Anläßlich des 100. Jahrestages der Gründung des "Gesamtarchivs der deutschen Juden" richteten der Zentralrat der Juden in Deutschland, das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (Heidelberg) und die Archivschule Marburg gemeinsam das Kolloquium "Jüdische Archive" aus. Diese Marburger Tagung stand thematisch lose im Zusammenhang mit zwei Veranstaltungen der Jahre 1999 und 2004, reichte jedoch geographisch und zeitlich über diese hinaus.1 Erklärtes Ziel des Kolloquiums war eine Standortbestimmung und das Aufzeigen von Perspektiven für das "Fachgebiet Jüdisches Archivwesen", welches nach der Auffassung der Veranstalter innerhalb der "allgemeinen Archivlandschaft" entsteht.
Insgesamt 21 Referenten und Referentinnen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, der Schweiz, Israel und den USA deckten viele Facetten von Archivierungs-, Dokumentations- und Forschungsstrategien und -problemen ab.2 Die Themen der Vorträge spiegelten ein weites Spektrum von Institutionen, die sich der Sammlung und Pflege, teils auch der Präsentation und Auswertung jüdischen Kulturguts verschrieben haben: Archive, Dokumentationsstellen, Forschungseinrichtungen und Museen, wobei die Trennlinien zwischen den beiden ersteren nicht immer klar zu ziehen sind. Ebenso vielfältig ist die Herkunft des Materials: Sie reicht von jüdischen Gemeinden über staatliche Behörden bis hin zu Vor- und Nachlässen von Privatpersonen und Familien sowie Interviews mit Überlebenden von Pogromen. Die erwähnten Institutionen sind ihrer Zielsetzung nach entweder regional, überregional oder global, mit oder ohne zeitlichen oder thematischen Schwerpunkt tätig.
1. Zentrale und dezentrale Archivierungs- und Dokumentationsstrategien
Als Charakteristika jüdischer Überlieferung trat auf dem Kolloquium die starke Zersplitterung des Materials in Verbindung mit einem zur Zeit hohen Interesse an seiner Nutzung von seiten der Wissenschaft und der privaten Familienforschung hervor. Deshalb bemühen sich verschiedene Einrichtungen um eine Zentralisierung der Bestände etwa in Deutschland (Zentralarchiv in Heidelberg) und Israel (Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem). Die Vertreter dieser Institutionen, Peter Honigmann bzw. Inka Arroyo, stellten als Aufgabenschwerpunkte jeweils das Akquirieren der Altregistratur heutiger jüdischer Gemeinden in Deutschland bzw. von Unterlagen der Diaspora in der ganzen Welt (vor allem in den USA, Europa, Asien, Maghreb) dar. Beide Einrichtungen verstehen sich in gewisser Weise als Nachfolgerinnen des 1905 gegründeten Zentralarchivs der deutschen Juden, über dessen Geschichte bis 1939 Barbara Welker (Berlin) referierte. Zwanzig Jahre nach dem letztgenannten Archiv wurde in Wilna (damals zu Polen gehörend) das YIVO (Jüdisches wissenschaftliches Institut) zur Sammlung von Unterlagen zur Kultur und sozialen Situation der Juden in Osteuropa angesiedelt. Marek Web (New York) zeichnete die Geschichte des YIVO nach, vor allem die Wiederbeschaffung der von den Nationalsozialisten zerstreuten Materialien durch die nach New York umgezogene Institution. Mit ähnlicher Zielsetzung arbeitet das Heidelberger Zentralarchiv an der Rückführung von Unterlagen deutsch-jüdischer Provenienz aus dem früheren sogenannten "Sonderarchiv" im Zentralen Militärarchiv in Moskau. Bei diesen mindestens 10.000 Archivalieneinheiten handelt es sich um zuerst von den Nationalsozialisten konfisziertes jüdisches Archivgut, das im Krieg von der Roten Armee nach Moskau geschafft wurde. Trotz intensiver Bemühungen von seiten der deutschen Regierungen, der Erben, des Heidelberger Zentralarchivs und weiterer Beteiligter ist bisher nur ein kleiner Teil an die Eigentümer zurückgegeben worden, wie Elijahu Tarantul (Heidelberg) berichtete.
Als Beispiel für dezentrale Archivierung von Gemeindeunterlagen stellte Ernst L. Presseisen (Philadelphia) das von ihm seit dessen Einrichtung 1975 geleitete Philadelphia Jewish Archives Center vor, das sich als Gemeindeprojekt versteht. Neben solchen regionalen sind thematische Schwerpunktsetzungen im Bereich der Dokumentation zu beobachten, die zum Teil mit der Schaffung neuer Quellen einhergehen. Im Rahmen des Kolloquiums kam hierbei das Thema der Verfolgungen von Juden insbesondere im 20. Jahrhundert zur Sprache. In diesen Bereich fallen Anfänge in Osteuropa seit 1903, hier vorgestellt von Laura Jockusch (New York), sowie die schon 1944-49 dokumentierten Zeugenberichte von Überlebenden der Shoa, im Jüdischen Historischen Institut in Warschau, über die Feliks Tych (Warschau) informierte. Dazu gehört auch der aktiv betriebene Erwerb von Nachlässen durch das in den 1990er Jahren eröffnete U.S. Holocaust Museum in Washington, das Henry Mayer als dessen Chief Archivist vorstellte.
Einen weiteren Sammlungsschwerpunkt erläuterte Gail T. Reimer (Boston) am Beispiel eines weitgehend virtuellen Archivs, des "Jewish Women's Archive", das vorwiegend Informationen über die Lagerungsort entsprechender Unterlagen zusammenträgt und im Internet präsentiert.
2. Kooperation und konkurrierende Interessen zwischen staatlichen Archiven, Gemeinden und Museen
Unterlagen, die die jüdische Bevölkerung betreffen, entstehen, wie oben erläutert, entweder als Gemeindeakten oder als privates Schriftgut oder als Interviews. Der größte Teil der Überlieferung entspringt jedoch der allgemeinen staatlichen Verwaltung. Im Schriftwechsel zwischen jüdischer Bevölkerung und nichtjüdischen Behörden läßt sich unter anderem die von Stefan Rohrbacher (Düsseldorf) beschriebene "Dichotomie von Fremdwahrnehmung und Binnenperspektive" ablesen. Dabei ergänzen sich im besten Falle staatliches Archivgut und Gemeindeunterlagen sowie Nachlässe und Sammelobjekte der Museen. Hier machen sich auch unterschiedliche nationale Traditionen bemerkbar. Ein Beispiel für Gemeindearchivgut in einem Staatsarchiv in Deutschland stellte Jürgen Sielemann (Hamburg) für Hamburg vor. Üblich ist bei der Einlagerung von Gemeindearchiven in staatliche Archive ein Depositalvertrag, in dem die Gemeinde Eigentümerin bleibt. In dieser Form regelt auch das Zentralarchiv in Heidelberg seine Kooperationen mit den Gemeinden, wie Peter Honigmann (Heidelberg) berichtete. Georges Weill (Paris) sah im Hamburger Modell ein nachahmenswertes Muster für Frankreich. Dort würden, wie in anderen Ländern auch, Gemeindeunterlagen von den Verantwortlichen innerhalb der Gemeinde oft vernachlässigt. Die Gründe sah er zum einen darin, daß die jüdische Religion wenig Wert auf profanes Verwaltungsschriftgut lege, zum anderen, daß sich Immigranten der Kontinuität der Überlieferung nicht verpflichtet fühlten. Vor diesem Hintergrund sei die geregelte Abgabe an staatliche Archive die einzige Garantie für eine gesicherte Überlieferung, Pflege und Nutzung. David Frei (London) berichtete demgegenüber von der zentralen Archivierung der Gemeindeunterlagen, besonders von Geburts-, Heirats- und Sterberegistern seit dem späten 18. Jahrhundert, in Großbritannien durch die Londoner United Synagoge. Stellvertretend für ein Schweizer Modell präsentierte Uriel Gast (Zürich) das Sammlungsprofil der "Dokumentationsstelle jüdische Zeitgeschichte im Archiv für Zeitgeschichte" in Zürich. Hier werden hauptsächlich Materialien der "Interaktion" zwischen Juden und nichtjüdischer Umwelt gesammelt, während die Zeugnisse innerjüdischer Belange durch die jüdischen Gemeinden selbst archiviert werden sollen.
Weitere Einrichtungen, die sich um die Sammlung von Dokumenten zur jüdischen Geschichte bemühen, sind Museen. Diese suchen in jüngerer Zeit vermehrt, ihr Profil durch den Erwerb von Nachlässen auszuweiten, wie Aubrey Pomerance (Berlin) für das Jüdische Museum Berlin referierte. Hier entsteht zuweilen eine Interessenkollision mit den Archiven. Eine andere Perspektive der öffentlichen Anbindung von jüdischen Gemeindeunterlagen sprach Stuart Glass (New York) an, der aus Kostengründen eine Abgabe etwa an Nationalbibliotheken empfahl. Hier lasse sich die vorhandene Infrastruktur nutzen und mit wenig Aufwand ein großes Publikum erreichen.
3. Fragen der Nutzung
Als Nutzerinnen und Nutzer von Unterlagen, die Juden betreffen, sind außer der Wissenschaft vor allem Privatpersonen zu nennen, die ihre Familiengeschichte erforschen. Hier macht sich die hohe freiwillige wie auch erzwungene Mobilität der jüdischen Bevölkerungen bemerkbar. Heute bemühen sich viele Interessierte darum, die Stränge ihrer Familiengeschichte, die zum Beispiel aus Osteuropa über Westeuropa in die USA und nach Israel reichen, zu einem Bild zusammenzufügen. Hierzu referierte Hartmut Heinemann (Wiesbaden) über das Projekt Mikroverfilmung von personenbezogenen Unterlagen im Auftrage des nationalsozialistischen Reichssippenamtes, die nunmehr zum Teil eine Ersatzüberlieferung für die im Krieg verlorenen Dokumente darstellen. Frank Mecklenburg (New York) wies dabei darauf hin, daß gerade für die hochmotivierte und aktive Nutzergruppe der Genealogen das Internet eine hervorragende Kommunikations- und Präsentationsmöglichkeit darstelle. Mit Hilfe der vielen freiwillig Beitragenden würden dort Ahnentafeln vernetzt, Friedhofslisten erstellt und weltweite Kontakte geschaffen. Mit der Zusammenführung von Informationen über Quellen zur Geschichte der Juden befaßten sich Friedrich Battenberg (Darmstadt) und Albrecht Eckhardt (Oldenburg), die jeweils Projekte über sachthematische Inventare zur Geschichte der Juden vorstellten. Diese personell sehr aufwendige Arbeit kann heute nur im Rahmen von Drittmittelprojekten in den staatlichen Archiven geleistet werden. Dabei wäre zu überlegen, ob die Inventare nicht direkt ins Internet gestellt werden sollten.
4. Zusammenfassung und Ausblick
Die Beiträge des Kolloquiums verdeutlichten die Vielfältigkeit und internationale Streuung von Archiv- und Sammlungsgut, welches weltweit zur Geschichte der Juden existiert. Bei den großen Unterschieden in der Zielsetzung und Durchführung ihrer Arbeit, die zwischen den Institutionen bestehen, ist so etwas wie ein "Fachgebiet jüdisches Archivwesen", wie von den Veranstaltern proklamiert, erst in Anfängen erkennbar. Gemeinsame Problemlagen bestehen in der Bildung von Beständen nichtstaatlicher Provenienz wie der jüdischen Gemeinden, in der Rekonstruktion von auseinandergerissenen Beständen, in der Klärung rechtlicher Fragen des Besitzes und des Zugangs insbesondere zu personenbezogenen Unterlagen des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt in der Erstellung von Findmitteln. Im Sinne aller Einrichtungen und insbesondere ihrer Nutzerinnen und Nutzer wäre es wünschenswert, die Informationen über vorhandene Bestände in den einzelnen Institutionen zu verknüpfen und zentral zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne kann etwa ein gemeinsames Portal, ähnlich dem Projekt des "Jewish Women's Archive", ein erster Schritt in diese Richtung sein.
Literatur:
Es ist geplant, die Kolloquiumsbeiträge Ende 2006 in einem Sammelband zu veröffentlichen.
Preserving Jewish Archives as part of the European Cultural Heritage. Proceedings of the Conference on Judaica Archives in Europe, for Archivists and Librarians. Potsdam, 1999, 11-13 July. Hg. v. Jean-Claude Kuperminc/Rafaele Arditti. Paris 2001.
http://www.thejewishweek.com/news/newscontent.php3?artid=9231 (Bericht zur Tagung in New York 2004)
Honigmann, Peter: Geschichte des jüdischen Archivwesens in Deutschland, in: Der Archivar 55 (2002), Heft 3, S. 223-230.
Ders.: Ein Jahrhundert jüdisches Archivwesen in Deutschland, in: Archive und Gesellschaft. Referate des 66. Deutschen Archivtags. Siegburg 1996, S. 129-142.
Schulle, Diana: Das Gesamtarchiv der deutschen Juden und die Zentralstelle für jüdische Personenstandsregister, in: Herold-Jahrbuch, N.F. Bd. 9. Neustadt/Aisch 2004.
Anmerkungen:
1 Vom 11.-13. Juli 1999 fand eine vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam veranstaltete Konferenz unter dem Titel "Jewish Heritage" statt, vorwiegend mit europäischer Blickrichtung; vom 23.-25. März 2004 tagte in New York auf Einladung der"Conference on Jewish Material Claims against Germany" das: "International Shoa Archivists Working Forum".
2 Siehe zum Tagungsprogramm die Ankündigung in: hsozkult von Anfang Juni 2005.