"Idee und Macht" - Politische Ideengeschichte und Internationale Beziehungen im 19./20. Jahrhundert

"Idee und Macht" - Politische Ideengeschichte und Internationale Beziehungen im 19./20. Jahrhundert

Organisatoren
PD Dr. Günther Kronenbitter; Prof. Dr. Sönke Neitzel
Ort
Wiesbaden
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.06.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Silke Richter, Mainz

Fragen nach den prägenden Ideen einer Zeit, nach dem Charakter ihrer Außenpolitik, nach den Wechselwirkungen von Idee und Macht und dem Methodenproblem der Nachweisbarkeit des Bezugs zwischen Ideen und Handlungen waren die Themen, denen sich ein Workshop am 3. Juni 2005 in den Räumen der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung unter der Leitung von Günther Kronenbitter (Augsburg) und Sönke Neitzel (Mainz) widmete. Das Auftreten religiös begründete Visionen des auserwählten Volkes und die Verknüpfung dieser mit dem Auftreten George W. Bushs und der Außenpolitik im Irakkrieg machen auch heute die Wichtigkeit dieser Fragen deutlich.

Günther Kronenbitter zeigte in seinem Vortrag "Gleichgewichtsidee und internationales System im frühen 19. Jahrhundert" anhand der Schriften von Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und besonders dem Publizisten Friedrich von Gentz die intellektuelle Auseinandersetzung zur Zeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit dem Konzept "Gleichgewicht" in den internationalen Beziehungen. Der Begriff des Gleichgewichts fand Anfang des 18. Jahrhunderts Eingang in ein Vertragswerk und wurde fortan für die internationalen Beziehungen ein wichtiges Schlagwort, das durch die Französische Revolution und die Befreiungskriege sowie der Ablösung der Balance of Power eine Bedeutungsänderung erfuhr. Er blieb als regulierendes Element bis in die Gegenwart erhalten. Laut Kronenbitter lehnte Gentz zwischenstaatliche Aggressivität nicht prinzipiell ab, da es ohne sie keinen Fortschritt geben könne. Gleichgewicht war in seinem Denken die Einhegung des Hegemonialstrebens durch die Gemeinschaft der anderen Mächte mit dem Ziel der Sicherung des Friedens zumindest auf Zeit. Bei Gentz richtete sich das Gleichgewichtsdenken gegen Ideologisierung, da er am Beispiel der Fanzösischen Revolution die Gefährung des Friedens durch Ideologisierung erfahren hatte. Gentz übte mit seinem Denken Einfluß auf Metternich aus und fand so Eingang in die reale Politik. Es wurde deutlich, daß der Gleichgewichtsbegriff im frühen 19. Jahrhundert tatsächlich weiterentwickelt wurde, wie vom amerikanischen Historiker Paul W. Schroeder beschrieben, und über ein bloßes Austarieren von Machtpotentialen hinaus auf Interessenausgleich und Konsenslösungen zielte.

Ab 1880 kam es durch den Hochimperialismus zu Veränderungen im politischen Denken. Das Denken in Großmachtkategorien wurde von dem in Weltmachtkategorien abgelöst. Unter der Fragestellung "Weltmacht oder Untergang? Deutsche Außenpolitik und Ideengeschichte im Zeitalter des Imperialismus" untersuchte Sönke Neitzel vier unterschiedliche Ideen hinsichtlich ihrer Wirkungsmächtigkeit: 1. Die in der Publizistik weit verbreitete Weltreichslehre, die einen Kampf dreier Weltreiche auf wirtschaftlicher Ebene annahm. Diese Idee war nicht nur wegen ihrer weiten Verbreitung relevant, sondern auch weil die Reichsleitung sich ihrer bediente, wobei offen bleibt, ob sie diese nur instrumentalisierte oder wirklich an ihre Zukunftsprophezeiungen glaubte. Dauerhaften Platz in den Köpfen fand diese Idee auch durch die Hochschutzzölle Rußlands und der USA. 2. Der Glaube an einen großen Endkampf zwischen Slawen und Germanen war mit dem Expansionsgedanken verknüpft. Die Militärs gingen von der Unvermeidbarkeit des großen Krieges aus. Der Einfluss dieses Gedankens war ursprünglich gering, nahm aber ab 1905/06 mehr und mehr bis zum Ersten Weltkrieg zu. 3. Das sozialistische Lager stand ganz im Bann der Erwartung der Weltrevolution. 4. Der Glaube an die friedliche Koexistenz der Völker hatte, trotz vereinzelter großer Erfolge wie der Haager Konferenz, einen eher schwierigen Stand.

Neitzel verdeutlichte, daß während des Hochimperialismus die Ideen konkreten außenpolitischen Konzepten vorangingen und daß "Idee" und "Macht" in Übergangsphasen wie der Zeit um die Jahrhundertwende sehr eng verknüpft waren. Die Ideen entwickelten somit eine besondere Wirkungsmächtigkeit auf die internationalen Beziehungen.

Vanessa Conze (Tübingen) untersuchte in ihrem Beitrag "Das Europa der Deutschen: Zur Ideengeschichte der europäischen Integration zwischen Erstem Weltkrieg und den siebziger Jahren" die Vorstellung von einem vereinten Europa auf pluralistischer und freiheitlich-demokratischer Grundlage. Sie führte aus, daß es bis in die 60er-Jahre in der Bundesrepublik eine Vielzahl von Europaideen gab, die sich aus dem Zusammenbruch des bestehenden Systems nach dem Ersten (und dem Zweiten) Weltkrieg entwickelt hatten, die eine erstaunliche Langlebigkeit bewiesen und die Europa ganz unterschiedlich definierten. Dies zeigte sie an den Beispielen der Abendländischen Bewegung, die als konservativ, antiliberal, antiparlamentarisch charakterisiert werden kann und der ein hierarchisches Gesellschaftsbild zu eigen war. Sie untersuchte ferner das Beispiel der mitgliedsstarken Europa-Union. Zu beachten ist immer die Trägerschaft jener Bewegungen und damit deren Verbreitungsgrad. Die Referentin wies darauf hin, daß die Diskussion über Europa oft national verankert sei und schloß mit dem Plädoyer für eine Europäisierung der Geschichtsschreibung und dafür, Europa in die nationale Geschichtsschreibung einzubeziehen, um die Verflochtenheit zu analysieren.

Die Wiedervereinigung, die Westbindung und die europäische Einigung waren Leitlinien der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Zu fragen ist, inwieweit diese Konzepte frei entwickelt und verwirklicht wurden oder ob sie nur im Rahmen eines Systemzwangs entstanden, die Idee sich also den realen Möglichkeiten anpaßte. Laut dem Beitrag von Andreas Rödder (Mainz) "Ideen und Systemzwang. Die Bundesrepublik in der Staatenordnung des Ost-West-Konflikt" ging beim Konzept der Wiedervereinigung die Macht der Idee voran. Nachdem sich die Naherwartung der Wiedervereinigung nicht erfüllt hatte, wurde der Grundsatz "Stabilisierung statt Konfrontation" maßgebend. Die Außenpolitik der Bundesrepublik mußte sich an die Realitäten anpassen und so folgte auch bei der Westbindung die Idee der Macht. Die Westbindung war eine, nachdem Adenauer die Teilung der Welt als gegeben anerkannt hatte, aus Sicherheitsstreben geborene Idee, die sich verselbständigte. Am Anfang der Transatlantischen Allianz stand für Adenauer Machtkalkül, aber mit dem Hintergrund demokratischer Ideale. Ähnlich verhielt es sich bei der Idee der europäischen Einigung, die ebenso aus sicherheitspolitischen wie auch aus machtpolitischen Überlegungen heraus geboren wurde. Durch die Annäherung der europäischen Staaten sollte Krieg unmöglich werden. Auch ergaben sich für die Bundesrepublik, die am stärksten von Systemzwängen betroffen war, nur dann Handlungsspielräume, wenn sie sich innerhalb des westlichen Bündnisses bewegte.

Mit dem spanisch-amerikanischen Krieg 1898 betraten die USA die Weltbühne. Ohne mächtigen Nachbarn befanden sie sich in einer komfortablen Situation. Die USA entwickelten in der Folgezeit eine robuste Machtpolitik mit idealisierten Zielen: Sie hatten keine Ideologie, sondern betrachtete sich als gelebte Ideologie, die zu verbreiten war. Entscheidend war dabei nicht nur die wirtschaftliche Kraft der USA, auch die Verringerung von Distanzen durch technische Entwicklung erleichterte das Auftreten dieser Macht. Harald Biermann (Köln) zeigte anhand der Frage "'Ostensibler Missionsauftrag an die Menschheit'? Grundzüge der US-Außenpolitik im 20. Jahrhundert" das Schwanken im internationalen Auftreten der USA im 20. Jahrhundert auf. Der Einmischung in den Ersten Weltkrieg folgte in den 20er-Jahren der Isolationismus. Die Idee des Völkerbunds wurde nicht zu einem einflußreichen Konzept. Bis in die 40er-Jahre hielt diese Ablehnung der zwischenstaatlichen Welt vor. Zum Gefühl der Sendung war die hemisphärische Sicherheit getreten. Eine Gefühl der Bedrohung wurde erst durch das nationalsozialistische Deutschland hervorgerufen. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor hatte man das Gefühl, einen gerechten Krieg zu führen. Die Idee der vier Weltpolizisten entstand, der Glaube, mit der Sowjetunion zusammenarbeiten zu können erwies sich aber letzthin als Trugschluß. Die Unversöhnlichkeit der Ideologien blieb bis 1991 bestimmend. Im Kalten Krieg wurde die totale Zerstörung zur realen Gefahr und ihre Folge war eine sogenannte Eindämmungspolitik. Der Phase des aktiven Eingreifens 1968-79 folgte die Rückkehr zur Eindämmung sowie eine verstärkte ideologische Auseinandersetzung und Aufrüstung. Der Zerfall der Sowjetunion ließ dann die USA als einzige Supermacht ohne konkretes Ziel, aber auch ohne Begrenzung durch einen Gegner zurück. Es folgte aber keine außenpolitische Abstinenz. Der 11. September 2001 brachte eine neue Herausforderung und führte, so Biermann, die USA in ihr altes außenpolitisches Fahrwasser zurück.

Die Tagung hat gezeigt, daß es für die Historiographie der internationalen Beziehungen wichtig ist, sich der Frage nach der Verknüpfung von Idee und Macht zu stellen. Wie stark diese Korrelation sein kann, machten die Referenten eindrucksvoll deutlich. Die Frage nach den Trägern von Ideen und wie Ideen in die Köpfe der Entscheidungsträger kamen, welche Reflexion sie dort erfuhren, sowie die Problematik der Nachweisbarkeit des Einflusses von Ideen auf Entscheidungsträger, blieben als grundsätzliche Probleme und als Anstoß für künftige Forschungen bestehen.


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