Ostmitteleuropa als geschichtsregionale Konstruktion. Stand einer Debatte

Ostmitteleuropa als geschichtsregionale Konstruktion. Stand einer Debatte

Organisatoren
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO)
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2005 - 28.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Dittmar Schorkowitz (Berlin, Leipzig)

Aus Anlass seines zehnjährigen Bestehens lud das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) am 27. und 28. Oktober 2005 zu einer internationalen Konferenz ins Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Dabei sollte vornehmlich das seit einem Jahrzehnt konstituierende Regionalkonzept eines Wissenschaftsinstituts, das Geschichte und Kultur des Raums zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart in vergleichender Perspektive erforscht, auf den Prüfstand gehoben und in vier Sektionen seitens der Neueren Geschichte, der Literaturgeschichte, der Kunstgeschichte sowie der gebündelt auftretenden Mediävistik und Archäologie getestet werden.

Den Auftakt bildete - sozusagen leitsternhaft – die diesjährige Oskar-Halecki-Vorlesung, womit das GWZO einen in Wien geborenen polnischen Historiker jährlich würdigt, dessen geschichtsregionale Konzeption den Grundstein für die Erforschung Ostmitteleuropas als eine historische Strukturlandschaft legte und nachfolgenden Historikern - insbesondere Walter Schlesinger, Werner Conze, Klaus Zernack und Jenő Szűcs - damit Anlass gab, unser Verständnis zu den mit Europa befaßten historischen Teildisziplinen zu präzisieren. Mit Thomas DaCosta Kaufmann, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Princeton und einem breiteren Publikum durch seine 1998 ins Deutsche übersetzte Untersuchung Court, Cloister, City. The Art and Culture of Central Europe, 1450-1800 (Chicago 1995) auch hierzulande bekannt geworden, hatte man zudem - nach Włodzimierz Borodziej, Miroslav Hroch und Maria Todorova in den Jahren zuvor - erneut einen Festredner gewinnen können, dessen wissenschaftliches Werk und autobiographische Bezüge das spannungsreiche Begreifen Europas in hohem Maße verkörpert. Sein Vortrag am symbolträchtigen Ort des historischen Plenarsaals des Bundesverwaltungsgerichts - dem ehemaligen Reichsgericht, wo 1933 bekanntlich Görings Schauprozess gegen den im Reichstagsbrandprozess angeklagten Georgi Dimitrow fulminant platzte, markierte schon im Titel - „(Ost-)Mitteleuropa als Kunstgeschichtsregion?“ - zwei zentrale Fragen der Tagung, nämlich die nach der Selbstidentifikation der Ostmitteleuropäer als Mitteleuropäer und nach einer möglichen Substituierung des Raumbegriffs Ostmitteleuropa durch den weiter gefassten Begriff Mitteleuropa, unter Einbezug des deutschsprachigen Raumes.

Mit seinem Eröffnungsvortrag „Über die Besonderheiten Ostmitteleuropas“ erinnerte Winfried Eberhard die Tagungsteilnehmer dann richtungsweisend an die genuinen Merkmale dieser Geschichtsregion. Was ihre historische Pfadabhängigkeit ausmacht, lässt sich mit Blick auf das Lehns- und Vasallitätssystem, auf die Zugehörigkeit zur lateinischen Christenheit und daher auch zur Scholastik mit ihren frühen Universitätsgründungen sowie auf den ethnischen Pluralismus hier nur kurz andeuten. Erst mit der Integration in die vier Großreiche (Habsburger, Osmanen, Romanov, Hohenzollern) grenzt sich die Region im 19. Jahrhundert zunehmend gegenüber Westmitteleuropa ab, treten die einzelnen Nationalstaaten stärker hervor. Typisch für Ostmitteleuropa aber sind Transnationalität und die Prägungen einer longue durée, womit auch die Wahl der Untersuchungskategorien einleuchtet: nicht der geographische Raum, sondern eine merkmalgesättigte Region, nicht ereignisfixierte Zeitverläufe, sondern Epochen in ihrem Wandel sind Gegenstand von Betrachtung und Analyse. Unter Beobachtung stehen damit eine Kontakt- und Durchdringungszone zwischen Ost- und Westeuropa, ihre Kommunikationslinien und der Transfer kultureller oder politischer Phänomene sowie die Migration, Vermischung bzw. Akkulturation ihrer verschiedenethnischen Bevölkerungsteile.

In ihrer eigentümlichen Aufeinanderbezogenheit erscheinen Westmittel- und Ostmitteleuropa daher auch nicht als Randzonen auf der Nord-Süd-Achse europäischer Großräume, sondern bilden ein zentrales Ganzes sui generis. Dessen gewiss konstruktivistisch betonte Strukturen, die zu einer ständigen Überprüfung herausfordern, sollte indes nicht dazu verleiten, die Komplexität des Gefüges gegen eine Simplizität der Begriffsbildung auszuspielen, wie man aufgrund einer Entscheidung des amerikanischen Außenministeriums den Eindruck haben könnte. Das nämlich hatte 1994 beschlossen, den Terminus East Central Europe als wenig zeitgemäß zu streichen und fürderhin mit Central Europe eine Region zu bezeichnen, von der man nun weniger weiß, was man sich unter ihr vorzustellen hat.

Über dieses äußerlich bedingte Abhandenkommen toponymischer Marker hinaus machte Stefan Troebst auf einen anderen Trend des indizierten Begriffsschwunds aufmerksam. In seinem Vortrag zur Frage „Was ist eine Geschichtsregion?“ verdeutlichte er am Beispiel des Historischen Atlas von Ostmitteleuropa (Seattle 1993), den Paul Robert Magocsi in seiner ergänzten und erweiterten Auflage mit autochthonistischer Argumentation in The Historical Atlas of Central Europe (London, Washington 2002) umwidmete, sozusagen das innere Gegenstück einer populistisch bedingten Vereinfachung. Offensichtlich haben die europäische Erweiterungspolitik und die Washingtoner ‚Allianz der Willigen’ mit ihrer Unterscheidung in Neu- und Alt-Europa sowie Eurasien auf ihre Weise dafür gesorgt, dass einzig Mitteleuropa als unbelastete Selbstzuschreibung im Gebrauch verblieben ist: Osten will niemand mehr sein, oder - wie Stefan Troebst es fasste - „Der Osten sind immer die anderen“, was automatisch Russland, als dem nun eigentlichen Rest-Osten, die Rolle einer pejorativen Projektionsfläche für Europa zuweist.

Wie man sieht, schwankt der Versuch geschichtsregionaler Bestimmung also zwischen interessengelenkter Konzeption - am abschreckendsten etwa in Gestalt deutschtumszentrierter Ostforschung, demgegenüber die Oberflächlichkeit des populistisch Subjektiven als noch erträgliche Variante erscheint - und dem Nachweis strukturgebender Gesetzmäßigkeiten. Hier erfüllt die historiographische Annäherung am ehesten noch die methodischen Kriterien einer komparativen Untersuchung mit der Potenzialität zum Nachweis von Phänomenen langer Dauer. Erst die transnationale und inter- sowie intraregionale Inbezugsetzungen fördern - so Troebst - nämlich mesoregionale Charakteristika zutage, womit dieser geschichtsregionale Entwurf den Fallstricken selbstreferentieller Verortung entgeht, wie sie sich bspw. in der ökonomistischen Engführung (Weizen, Wein, Olive) von Braudels Untersuchung zur Mittelmeerwelt als Nachteil herausgestellt hat.

Das kontinentale Ostmitteleuropakonzept darf daher als das bei weitem elaborierteste gelten. Und es hat in der zurückliegenden Dekade wesentlich zu einer Wiederkehr des Raumes in der Allgemeingeschichte beigetragen, obschon dieser Untersuchungskategorie – wie gesagt – mit der nötigen Distanz zu begegnen und ihr die Region bzw. die Epoche als Korrektiv an die Seite zu stellen ist. Klaus Zernack, dem die Tagungsteilnehmer als spiritus rector des GWZO nicht weniger dankbar gedachten als dem beglückwünschten Forschungszentrum, lenkte die Aufmerksamkeit daher zukunftweisend auf eine neue Front des Erkenntnisgewinns, als er auf Jürgen Kocka hinwies, der anlässlich des 50. Jahrestages des Herder-Institutes festgestellt hatte, dass Ostmitteleuropa im Kontext einer europäischen Geschichtsschreibung in transnationaler Absicht eine Herausforderung für die allgemeine Geschichtsschreibung sei.

Es überraschte dann doch einigermaßen, durch Krzysztof Ruchniewicz vom Breslauer Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien zu hören, dass dem sich intensivierenden Diskurs darüber, was die Region als solche ausmacht, in Polen kaum Vergleichbares gegenübersteht. Selbst Arbeiten Oskar Haleckis zu Europa, dessen Raumkonzept es lohnte, weiterentwickelt zu werden, würden kaum rezipiert. Eine Wirkungsgeschichte oder wissenschaftliche Biographie zu seiner Person suche man vergebens.

Diese sich abzeichnende Ungleichzeitigkeit von Diskursen und Abgrenzungen, die offenbare Verschiedenheit bei der Schwerpunktsetzung in der Regionalstruktur – so die Wahrnehmungspräferenz einer Ost-West-Achse anstatt der Nord-Süd-Achse – und bei der Vergemeinschaftung, ja bei der Bewertung einzelner Komponenten (Mentalität, Kulturalität) der historischen Pfadabhängigkeit verdichteten sich im Laufe der beiden Folgevorträge. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, daß sich mit der Literatur- und Kunstgeschichte zwei Disziplinen einschalteten, deren geschichtsregionale Profilgebung infolge anderer Quellenzugänge und Untersuchungsverfahren zu schwächer ausgebauten bzw. andersartigen Regionalkonstruktionen Ostmitteleuropas gelangt.

Die vierzehn Thesen von German Ritz zum „Nutzen und Nachteil von Raumkonstruktionen aus Sicht der Literaturwissenschaft“ brachten die Begriffe der in den 80er Jahren hier angestoßenen Diskussion modifiziert auf den Punkt. Mitteleuropa ist demnach ein Bezugsraum, dessen Unbestimmtheit auf das Fehlen eines Imperiums und einer hierdurch begründeten Schwäche kultureller Ausstrahlung zurückgeht. Der kulturelle Zusammenhang Mitteleuropas ergibt sich demnach aus der Fremdbeschreibung und einer erfahrenen Kolonisierung, die bis auf die Abwehrreaktion seitens der nationalen Kulturen im späten 18. Jahrhundert gegenüber imperialen Integrationsversuchen rückgeführt werden kann.

Singularität, Exklusivität, Juvenilität und Inferiorität waren die Richtlinien, mit denen die „Kleinen Kulturen“ (Christian Prunitsch) ihr Verteidigungsverhalten gegenüber den großen Kulturen begründeten und abstimmten. Eine mitteleuropäische Literaturgeschichtsschreibung kann daher nicht additiv verfahren, sondern empfiehlt sich - so der Korreferent Peter Zajac - wegen ihres transnationalen Vergleichsrahmens als ein Korrektiv zur nötigen, aber mitunter eben auch patriotisch überhöhten Selbstschau nationaler Literaturgeschichten. In einem Europa der Regionen darf dieser Erkenntniszugang der synoptischen Kartographierung als ein aussichtsreiches Forschungskonzept gelten, weil es den nationalen Engführungen mit ihren implizit territorialen Ansprüchen die Region im Spiegel der Gattungen entgegenhält. Doch nicht nur als Muster von Gemeinsamkeiten schreibt sich Mitteleuropa in die Art der Ausbildung von verschiedenen Stilperioden ein, sondern auch als Differenz. Daher gilt es, die Erforschung zur Stadtgeschichte zu vertiefen, weil die Durchleuchtung des Mikrokosmos mitteleuropäischer Kulturverflechtungen ja vielleicht auch ergibt, dass die Region - in Anlehnung an Herders Slavenidee - verschiedene kulturelle Grundideen gebiert und trägt, also nicht einfach Ort des Transfers ist.

Als regionales Stilmerkmal deutet sich - kein Imperium, keine kulturelle Ausrichtung - laut Ritz damit eine gewisse Zerrissenheit zwischen Utopie und Nostalgie an, der man andere Charakteristika der Gemeinsamkeit an die Seite stellen kann, greift man bspw. den von István Fried ins Gespräch gebrachten, arealen Literaturgeschichtsgedanken auf. Dann nämlich erweist sich eine die Intellektuellen wie auch Teile der Elite Ungarns, Kroatiens, Habsburgs, Tschechiens, Sloweniens und Polens verbindende Multilingualität als differentia specifica gegenüber anderen Teilregionen Europas, die in der Regel über eine geringere Sprachendichte verfügen. In der Konsequenz ergibt sich eine multifacettenförmige Kulturregion mit signifikanter Internationalität in den Verbänden von Schriftstellern, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern, mit einer spezifischen Perzeptions-, Übersetzungs- und Wirkungsgeschichte. Zudem hat man - woran Hannes Siegrist erinnerte – ebenso eine regionsspezifische Rezeption und Distribution mitteleuropäischer Literaturen zu erwarten, da Autor und Text hier eine andere Räumlichkeit abbilden, als beispielsweise die Rezeptions- und Translationsgeschichte der großen europäischen Literaturen in Frankreich, Russland und Deutschland zeigen.

Um die Bedeutung von place & space in der „Kunstgeschichtlichen Forschung bei der Rekonstruktion regionaler Räume“ drehte sich auch die Diskussion über das aus der Zwischenkriegszeit stammende Konzept der Kunstgeographie, das derzeit in der internationalen Forschung mit Blick auf Ostmitteleuropa erneut intensiv diskutiert wird. Adam Labuda legte in einem wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick die Peripetien dieses Faches vor allem aus deutscher Erfahrung für die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts kenntnisreich dar, wobei er den Erklärungsbogen bis zur kritischen Wiederaufnahme der geographischen Verortung kunstgeschichtlicher Phänomene in den 60er Jahren spannte. Die wissenschaftlich exzellente und auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommene Stellung der Kunstgeschichte sowie deren Beitrag zur Kunstgeographie hervorhebend, bescheinigte Labuda dem GWZO, zukunftsweisende Beiträge zum Kulturtransfer in der Region - Stichwort Erinnerungskultur - nicht zuletzt durch die Eröffnung bildwissenschaftlicher Perspektiven zu leisten.

Sein als Gütesiegel gemeintes Fazit, das Leipziger Zentrum habe seine Rolle als region-builder gefunden, lud dann zur lebhaften Diskussion ein. Hinterfragt wurden Methodik und Gegenstand der Kulturgeographie. Man solle die räumliche Kategorie nicht zur erkenntnisleitenden Größe erheben, wandte Michaela Marek ein, da dem Ort an sich keine besondere Relevanz bei der Konzeption des kunstgeschichtlichen Raumes zukomme. Es seien vielmehr die Handlungsträger, deren Strategien, Motive und Prägungen, die Kunst vor Ort installieren, wodurch dieser zur Manifestationsfläche sozialen und politischen Handels, zu einem Erinnerungsort werde. Diesen kritischen Anmerkungen aus handlungs- und akteursgeleiteter Perspektive schlossen sich andere Bedenken an. Da eine beispielsweise nicht an den Ort gebundene bzw. eine dem zeitlichen Verfall unterliegende Kunst von der Kunstgeographie kaum erfasst und sich ihr Untersuchungsrahmen somit auf bestimmte Ausschnitte, zumeist der Architektur, beschränkt, sei sie wenig geeignet, generelle Aussagen für die Kunstgeschichte beizusteuern. Außerdem stelle sich - so Arnold Bartetzky - die Frage, was denn Kunstgeographie eigentlich leiste, was die Kunstgeschichte nicht ohnehin abdecke. Hier wäre zwar einzuwenden, dass die Kunstgeographie mehr liefert, als positivistische Bestandsaufnahmen und das Zählen von Bausteinen, dass sie ihre wissenschaftliche Legitimation vor allem der vergleichenden Analyse räumlicher Verortung von Kunst verdankt. So machte die weitere Diskussion deutlich, dass die Kunstgeschichte es in Ostmitteleuropa mit Verdichtungen und Verflechtungen zu tun hat, die unterschiedliche Teile der indizierten Region jeweils zeiten- und entwicklungsabhängig als ostmitteleuropäischen Raum beschreibt.

Die Quellenlage führt die Kunstgeschichte daher zwangsläufig zu der Erkenntnis, daß sie Ostmitteleuropa nicht als einen monolithisch abgegrenzten Raum definieren kann - eine Feststellung, die im Schlussvortrag von Christian Lübke auch für die Mediävistik und die Archäologie mit ihren Funden der in Zeit und Raum überlappenden Areale der Lausitzer Kultur, von Wielbark- und Przeworsk-Kultur, später dann der Prager- und Korčak-Kultur Bekräftigung fand. Nach den spezifischen Eigenarten des Ostmitteleuropas der Antike befragt, die Europa ja bekanntlich nur zweigeteilt als Barabaricum und Pax Romana wahrnahm, können Antworten denn auch nur ein grobes Raster liefern: Die Region gehörte nicht der Sphäre des Römischen Reiches an, umfasste bis zur Einwanderung von Süd- und Ostslaven die Träger der gemeinslavischen Sprache, die sich durch Grubenhaus, Keramik vom Prager Typ und Brandbestattung auszeichneten.

Früheste Schriftzeugnisse zeichnen ab dem 9. Jahrhundert das Bild segmentärer Gesellschaften im Übergang zur Herausbildung lokaler bzw. mesoregionaler Herrschaften, eine Gesellschaft ohne Staat mit der Potenzialität zur Herausbildung staatlicher Formen und Strukturen. Dabei entwickelte sich im östlichen Teil des Barbaricums eine ‚Grauzone’ (Aleksander Gieysztor), so dass aus der Zweigliederung Europas im Zuge der kulturellen Angleichung ein Europa der drei Regionen entstand. Unter Mitwirkung der an Einfluss gewinnenden Westkirche kristallisieren sich dabei, auch in Abgrenzung gegenüber dem Kiever Rus’ und den Steppenreichen, als drei ostmitteleuropäische Kernstaaten Polen, Böhmen und Ungarn heraus. Abgesteckt ist damit das Feld jener drei historischen Regionen (Westeuropa, Ostmitteleuropa, Osteuropa) von Jenő Szűcs, unter denen Ostmitteleuropa im 13. Jahrhundert entscheidend geprägt, sogar geformt wurde - zum einen durch die Agrarrevolution, Stadtkultur und Intensivierung des Warenaustausches im Westen des Kontinents und zum anderen durch das Herausfallen Osteuropas aus der Zone der Reichweite historischer Phänomene wie der Romanik und Gotik, der Renaissance, der Reformation und der ständischen Struktur.

Als interessante Beobachtung der Jubiläumstagung ist damit zweierlei festzuhalten. Man ist, zum einen, skeptischer geworden - und kritischer. Der Geist des Dekonstruktivismus und die Entzauberung kognitiver Karten haben die alten Gewissheiten der Strukturgeschichte im Laufe der letzten zehn Jahre erheblich dezimiert. Jedoch sind mit der Verdrängung der Begriffe die strukturbildenden Elemente der Region offensichtlich nicht abhanden gekommen, womit sich zudem zeigt, dass der wissenschaftliche Diskurs ein verlässliches Mittel bleibt, Versuchen der politischen Manipulation von Raumbegriffen gegenzusteuern. Auf diese Abwehr bauend, kann das Konzept der „Geschichtsregion“ ein heuristischer Kunstgriff bleiben, mittels dessen - so der Troebst’sche Definitionsvorschlag - nicht-territorialisierte und zeitlich begrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen-, gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese vergleichender Forschung genommen werden, um dergestalt spezifische geschichtsregionale Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen.

Zum anderen führt eine quellengeleitete Raumdefinition durch die an der Ostmitteleuropaforschung beteiligten Fachdisziplinen im Kontext unterschiedlicher Quellenlagen offensichtlich zu abweichenden Regionalkonstruktionen. Geschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Archäologie konstruieren den Raum jeweils auf verschiedene Art und Weise. Daher sind die im Ergebnis einer interdisziplinären Rundschau gefundenen Gemeinsamkeiten, die sich beim Anlegen unterschiedlicher Folien auf die Region einstellen und erst übereinander gelegt ein verständliches Ganzes bilden, um so bemerkenswerter.

Die Abteilungen des GWZO wie die hier tätigen Fachkoordinatoren und Wissenschaftler sind dafür und zu anderen hiermit verbundenen Fragestellungen deshalb besonders sensibilisiert, weil ihre Forschungsschwerpunkte zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik auch der Autopsie eigener Wissenschaftshandlungen dienlich sind. Als Teil eines erfolgreichen interdisziplinären Experimentes treten hierbei divergierende Konzeptionen miteinander in einen kritisch-konstruktiven Meinungsaustausch. Und diese fruchtbare Reibungsfläche - der eigentliche genius locii - ist ein Movens, das es, bei Strafe fachlicher Engführung und redundanter Selbstreferenz, nicht einfach auszuhalten gilt. Sie ist die Voraussetzung bei der Ideen- und Methodenbereicherung eines auf neue Forschungszusammenhänge angewiesenen Wissenschaftsinstitutes.


Redaktion
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