Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften
Unter diesem Titel hatten Dietmar Neutatz (Freiburg), Julia Obertreis (Freiburg) und Anke Stephan (München) eine junge internationale Wissenschaftlergruppe in das Studienhaus Wiesneck bei Freiburg zu einer Konferenz eingeladen, die von der Fritz Thyssen sowie der ZEIT Stiftung unterstützt wurde. Die aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geladenen Referenten – von Kulturanthropologen, Ethnologen, Soziologen bis zu Historikern – vereinte, dass sie sich auf qualitative Interviews als Hauptquelle ihrer Forschungen stützten und damit von ihrer im Fokus stehenden historischen Periode immer einen Bogen zur Gegenwart in einem postsozialistischen Land schlugen, aus der die Wahrnehmungen und Erinnerungen stammten. Die Konferenz war in fünf thematische Sektionen eingeteilt, zu der neben den Referenten jeweils ein internationaler Experte oder eine Expertin als Kommentator/in eingeladen war. Intention der Konferenz war der Austausch über verschiedene methodische Fragen (Art der Interviewführung und diesbezügliche Erfahrungen sowie Theorien über Erinnerungsprozesse). Eine der zentralen Fragen war hierbei, ob es länderübergreifend typische „sozialistische“ Erzählmuster gibt, die sich aus der Prägung von Menschen in gelenkten Öffentlichkeiten bzw. hier speziell Gesellschaften „sowjetischen Typs“ herausgebildet haben und in welchem – möglicherweise dialektischen – Zusammenhang diese zu individuellen Sichtweisen stehen.
„Systemwechsel, Identitätskonstruktionen und aktuelle Debatten um die Vergangenheit“
Die erste Sektion tangierte die im Einführungsvortrag von Alexander von Plato (Lüdenscheid) aufgeworfene Frage nach den mentalen Kontinuitäten nach 1989/90 gleich in mehrfacher Hinsicht. So erklärte Sidonia Grama aus Cluj/Klausenburg (Rumänien) die rumänische Revolution durch ihren Nachhang an traumatischen Erinnerungen der Bevölkerung und konkurrierende öffentliche Diskurse um ihre Entstehung als nur „de facto“ beendet. Meike Wulf (Braunschweig/London), die sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit intensiv mit Geschichtskultur und Gegengedächtnissen im post-sowjetischen Estland beschäftigt, zeichnete die verschlungenen Wege der Kontinuität auf, indem sie mit estnischen und russischen Historikern in Estland sprach und sich deren Rolle im historischen Diskurs vor und nach 1989 näherte. Dabei setzte sie die individuellen Biographien in Bezug zum öffentlichen Diskurs, der zum Teil von denselben Personen geprägt wurde, und fragte nach Auswirkungen der verschiedenen militärischen Okkupationen und der Sowjetzeit auf die Lebensgeschichten der Historiker. Kobi Kabalek (Beer Sheva/Berlin) und Christien Muusse (Amsterdam) nahmen Ostdeutschland in den Blick. Kabalek beleuchtete die Darstellung der NS-Zeit in der Erinnerung junger Deutscher aus der ehemaligen DDR. In seiner mikrohistorischen Studie stellte er fest, dass sich in den Erinnerungsnarrativen der Jugendlichen tatsächlich noch DDR-Geschichtsbilder widerspiegeln; doch genauso gibt es viele andere, zum Teil bewusster rezipierte Quellen, die als Referenzpunkte für bestimmtes „Wissen“ genannt werden, beispielsweise der Film „Schindlers Liste“. Indem er sich vor allem für die Quellen interessiert, die die Befragten für ihr Wissen nannten, kann er aufzeigen, wie vielseitig die Prozesse der Erinnerungsbildung und die damit verbundenen Probleme sind. Christien Muusse, Kulturanthropologin, legte ihren Focus umgekehrt auf die ältere Generation und aktuelle Identitätsbildungsprozesse in der DDR. In ihrer exemplarischen Gegenüberstellung zweier an sich konträrer Lebensgeschichten (die eines Fabrikarbeiters und überzeugten DDR-Bürgers und die einer in der Kirche aktiven Oppositionellen) stellte sie als doch augenfällige Gemeinsamkeit das gegenwärtige Gefühl des „displacement“ fest. Nostalgie scheint für diese Generation die einzige Möglichkeit zu sein, den „gap“ zum neuen System zu überspringen, in dem es an Anknüpfungspunkten für die eigene Identität fehlt.
In der Diskussion zu dieser Sektion – angeregt durch den vor allem im Hinblick auf die Methode sehr kritischen Kommentar von Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung – wurde vor allem das von Muusse eingeführte Moment des „displacement“ aufgegriffen, das für viele in ihren Interviews zu beobachten war. Es wurde festgestellt, dass gerade das Auffinden von Brüchen in einer vermeintlich glatten Lebensgeschichte den Erkenntnisinteressen der Oral Historians entspreche. Ein weiterer Diskussionsschwerpunkt war die von Jureit aufgeworfene Frage, ab wann man über auch jüngste historische Ereignisse Interviews führen könne. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob die von Jan Assmann vorgenommene Trennung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis tatsächlich sinnvoll ist.
„Das Erbe der Emanzipation ´von oben´: Weibliche Erfahrungen und Geschlechterrollen im Sozialismus und Postsozialismus“
Die zweite Sektion beleuchtete höchst unterschiedliche Aspekte zum Thema „Frauen“ und „Weiblichkeit“. Julia Gradskova (Stockholm) zeigte anhand der Erinnerungen von Frauen über Schönheit und Mutterschaft in den 1930er bis 1960er-Jahren, wie die offiziellen Diskurse zu diesen Themen in individuellen Erinnerungen unterlaufen wurden. Gerade in ethnisch verschiedenen Gruppen sei an traditionellem Verhalten trotz einer anders propagierten „Normativität“ festgehalten worden. Ähnliches stellte auch Anna Tikhomirova (Bielefeld) in ihrer Studie über Mode und Kleiderkonsum in der DDR und der Sowjetunion vor: Es habe sich immer um ein Changieren zwischen den Anforderungen und vorgegebenen „Moden“ einerseits und einem „Eigensinn“ in täglichen Praktiken und Moden andererseits gehandelt. Oksana Kis aus L´viv (Ukraine) führte die unterschiedliche historische Erinnerung und politische Wahrnehmung in verschiedenen Regionen der Ukraine vor: Während Zeitzeuginnen der Westukraine ihr Leben in „vor den Sowjets“, „während den Sowjets“ und „nach der ukrainischen Unabhängigkeit“ einteilen, würde gerade letztere Epoche für die in der Ost- und Südukraine Aufgewachsenen, die nie ein anderes als das sowjetische System kennen gelernt hatten, einen starken Orientierungs- und Identitätsverlust bedeuten (oder in Anlehnung an die erste Sektion ein displacement), das sie frühere leidvolle Situationen relativieren lässt. Damit führte die Referentin sehr eindrücklich die soziale und historische Bedingtheit der Erinnerung vor Augen. Michaela Potancoková, Demografin aus Prag, verglich Familienplanung in der Slowakei vor und nach der „Wende“ und erweiterte klassische demographische Methoden um Tiefeninterviews, um auch den Mentalitätswandel und die Änderungen kultureller Normen, die den Veränderungen nach 1990 zu Grunde liegen, nachvollziehbar zu machen (starker Rückgang von Abtreibungen, Verwendung von Verhütungsmitteln etc.). Dilyana Ivanova aus Ruse (Bulgarien) schloss die Sektion mit einem ebenfalls über die „Wende“ hinausgehenden Blick auf die Veränderungen der sozialen Rollen von in der Industrie arbeitenden Frauen in Ruse. In ihren offenen Interviews werden sehr viele für das Leben dieser Frauen bestimmende Aspekte thematisiert, so dass diese Arbeit auch die Chance der Oral History vor Augen führt, Themen zu eruieren, die von Historikern bislang kaum beachtet wurden, obgleich sie für das Leben der Menschen eine große Rolle spielen.
Ausgangspunkt des Kommentars von Natali Stegmann (Tübingen) war die Feststellung Gradskovas und Tikhomirovas, dass in weiblichen Lebensgeschichten offizielle Narrative bisweilen „unterlaufen“ werden. Stegmann warf die Frage auf, ob dies möglicherweise auf das Setting der Interviews und die mangelnde anthropologische Distanz zurückgehe oder es tatsächlich bestimmte – weibliche – Erzähl- und Kommunikationstraditionen in sozialistischen Gesellschaften gegeben habe, die „alternatives“ Erinnern ermöglichten. Wie Potancoková unterstrich, lässt sich aus den Interviews rekonstruieren, dass es Kommunikationsräume gab, in denen sich Frauen verschiedener Generationen über weibliche Erfahrungen wie Schwangerschaft, Geburt oder Mutterschaft austauschten. So interessant dieser Befund ist, so beinhaltet er laut Stegmann jedoch auch eine Denkfalle: Warum werden gerade Themen wie Mode, Schönheit und Mutterschaft unter Gender-Aspekten betrachtet? Wie standen Männer dazu? Sind die Erinnerungen der Frauen immer zwangsläufig gendered? Diesen Fragen könnte durch vergleichende Studien tiefer auf den Grund gegangen werden. Die Referate machten in der Zusammenschau noch einmal deutlich, dass der Sozialismus Frauen neue Chancen und Handlungsräume eröffnete. Wie Stegmann im Kommentar feststellte, spielte die Vorstellung von einer „Emanzipation“, wie sie der Titel des Panels suggerierte, in den Interviews jedoch keine Rolle. Hier wird also weiter zu forschen sein, welche Auswirkungen offizielle Frauen- und Geschlechterbilder auf die Selbstwahrnehmung der Individuen hatten.
„Konkurrierende Geschichtsbilder: öffentliches und privates Erinnern, regionale und nationale Identitäten“
Die dritte Sektion wurde von Silvija Kavcic (Berlin) eingeleitet, die sich mit Kollektiven und privaten Erinnerungen slowenischer Überlebender des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück auseinandergesetzt hat. Während ihr Fokus auf der Haftzeit lag, in der sie innerhalb der Interviews spannungsreiche Aussagen zu der – im kollektiven Gedächtnis geprägten – „Solidarität“ der Slowenen im Lager einerseits und andererseits zu Neid und schlechtem Verhalten ausmacht, hatte in ihren Augen für die Befragten selbst die Nachkriegszeit eine höhere Revelanz: Handelt es sich hier um einen Verdrängungsmechanismus? Ekaterina Melnikova, Ethnologin und Historikerin aus St. Petersburg, zeichnete ein fast idyllisches Bild von den interethnischen Beziehungen zwischen Russen und Finnen im (seit 1947 offiziell) russischen Karelien. Die während und nach dem Zweiten Weltkrieg dort nach der Vertreibung der Finnen angesiedelten Russen seien genötigt gewesen, sich in diesem für sie unhistorischen Gebiet eine „Geschichte“ zu konstruieren. Melnikova hat gerade diese Erinnerungen an die Anfangszeit mit Hilfe von Interviews dokumentiert. Volha Shatalava aus Warschau analysierte Selbst- und Fremdzuschreibungen im Hinblick auf nationale Geschichte und Identität in Weißrussland. In den Erinnerungen seien sich alle Befragten einig gewesen über die Bedeutung des Wortes „unsere“, das für das gleiche Dorf oder die gleiche Kirchenzugehörigkeit gilt, während mit „andere“ insbesondere Juden und Tartaren bezeichnet wurden. Am umstrittensten war vielleicht das Bild der Deutschen, vor denen man sich verstecken musste, die aber bisweilen auch als „unsere Deutschen“ auftauchten, zu denen fast freundschaftliche Beziehungen herrschten. Marianne Kamp (Wyoming) beschrieb, wie uzbekische Farmer die Landwirtschaftskollektivierung durch die Sowjets in den 1920er und 1930er-Jahren erfuhren. In den Erzählungen machte sie sowohl durch sowjetische Agitatoren eingeführte Denkweisen aus, ebenso aber auch, wie die fremden Strukturen den eigenen bisher gültigen angepasst wurden, so dass die Entwicklung organisch(er) schien. Im Hinblick auf die Methode wies sie darauf hin, welche Relevanz die gesellschaftlichen (hier uzbekischen) Regeln im Hinblick auf die Interviewsituation haben, etwa die Höflichkeit gegenüber den Älteren, eine entsprechende Sitzordnung im Haus und dergleichen. Eva Maeder aus Zürich führte in ihrem Vortrag Sowjetischer Lebenslauf und religiöse Geschichten am Beispiel von Gesprächen mit einer Altgläubigen in Ostsibirien vor Augen, wie verwoben die Deutungsmuster von persönlichen Erfahrungen, historischen Ereignissen und dem Alltag in der postsowjetischen Gegenwart vor dem Hintergrund der tief verwurzelten Religion sein können. Sie stellte einen Interviewausschnitt vor , der verblüffende Einsichten in die historische Rezeption einer einfachen Frau gab – zumal die Altgläubigen, so Maeder, kein Interesse daran haben, dass Oral Historians oder Ethnologen ihnen eine „Stimme verleihen“.
Daniela Koleva (Sofia) gab zu dieser Sektionen einen reflektierten Kommentar, in dem sie an die Grundfragen der Oral History erinnerte: Wessen Stimme hören wir beim Interview führen? Wer ist der eigentliche „Agent of memory“? Wen befragen wir – wer bekommt also das Recht, seine Geschichte zu erzählen? Wie gehen wir im Interview mit Gegenwart und Vergangenheit um? Sie schloss mit den Worten – man könnte sie fast als eine Mahnung verstehen: „Memory is no longer innocent, if it ever has been.“ Es bleibe die Frage: „What colour is memory?“ Die engagiert geführte Diskussion drehte sich vor allem um die von von Plato eingeführte „Lang“- und „Kurzwelligkeit“ von Erinnerung: Unabhängig von dem im Forschungsinteresse stehenden Zeitraum regte er an, noch aktiver ein „davor“ in die Interviews einzubeziehen, um die Entwicklung von Deutungen zu verstehen. Oft flössen, wie auch in den Vorträgen vorgestellt, Lebensgeschichten in eine Meta-Erzählung ein, und Zeit hätte einen mehr zyklischen als chronologischen Charakter.
„Opfer(n) und Täter(n), Erfahrungen mit repressiven Systemen“
In der vierten Sektion wandte sich Anselma Gallinat, Sozialanthropologin aus Durkham, in ihrem Vortrag ´Victims´ of the GDR talk and argue about the past Opfergeschichten zu, vor allem unter dem Aspekt der verschiedenen Repräsentationen in verschiedenen sozialen Kontexten. Damit problematisierte sie die Verwendung von Zeitzeugen als historische Quellen. Aus ihren Beobachtungen zum Verhalten der Zeitzeugen in unterschiedlichen Lebenssituationen zog sie den Schluss, dass andere qualitative Methoden wie teilnehmende Beobachtung in Oral-History-Studien einbezogen werden sollten – nur so werde erkennbar, wie kontextabhängig die Aussagen von Menschen seien: „Stories of any genre can be told about a certain event.“ Alexey Golubev aus Petrozavodsk, Russland betitelte seinen Vortrag Remembering and re-evalutating ´ashamed´ experience: mechanisms of co-existence with political police in post-war USSR. Er wandte sich vor allem den späten 1930er-Jahren zu und zeichnete nach, wie sich die traumatische Erfahrung von verschwindenden Nachbarn und Familienmitgliedern im privaten und öffentlichen Gedächtnis von Russen und Finnen (Region Karelien) niederschlug. Dass diese Ereignisse im sowjetischen offiziellen Gedächtnis bis Mitte der 1950er-Jahre keinen Ort bekamen/bekommen konnten und der einzelne diese Erinnerungen allein für sich verarbeiten musste, erwies sich als förderlich für das politische System: Angst sei länger erhalten geblieben, die Erinnerung sei verdrängt und langfristig vielleicht sogar vergessen worden. Umgekehrt stellte er für die Finnen fest, dass diese Ereignisse sehr wohl ins kollektive Gruppengedächtnis eingedrungen sind, möglicherweise sogar ein (gruppen-)identitätsbildender Faktor dieser von der offiziellen Ideologie isolierteren Volksgruppe wurde. Smaranda Vultur (Timisoara, Rumänien) schloss an mit dem Vortrag Life under communism: between the registerings of the secret police and the retrospective evalutation of the witness-victim. Ihre Analyse von Akten des rumänischen Geheimdienstes Securitate der 1950er-Jahre setzte sie in Beziehung zu einigen Interviews mit Betroffenen Thematisiert wurde vor allem die Zwangsumsiedlungen von politisch Unliebsamen. Sie stellte die verschiedenen Arten dieser „Biographien“ vor Augen: Während diejenigen aus den Akten eine voreingenommene lückenlose Auflistung biographischer Daten anstrebten, geradlinig, restriktiv – entsprechend der zu Grunde liegenden Ideologie –, waren die persönlichen Erinnerungen sehr viel ungenauer und immer bemüht, dem Leben in der damaligen und aus der gegenwärtigen Perspektive Sinn zu verleihen. James Mark (Exeter) wandte sich ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Parteien in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zu. Unter dem Aspekt Justifying the Past verfolgte er mit Hilfe der Interviews, wie Personen, die in der frühen kommunistischen Periode Parteimitglieder geworden waren, bis 1989 dreimal ihre Biographie umformen und neubewerten mussten, denn der Wechsel des politischen Klimas zwischen dem frühen Kommunismus, der Zeit nach 1956 und 1968 war oft verbunden mit Parteiaustritten. Nach 1989 herrschten schließlich völlig neue Verhältnisse. Die Soziologin Patricie Hanzlová aus Brno thematisierte die Gruppe der nach dem Zweiten Weltkrieg in Tschechien verbliebenen Deutschen (insgesamt etwa 300.000), die in öffentlichen und akademischen Debatten bisher relativ unbeleuchtet ist. Die moralische Stigmatisierung des/der „Deutschen“ wird auch heutige noch in allen Gesprächen reflektiert.
Mary Beth Stein (Washington) thematisierte in ihrem Kommentar die sich oft fälschlich einstellende Komplexitätsreduzierung durch die Gegenüberstellung von Tätern und Opfern, wie sie sich vor allem in der in Deutschland geführten Diskussion mit der NS-Vergangenheit zeige. Stein wünschte sich eine detailgenauere Untersuchung des Stigma-Managements, das in diesem Themenfeld immer implizit eine Rolle spielt. Grundsätzlich wurde in der anschließenden Diskussion noch einmal über den Quellenwert von Erinnerungen gesprochen. Mary Beth Stein betonte, dass die Erzählung der Lebensgeschichte oft einem poetischen und kreativen Akt gleichkomme. In diesem Zusammenhang wurde auch darüber diskutiert, wie anfällig die Erzählungen für kontinuierliche Veränderungen seien. Während die einen darauf bestanden, dass Lebensgeschichten kontinuierlicher Transformation und Anpassung an die jeweilige Kommunikationssituation unterworfen seien, meinten andere in den Erzählungen auch „fixe Elemente“ auszumachen, die durch spätere Erlebnisse und Gespräche weniger überformt würden.
„Alltag im Sozialismus – Spielräume in der Diktatur“
Die fünfte Sektion widmete sich, wie es immer noch relativ selten geschieht, den „Vielen“, die den Sozialismus erlebt haben und keine besondere Repräsentationsfläche hatten. Simina Radu-Bucurenci (Bukarest) thematisierte ein omnipräsentes Alltagserlebnis im Sozialismus am Beispiel von Rumänien: In ihrem Vortrag Queuing in Narratives about the 1980s in Bucharest befragte sie die Bewohner eines Wohnblocks zu ihren Erinnerungen an das letzte Jahrzehnt unter Ceausescu – um im Anschluss die Aussagen zum Thema „Schlangestehen“, die in keinem Interview fehlten, in Form einer narrativen Analyse auszuwerten. Radu-Bucurenci fand keine kollektive Erinnerung zu diesem Thema. Dafür analysierte sie treffend Komponenten des Interviewer-Interviewter-Verhältisses und stellte am Beispiel eines Intellektuellen fest, wie hier die (Nach-)Fragen zu diesem Aspekt des Alltags quasi nicht-erwünscht sind: Sie entsprächen nicht seinem hauptsächlich über sein „Intellektuellendasein“ definiertes Selbstbild, lieber würde er über sein intellektuelles als über sein materielles Überleben sprechen. Diesen Aspekt griff Jana Nosková aus Brno auf und sprach über das Alltagsleben im Sozialismus am Beispiel des „Dissidenten-Ghettos“ in der Tschechischen Republik und der Slovakei. Sie bezog sich auf die durch äußere Drohungen, aber auch innere (als Folge der Umstände gewählte) Isolation der Dissidenten – die selbst den Begriff des Ghettos ablehnten, lieber die Metapher der Brücke ins Gespräch brachten, was ihrem Wunsch entsprach, letztlich ein „normales“ Leben zu führen und den Kontakt zur Gesellschaft nicht ganz zu verlieren. Kirsti Jõesalu (Tartu) wandte sich den Alltagserinnerungen von Esten zu und nannte ihren Vortrag Das Recht auf Glück. Während sich der öffentliche Diskurs in der postsowjetischen Zeit vor allem dem Leiden zuwandte, in dem von Konflikt, Leid, Okkupation und Bruch in der „natürlichen“ Entwicklung des Landes die Rede war, standen in den Interviews und schriftlichen Lebenserzählungen die persönlichen Erfahrungen und Momente des Glücks im Zentrum, ideologische Aspekte fanden nur beiläufig Erwähnung. Trotzdem bestanden die Interviews immer aus mehreren Zeitebenen, und oft war eine Spannung in den Narrativen zu spüren. So spiegelte sich beispielsweise in der positiven Erinnerung an das Kollektiv auch die Stimme des sowjetischen Parteistaates sowie ein Pragmatismus im alltäglichen Verhalten in der sowjetischen Zeit wider. Tamas Kanyo (Budapest) untersuchte am Beispiel zweier Jugendgruppen die Möglichkeiten autonomer Gruppen hinter dem Eisernen Vorhang und die zivile Sphäre in der Phase der „weichen Diktatur“ in Ungarn zwischen 1975 und 1985. Er ging bei der älteren Generationen von einem höheren „Angst-Kapital“ aus, das der jüngeren Generation, die er untersucht, fehle und sie zu Gruppengründungen wie Friedensgruppen in den 1970er-Jahren ermutigt habe. Obgleich sie sich Selbstregulierungsmaßnahmen auferlegten – sie sahen sich nicht als oppositionell – wurden sie Mitte der 1980er aufgelöst. Blanka Koffer aus Berlin legte nach einer kritischen Würdigung der Oral History-Methode in einer dichten diskursanalytischen Beschreibung vor, wie EthnografInnen und KulturhistorikerInnen der ehemaligen DDR ihren damaligen Arbeitsalltag erinnern – vor allem aber mit den Folgen von 1989 kämpften.
Dorothee Wierling schloss in ihrem Kommentar noch einmal einen Kreis um die vorgestellten Themen und merkte an, dass der „Alltag der Vielen“ immer noch verhältnismäßig wenig erforscht ist. Wichtig sei es, den Fokus auf die verschiedenen Erzählskripte zu legen, denn Erfahrungen gingen nie in einem Skript auf. Auch wenn es schwierig für Interviewer und Interviewten sei, mit Scham, Schwäche, Scheitern, auch Bösartigkeit umzugehen, sie zuzugeben – diesen Raum würde sie gerne ausweiten. Auch auf die komplizierten wechselseitigen Beeinflussungen von Selbsterlebtem, den „Drehbüchern“ der kollektiven Erinnerung sowie offiziellen Deutungsangeboten ging sie ein. Sie führten oft zu „trotzigen“ Haltungen von Befragten, wenn diese sich nicht mit einem offiziellen Deutungsmuster identifizierten. Wierling betonte, dass die Dynamik der Interviews – sei es durch Alter oder Herkunft von Interviewer und Interviewtem – für sie einen reflexionsbedürftigen Prozess darstelle; sie vermutete im sowjetischen System wesentlich mehr Differenzen, als es in den Darstellungen vom Arbeitskollektiv oft den Anschein hat und sah hier das Potential für Oral History, nämlich genauer nachzufragen (wobei auch Schweigen eine Information sei).
Schlussplädoyer und Abschlussdiskussion
Es blieb umstritten, wie stark der Einfluss der offiziellen Diskurse im Sozialismus sich damals (und eventuell bis heute) auswirk(t)en. Während Julia Obertreis im Abschlussplädoyer von einer „Übermacht der offiziellen Diskurse“ sprach, wurde diese im Folgenden von verschiedener Seite in Frage gestellt. Ein offizielles Narrativ könne, so Daniela Koleva, der Ausgangspunkt sein, doch selbst ein „mächtiger“ Diskurs werde keinesfalls eins zu eins reproduziert – zudem spielten auch die neuen offiziellen Diskurse nach 1989 bereits eine Rolle. Interessant und erfreulich für die Oral History–Methodiker war der Einwurf von Christian Noack (Bielefeld), der sich beeindruckt von den vorgelegten Erkenntniswerten zeigte. Die Oral History solle sich nicht in methodischen Fragen („scientific theater“) festbeißen – eine Anspielung auf das immer noch vorhandene Legitimationsbedürfnis der Oral Historians -, sondern weiter in der gleichen Intensität am Material arbeiten. Zu konstatieren bleibt, dass bisher keine neueren Arbeiten aus der Gedächtnisforschung einbezogen wurden – jedoch wiesen grundsätzlich alle ForscherInnen ein hohes Maß an Reflexivität in ihren Darstellungen auf. Und trotz der verschiedenen Disziplinen, aus denen die Referenten kamen – es wurde „eine Sprache“ gesprochen (Julia Obertreis).