Traum und Politik. Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa des Barock

Traum und Politik. Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa des Barock

Organisatoren
Prof. Dr. Peer Schmidt (Universität Erfurt); Prof. Dr. Gregor Weber (Universität Augsburg)
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.10.2005 - 15.10.2005
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Von
Stefan Paulus, Augsburg

Die von der Gerda Henkel Stiftung, der Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg und der Kurt Bösch Stiftung (Augsburg) geförderte Tagung hatte sich eine innovative Thematik vorgenommen. Untersucht werden sollte die Relevanz von Träumen als Deutungsmuster sozialer und politischer Ordnung im Europa des Barock, wobei auch die vor dieser maßgeblich im 17. Jahrhundert angesiedelten Epoche entstandenen Grundlagen sowie die nachbarocke Entwicklung zu beachten waren. Zur Sprache kommen sollten mithin sowohl die vielfältigen Textsorten und ästhetischen Ausdrucksformen - handgeschriebene und gedruckte Chroniken und Traumberichte, Ego-Dokumente, Theaterstücke, Gemälde sowie Graphiken usw. - der Überlieferung ‚wahrer' oder fiktiver Träume und die aus der Antike stammenden Traumauslegungstexte und -deutungspraktiken als auch die Ursachen, Anlässe, Formen, Absichten und Wirkungen der in je spezifischen historischen Umständen mit kurz-, mittel- oder langfristiger Geltungsperspektive erfolgten Traumdeutungen.

Der Einführungsvortrag des Tagungsleiters Gregor Weber (Alte Geschichte, Augsburg), explizierte und problematisierte diesen weitgesteckten Ansatz auf einer pragmatischen Ebene. Bereits die Antike entwickelte eine ausgefeilte Traumtheorie und Ansätze zur methodischen Traumdeutung, betrachtete Träume als historische Quellen und ließ im sozio-politischen Kontext eine Vielzahl von Träumern auftreten - ein politisch-gesellschaftliches Legitimationsmuster, das mit seiner Funktion der Prophetie kollektiver Schicksale bis in die Neuzeit und eben bis zum Barock fortwirkte. Auf sie gehen eine ganze Reihe zentraler Definitionsmerkmale und Fachbegriffe zurück. Schon sie beteiligte die Medizin am Traumdiskurs und brachte deshalb eine Deutungsrichtung hervor, die in der Frühen Moderne zunehmend an Bedeutung gewann. Der Vortrag bot darüber hinaus einen kompakten Überblick zur Überlieferung und zum in Renaissance und Barock bestehenden Angebot ursprünglich heidnisch-antiker, dann zumindest teilweise verchristlichter, im Zuge von Humanismus, Reformation und Konfessionalisierung nochmals anders kontextualisierter und interpretierter Traumbücher, also Traumdeutungslehren.

Die von Silvia Serena Tschopp (Europäische Kulturgeschichte, Augsburg) geleitete Sektion Der mentale Spiegel: Träume in der Literatur und Kunst vereinigte insgesamt fünf Beiträge. Gerhard Poppenberg (Romanistik, Heidelberg) befasste sich mit der nach Ausweis der Motivik ihrer Literatur insgesamt und der ästhetisch-literarischen Qualität ihrer einschlägigen Leitwerke frühneuzeitlich möglicherweise bedeutendsten Traumkultur, nämlich derjenigen Spaniens. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand naturgemäß Calderón de la Barcas 1636 entstandenes Werk Das Leben ist ein Traum, dessen Deutung nicht nur zeitgeschichtlicher, sondern auch traumgeschichtlicher Kontextualisierung bedarf. Bernhard Teuber (Romanistik, München) wandte sich dem üblicherweise wegen seiner angeblich besonders entwickelten Rationalität als Gegenmodell empfundenen französischen Fall zu und arbeitete an einer von Descartes bis Racine reichenden Aussagenreihe heraus, dass auch dort sowohl Traumberichte und Traumapologie als auch mehr oder weniger massive Traumkritik begegnen. Einen ebenfalls durchaus hohen Stellenwert des Traumes konnte auch Andreas Höfele (Anglistik, München) bei Shakespeare konstatieren; Shakespeares Aneignung und Nutzung dieses Motivs erfolgte offenbar in engem Bezug zur zeitgenössischen Traumwahrnehmung und -einschätzung selbst in der Medizin. Manfred Engel (Germanistik, Saarbrücken) kam nach seiner Durchmusterung eines breiten barocken Gattungsbestands der deutschen Literatur zu einem eher ambivalenten Ergebnis. Im (vor allem: protestantischen) Deutschland wurde das Traummotiv zwar ebenfalls eingesetzt, aber offenkundig doch zurückhaltender als anderorts. Eine literarische Befassung mit dem natürlichen Traum - im Gegensatz zum deshalb besonders interessanten übernatürlichen - sei erstmals 1689 bei Christian Reuter erfolgt. Der von Jan Harasimovicz (Kunstgeschichte der Renaissance und der Reformation, Wroclaw) souverän präsentierte Abendvortrag bot einen höchst aufschlussreichen Einblick in die Thematisierung des Traums in der Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem im politischen Zusammenhang.

Der zweite Konferenztag wurde mit der Sektion Traum und konfessionell-politische Ordnung eröffnet, die Johannes Burkhardt (Geschichte der Frühen Neuzeit, Augsburg) leitete. Den ersten Sektionsvortrag bestritt Claire Gantet, derzeit am Historischen Kolleg in München forschende Habilitandin aus Paris. Er befasste sich mit dem Traum als politischem Medium im krisenhaften Frankreich zwischen 1560 und 1620. Die Vortragende, deren im Entstehen begriffene Habilitationsschrift einen Beitrag zur deutschen Traumgeschichte liefern wird, rekonstruierte systematisch die verschiedenen zeitgenössischen Traumauffassungen und -einschätzungen und legte dar, wie auf dieser Grundlage und im Kontext zeitgenössisch aktueller politisch-sozialer Bedürfnisse ebenso unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Traum und den Träumenden entstanden. Als eine wesentliche, auf die Zukunft weisende Entwicklung nannte sie die Individualisierung des Träumens und des mit dem Träumen verwandten Wahnsinns mit der Folge zumindest tendenzieller Stilllegung des mit dem Traum verbundenen ordnungsstörenden Potentials.

Ein Desiderat zur Geschichte des Traumes füllte der anschließende Vortrag des Tagungsleiters Peer Schmidt (Südwesteuropäische und Lateinamerikanische Geschichte, Erfurt) aus, der sich mit den Träumen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges beschäftigte. Dabei wurde erkennbar, dass das Potential (retro-)prognostischer Träume auf der Ebene der Flugblattpublizistik intensiv politisch genutzt wurde. Dies begann schon im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges deutlich zu werden, als das inzwischen von der Forschung als kriegstreibend eingestufte Lutherjubiläum von 1617 von einem mehrfach aufgelegten illustrierten Flugblatt "Der Traum Friedrichs des Weisen über den Thesenanschlag Luthers" begleitet wurde. Mitunter ist - wie bei illustrierten Flugblättern nicht anders zu erwarten - die Symbolsprache schwer entschlüsselbar, so bei dem von Schweden zur Legitimation des Kriegseintrittes 1630 und 1631 aufgelegten Traum von der Rettung der lutherischen Kirche. Solchermaßen wird die rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung teilweise erschwert. Konzentrierte sich der Beitrag von Peer Schmidt - gleichsam in Verfolgung antiker Traditionen - auf die politisch-herrschaftslegitimatorischen Aspekte zwischen 1618 und 1648, so beleuchtete der Vortrag von Ulman Weiß (Geschichte der Frühen Neuzeit, Erfurt) die Präsenz und Einschätzung des Traumes in den theologischen Diskussionen des deutschen Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. Insbesondere zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges wurde diese Auseinandersetzung (erneut) intensiv geführt. Luther selbst nahm eine ambivalente Haltung ein, weil er einerseits die Möglichkeit einer direkten Ansprache des Gläubigen durch Gott im Traum nicht ausschließen wollte, andererseits die Nutzung des Traums durch den Teufel fürchtete. Seine Anhänger teilten diese Ambivalenz; die lutherische Theologie befasste sich nur gelegentlich mit diesem Thema. Diese Gelegenheit war insbesondere immer dann gegeben, wenn Menschen sich auf prophetische Traumgesichter beriefen und deshalb zu prüfen war, ob göttliche Eingebung oder teuflische Einflüsterung vorlag. Marion Kintzinger (Münster) vertiefte diese Perspektive alltags- und mentalitätsgeschichtlich. Sie konnte nachweisen, dass die einfachen Menschen sich insbesondere bei ihren biographisch entscheidenden Einschnitten Heirat und Tod verbreitet Hoffnung, Tröstung oder auch Bestrafung Dritter, in dieser oder jener Weise Schuldiger, als Rächung, durch den bzw. zumindest im Traum versprachen. Diesen eigenen soziokulturellen Nutzanwendungen des Traums standen anhaltende obrigkeitliche Disziplinierungs- und Mobilisierungsversuche durch publizierte angebliche oder tatsächliche Träume bevorzugt von Elitenangehörigen gegenüber. Der Versuch der Obrigkeiten, die Träume der einfachen Menschen als subjektive Einbildungen abzutun und dadurch ihres störenden Potentials zu berauben, musste jedoch auch auf die Glaubwürdigkeit der obrigkeitlich vermittelten Träume durchschlagen.

Die vierte Konferenzsektion war dem Traum als politisch-imperialer Legitimation gewidmet. Ihren ersten Teil leitete Aloys Winterling (Alte Geschichte, Freiburg i.Br.) Erster Redner war Martin van Gelderen (Europäische Ideengeschichte, Florenz). Er vertrat anhand sowohl von Text- als auch Bildquellen die These, dass die verbreitete Annahme, Holländer hätten im Goldenen Zeitalter ihrer Republik "nicht geträumt", sondern sich tatkräftig und rational ihren Geschäften gewidmet, nicht zutreffe. Vielmehr habe man keineswegs auf die aus Träumen und Visionen resultierenden Mobilisierungseffekte verzichtet, diese jedoch bevorzugt auf Alltag und Familie fokussiert. Nicht unmittelbar bezogen auf Staat und Politik wurde demzufolge im Holland des 17. Jahrhunderts geträumt, sondern direkt bezogen auf die eigenen Lebensverhältnisse, woraus sich mittelbar ein politischer Nutzeffekt für die junge Republik ergab. In ein außerordentlich breites Problemfeld leuchtete der anschließende Vortrag von Horst Carl (Geschichte der Frühe Neuzeit, Gießen) zu den imperialen Träumen des Hauses Habsburg. Die zahlreichen und vielfältigen Träume, die in und im Umfeld der Dynastie Habsburg entstanden sein dürften, müssen erst noch erschlossen werden. Der exemplarische Fall aus dem 18. Jahrhundert, den sich der Redner vornahm, lässt eine komplexe Gemengelage religiöser und politisch-ideengeschichtlicher Motivik und medial-kommunikativer Geltung ebenso erkennen wie ein Anhalten der Bestrebung, Träume politisch zu nutzen. Dass eine systematische Befassung mit dem Konferenzthema auch die Thematisierung des Traums in der Musik berücksichtigen müsste, belegte das präsentierte Beispiel aus dem Schaffen Mozarts.

Den Blick der Konferenzteilnehmer nach Norden richtete der Vortrag von Holger Berg (Kopenhagen/Florenz). Er wies anhand einer Durchmusterung einschlägiger relevanter Manuskript- und Drucksammlungen eine nur sehr beschränkte Präsenz und Bedeutung politischer Träume für das lutherische Skandinavien des 17. und 18. Jahrhunderts nach. Die Erklärung dieses auffälligen Befundes kann offenbar nur im Rahmen einer umfassenden Anaylse der politischen Kultur Skandinaviens in dieser Epoche erfolgen, die bisher erst in Ansätzen geleistet ist. Noch deutlicher wurde das entsprechende Forschungsdefizit im Falle Polens, worüber Janusz Mallek (Geschichte der Frühen Neuzeit, Torun) berichtete. Der Redner beschränkte sich auf den Nachweis der Potenzialität von Großmachtträumen in der Adelsrepublik Polen-Litauen im 17. Jahrhundert und erörterte die Annahme, dass derartige Visionen in diesem Fall eher aus mythisch-historischen Ansätzen, so dem zeitweilig messianisch angereicherten Samartismus, abgeleitet wurden.

Der zweite Teil der vierten Sektion wurde von Martin Zimmermann (Alte Geschichte, München) geleitet. Ihr erster Beitrag befasste sich mit dem im Buch Daniel überlieferten Traum des Nebukadnezar über die vier Weltimperien und dessen Deutungen im frühneuzeitlichen Reich, dargeboten von Wolfgang E.J. Weber (Europäische Kulturgeschichte, Augsburg). Die Danielvision war ein wesentlicher Bestandteil der heils- und profangeschichtlich-mythischen Selbstpositionierung und Selbsteinschätzung der Reichseliten sowie in noch ungeklärtem Ausmaß auch anderer Reichsangehöriger. Sie entfaltete zeitweilig offenbar zumindest mittelbare Handlungsrelevanz und wurde auch im Zuge ihrer fortschreitenden wissenschaftlichen Zersetzung nicht völlig aufgegeben, sondern zumindest für den Gebrauch gegenüber den einfacheren Untertanen beibehalten. Auch William O'Reilly (Geschichte der Frühen Neuzeit, Cambridge) konnte für seinen Beobachtungsbereich, England, eine erhebliche Zahl politisch bedeutsamer Träume, vom Mittelalter bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert, nachweisen. Diese Träume dienten nicht nur europäischen und außereuropäischen Expansions- und Machtbestrebungen der Eliten, sondern weisen auch eine soziale Komponente auf: im Traum konnten die sozialen Schranken überwunden, sozialer Aufstieg imaginiert werden. O'Reilly berührte mit den Träumern, die protestantischen Minderheiten angehörten und in die englischen Kolonien emigrierten, die atlantische Dimension dieses Themenkomplexes, eine Frage, die immer wieder auch in anderen Vorträgen und Debattenbeiträgen aufgeworfen wurde.

Der fulminante Abschlussvortrag von Peter Burschel (Geschichte der Frühen Neuzeit, Freiburg i.Br./Berlin) ging von einem der bedeutendsten literarischen Beiträge zum Traum überhaupt aus, L'an 2440 ou Rêve s'il en fut jamais des Pariser Schriftstellers und Dramaturgen Louis Sébastien Mercier, erschienen erstmals 1771. Er verdeutlichte den Aufstieg des aufgeklärten Rationalismus und den Erfahrungsdruck, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Traum und Vernunft in ein neues Bezugsverhältnis zueinander setzten und u.a. die Zukunftsutopie, die "Verzeitlichung von Perfectio-Idealen" (R. Koselleck) als neue Denkform hervorbrachten.

Die Abschlussdiskussion konnte sich vor dem Hintergrund dieser Kenntnishorizonte auf die Erarbeitung weiter führender Fragen sowie von Vorschlägen zur Gestaltung eines einschlägigen Sammelbandes konzentrieren. Diese geplante Kollektion wird voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 oder Anfang 2007 in der Buchreihe Colloquia Augustana des Instituts für Europäische Kulturgeschichte erscheinen können.

Zusammenfassend betrachtet ist es der Augsburger Tagung auf höchst eindrucksvolle Weise gelungen, die besondere Relevanz von Träumen als Deutungsmuster sozialer wie auch politischer Ordnung im Europa des Barock aus unterschiedlichen Perspektiven auszuleuchten. Zu diesem Erfolg trug in erster Linie das äußerst fruchtbare und sich gegenseitig ergänzende interdisziplinäre Zusammenwirken von Historikern, Kunsthistorikern sowie Literatur- und Sprachwissenschaftlern bei.


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