu pressen, sondern sie einmal schlichtweg aufzudecken, d.h. bewusst zu machen. So wurden einzelne Ansätze als durchaus fruchtbar und ausbaufähig identifiziert, wenn auch zugleich auf ihre Grenzen verwiesen wurde.

Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.


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