Netzwerke betrieblicher und lokaler Eliten in der DDR als Institutionen der Stabilisierung und des Ausgleichs zentralwirtschaftlicher Defizite?

Netzwerke betrieblicher und lokaler Eliten in der DDR als Institutionen der Stabilisierung und des Ausgleichs zentralwirtschaftlicher Defizite?

Organisatoren
Projektgruppe „Sozialismus als soziale Frage“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Schwan (Hamburg)

Unter dem Titel "Netzwerke betrieblicher und lokaler Eliten in der DDR“ veranstaltete die Projektgruppe „Sozialismus als soziale Frage“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) am 6. Juni 2005 einen Workshop. Im Mittelpunkt des Workshops standen Fragen nach den Funktionsweisen lokaler Kooperationsbeziehungen, ihren Akteuren und Handlungsmotiven. Diskutiert wurde außerdem die schwierige Quellenlage auf deren Grundlage eine empirische Untersuchung informeller Netzwerke überhaupt erst möglich ist.

Begrüßt wurden die Teilnehmer von Annette Schuhmann (ZZF), die das Projekt zur Untersuchung von Netzwerk-Strukturen derzeit am Zentrum für Zeithistorische Forschung bearbeitet. In ihrem Eröffnungsvortrag stellte Schuhmann den aktuellen Bearbeitungsstand ihrer Forschungen vor. In ihrer Untersuchung geht sie davon aus, dass sich trotz der Einbindung der Betriebe in die Partei- und Staatsbürokratie Kooperationen zwischen Kombinaten und Betrieben auf der einen Seite und den Kommunen auf der anderen Seite ergaben, die jenseits der zentralistischen Strukturen in einem quasi sublegalen Raum agierten. Diese Kooperationsbeziehungen dienten vor allem dem Ressourcenausgleich beziehungsweise der Bewältigung sozialpolitischer Problemlagen auf lokaler Ebene. Von der Zentrale geduldet, hatten diese Arrangements offenbar ausgleichende und stabilisierende Funktionen. Im Rahmen dieses Projektes untersucht Schuhmann, wie solche Netzwerke innerhalb der Strukturen des zentralistischen Staates und der zentral geleiteten Planwirtschaft entstanden sind, wie groß der Handlungsspielraum der Akteure war und wie deren Motivationen begründet waren. Mit ihren Fragestellungen knüpft sie an die neuere Netzwerkforschung an, hier in erster Linie an die Forschungsergebnisse der Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmenshistoriker und Soziologen. Dabei geht sie von einem Netzwerkbegriff aus, der die Kooperationsformen von Unternehmen zu externen Institutionen beschreibt.
Im Ergebnis der Untersuchungen wird die Frage zu klären sein, ob mit Hilfe lokaler Netzwerke und ihren, mit großen unternehmerischen Energien agierenden Akteuren das staatssozialistische System zumindest mittelfristig stabilisiert wurde und ob das stille Einverständnis der Führungselite mit diesem Phänomen Zeichen für eine Abkehr von der Idee flächendeckender zentralisierter Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik war.

Im Anschluss daran gab Peter Hübner (ZZF) einen Überblick über Netzwerkphänomene im historischen Vergleich und über die methodischen Aspekte ihrer Untersuchung. Die Relevanz des Themas begründete er mit einem Hinweis auf nachweisbar historische Kontinuitäten, mittels derer lokale Netzwerke über Systemgrenzen hinweg agierten. Zur Diskussion stellte er zudem die Frage, ob Arrangements zwischen Betrieben und Kommunen in der DDR eine spezifisch sozialistische Version korporatistischer Strukturen darstellten.
Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas) skizzierte theoretische Ansätze und methodische Probleme die geeignet wären, empirische Studien zu lokalen Netzwerken und Betrieben in der DDR durchzuführen. Dabei verwies er auf das Modell der Interorganisationsnetzwerke, in denen die Verteilung von Ressourcen und Interessen abhängig vom jeweiligen Kontext ist, der wiederum von den Akteuren beeinflusst wird. In staatssozialistischen Gesellschaften komme dementsprechend, so Bauerkämper, Netzwerk-Akteuren eine besondere Rolle zu. So genannte Schwerpunkt-Betriebe waren in der Lage, aufgrund ihrer privilegierten Ressourcenzuweisungen, eine Kooperation mit den Kommunen zu verweigern, was diesen umgekehrt kaum möglich war. Für problematisch hält Bauerkämper allerdings die Identifikation der Akteure und die Rekonstruktion ihres Handelns in diesen meist informellen Arrangements. Aus diesem Grunde plädiert er für die Durchführung von Interviews bei der Analyse lokaler Netzwerke.

Nachdem im ersten Teil des Workshops theoretische und methodische Probleme historischer Netzwerkanalysen im Zentrum der Diskussionen standen, widmeten sich die Teilnehmer/innen des Workshops im zweiten Teil empirischen Ergebnissen aus dem Bereich der DDR-Forschung.
In ihrem Beitrag „Zentrale Vorgabe oder betriebliche Eigeninitiative? Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den sechziger Jahren“ untersuchte Jeanette Madarasz (Berlin) das Ausmaß der Gestaltungsspielräume von Betrieben im Bereich der Sozialpolitik. In ihren Untersuchungen am Fallbeispiel des Berliner Glühlampenwerkes stellte Madarasz fest, dass Arrangements zwischen Betriebsleitungen und Kommunen seit den siebziger Jahren zum festen Repertoire von Lösungsstrategien bei der Bewältigung sozialpolitischer Problemlagen gehörten.
Georg Wagner Kyora (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) stellte eine Untersuchung der technischen Elite der Bunawerke in den 1970er und 1980er-Jahren vor. Grundlage seiner Studie sind Quellen aus den Beständen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dabei handelt es sich in erster Linie um Berichte Informeller Mitarbeiter aus den Reihen der Belegschaft. Wagner-Kyora zeigte am Beispiel einer, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung privilegierten Abteilung der Buna-Werke, dass Netzwerke wenn auch kontrolliert, so doch von Partei und Staat als Innovationselement toleriert wurden.
Annette Wilczek (Bonn) richtete den Fokus ihrer Untersuchung auf die Kooperationen der Betriebe mit lokalen Entscheidungsträgern im Bereich der Wohnungsversorgung. Ziel der betrieblichen Wohnungspolitik war die Erhaltung einer qualifizierten Stammbelegschaft und die Gewinnung neuer Arbeitskräfte. Auf der Grundlage von Verhandlungsprotokollen zwischen Kombinaten und Kommunen untersucht Wilczek die Interessenpolitik einzelner Betriebe in den 1970er-Jahren. Dabei waren auch hier die Verhandlungspositionen der Betriebe gegenüber den Kommunen in erster Linie abhängig vom Grad der Privilegierung, der ihnen von der Zentrale zugewiesen wurde.

Im dritten und letzten Teil des Workshops konzentrierten sich die Beiträge auf den osteuropäischen Vergleich. So stellte Peter Heumos (Moosburg) seine Studien über tschechische Industriebetriebe im Zeitraum von 1945 bis1968 vor. Die von ihm analysierten Machtverhältnisse innerhalb der Betriebe stellten langfristige und zum Teil sogar subversive Allianzen dar. Heumos veranschaulichte dies mittels Einzelfallstudien und zeigte am Beispiel eines Hüttenwerkes, wie sich über einen Zeitraum von 15 Jahren Arrangements zwischen Betriebs- und Wirtschaftsfunktionären bildeten. Diese Allianzen agierten ausschließlich zugunsten einer Effektivierung der Produktion. Heumos wies zudem am Beispiel tschechischer Betriebe informelle Arrangements zwischen Betriebsleitung und Belegschaft nach, wobei beide Seiten einen sogenannten „Planerfüllungspakt“ eingingen. Heumos hob hier die entscheidende Rolle der Lohnkommission hervor, die die Vermittlung von Arbeitnehmerinteressen an die Adresse des betrieblichen Managements ermöglichte.
Einen Blick nach Polen ermöglichte Malgorzata Mazurek (Warschau), die ihre Untersuchung von Netzwerken betrieblicher und lokaler Eliten in der Gierek-Ära (1971–1980) vorstellte. Für ihre Studien konnte Mazurek auf umfangreiche soziologischer Analysen aus den 1970er-Jahren zurückgreifen. Mazurek legte dar, wie sich im Zuge umfassender Verwaltungsreformen bis Mitte der 1970er Jahre die administrativen Strukturen in Polen veränderten. In der Folge wurde die Autonomie lokaler Behörden stark begrenzt und schließlich die lokale Verwaltung von Betrieben grundsätzlich aufgehoben. Der Stagnation und dem Niedergang der polnischen Wirtschaft, die nun folgten, begegneten lokale Partei- und Verwaltungsfunktionäre mit der Bildung von Netzwerken. Ab Mitte der 1970er-Jahre entstanden auf lokaler Ebene, in relativer Autonomie, so genannte Betriebsleiterräte, die gleichsam einen neuen Typus lokaler Netzwerke bildeten. Die Betriebsleiterräte entwickelten sich vor allem in Städten mit hohem industriellen Potential, sie organisierten die gegenseitige Hilfe unter den Betrieben und mobilisierten Ressourcen zugunsten lokaler Infrastrukturen, nicht zuletzt unter Nutzung politischer Seilschaften. Diese Initiativen wurden von der Zentrale geduldet, obgleich es sich hierbei um inoffizielle und informelle Kooperationen handelte. Ab Mitte der 1980er-Jahre wurden mit der Gründung der Solidarnósc viele Initiativen lokaler Netzwerke aufgelöst. Fortan führte die Solidarnósc Gespräche und Verhandlungen mit lokalen Administratoren.

In der Abschlussdiskussion waren sich die Tagungsteilnehmer einig darüber, dass die konkrete Beschreibung und Analyse lokaler Netzwerke eine umfassende Sichtung aller in Frage kommenden archivarischen Überlieferungen erfordert. Schwierigkeiten ergeben sich aus dem zum Teil informellen Charakter der Netzwerke und der Tatsache, dass diese in der Regel, jenseits der zentral strukturierten Kommunikationskette angesiedelt waren. Generell war man sich einig darüber, dass der Netzwerk-Begriff zur Beschreibung lokaler Arrangements in staatssozialistischen Gesellschaften durchaus geeignet sei, auch wenn noch einige begriffliche Unschärfen bestehen. Ihr Aktionsfeld hatten lokale Netzwerke vorrangig auf sozialpolitischen Feldern. Ihr Erfolg war abhängig von der Motivation der Akteure, wobei diese nicht nur aufgrund des Mangels, sondern ebenso aufgrund eines möglichen Prestigegewinns agierten. Lokale Netzwerke stabilisierten staatssozialistische Gesellschaften zumindest vorübergehend.
Als wichtigster Impuls für die Vernetzung auf lokaler Ebene gilt das Motiv des Ausgleichs von Funktionsdefiziten der zentral gelenkten Wirtschaft. Mit der Existenz lokaler Netzwerke wurde der systemische Anspruch der SED-Führung nach diktatorischem Planungs- und Verfügungsrecht unterlaufen. Eine der interessantesten Fragen im Rahmen der hier vorgestellten Netzwerk-Studien muss zur Zeit jedoch noch offen bleiben: Lassen sich am Phänomen lokaler Netzwerke in staatssozialistischen Gesellschaften Formen der Resignation der Parteiführungen gegenüber zentralwirtschaftlicher Krisensymptome in der Stagnations- beziehungsweise Niedergangsphase feststellen? Oder galt die Existenz lokaler Netzwerke, zumindest in den 1980er-Jahren, als mögliche handlungsstrategische Lösung von Verteilungsproblemen und wurde daher, wenn auch nicht forciert, so doch geduldet. Es ist jedoch zu erwarten, dass diese Fragen im Rahmen des Potsdamer Forschungsprojektes eine Antwort finden werden. Die nächste Tagung zur Netzwerk-Problematik ist bereits geplant.


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