Statebuilding from below: Europe 1300-1900

Statebuilding from below: Europe 1300-1900

Organisatoren
Istituto di Storia delle Alpi (Università della Svizzera italiana, Lugano)
Ort
Monte Verità
Land
Switzerland
Vom - Bis
08.09.2005 - 11.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich

Seit geraumer Zeit arbeiten Historiker an Entwürfen zu einer neuen Politikgeschichte. Einig scheinen sie vor allem in einer Hinsicht: Es ist der traditionelle Fokus auf dem Staat, den es zu überwinden gilt. Der Staat als Thema der Politikgeschichte scheint "out" zu sein. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass er ein Lieblingsthema der Geschichtswissenschaft war. Noch in den 1990er Jahren förderte die European Science Foundation (ESF) die historisch-vergleichende Erforschung der "Ursprünge des modernen Staates in Europa" vom 13. ins 18. Jahrhundert. Die Ergebnisse sind in einer Reihe stolzer Bände gebündelt. Und 1999 erschien eine einbändige "Geschichte der Staatsgewalt" aus der Feder des Freiburger Frühneuzeithisto-rikers Wolfgang Reinhard, der auch an einem Band jenes europäischen Projektes federführend mitgewirkt hat. Wer den Mut besitzt, gegen den Trend die "neue Politikgeschichte" mit dem Staat zu versöhnen, steht vor diesen und einigen anderen Monumenten der Geschichtsschrei-bung. Das wurde auf der Tagung "Staatsbildung von unten/ Statebuilding from below, Europe 1300-1900", die im Centro Stefano Franscini der ETH Zürich auf dem Monte Verità in Asco-na vom 8. bis 11. September 2005 stattfand, ganz deutlich. Dies um so mehr, als die von den Organisatoren eingeforderte Perspektive "von unten" keineswegs dazu gedacht war, die Hypo-thek der älteren Großprojekte zu übernehmen.

Machtverleihende Interaktionen

André Holenstein (Bern), der konzeptionelle Kopf des Unternehmens, legte in seinem pro-grammatischen Einleitungsreferat dar, worin er die Defizite älterer Ansätze erkannte. Mit dem teleologischen Wettlauf Europas auf den modernen Staat befände sich die Forschung in der "Weberschen Falle". Wer alles am Maßstab der bürokratischen Institutionalisierung, Rationa-lisierung und Zentralisierung der Staatsgewalt bemesse, reduziere den Prozess der Staats-bildung letztlich auf einen Vorgang der Akkumulation von Macht in Händen der politischen Herrschaftselite und die Rolle der Bürgergesellschaft der Frühmoderne auf die eines Befehls-empfängers. Tatsächlich aber spiele in dieser Zeit das kommunikative Aushandeln zwischen staatlichen Autoritäten einerseits und Ständen oder lokalen politischen Kräften andererseits eine entscheidende Rolle. Vor allem neuere Studien von (State Formation in Early Modern England, c. 1550-1700, Cambridge 2000) und Steve Hindle (The State and Social Change in Early Modern England, c. 1550-1640, Basingstoke 2000) zu England hätten gezeigt, dass lokale Initiativen zu legislativen und administrativen Maßnahmen führen konnten. Sie hätten überdies auf die Rolle von Amtsträgern in lokalen Gesellschaften oder die Instrumentali-sierung bestehender Institutionen und Ämter durch die Bürger hingewiesen. Die Phänomene selbst brachte Holenstein auf den Begriff der "machtverleihenden Interaktionen".

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster) unterstützte diese Sichtweise von kommunikations-theoretischer Seite: Gehe man davon aus, dass Institutionen auf erfolgreich durchgesetzten Unterstellungen oder "Fiktionen" und handlungsleitenden Zuschreibungen beruhen, dann konstituierten sie sich in einem gegenseitigen kommunikativen Prozeß zwischen Herrschafts-eliten und Untertanen. Randolph C. Head (Riverside/USA) lieferte dazu eine mustergültige Untersuchung zur Eidgenossenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts: Der Kappeler Landfriede von 1531 erlangte erst durch permanente Bezugnahme bis hinunter auf Gemeindeebene den Rang eines Verfassungstextes. Ab 1620 zeichnete sich dabei ein Stilwandel ab, denn seitdem nahm die Zahl direkter Zitate daraus zu, was die Autorität des Textes weiter stärkte. Ähnli-ches konnte Head für den Bundesbrief von 1291 und die Ilanzer Artikel von 1524/26 in Grau-bünden nachweisen.

Resistenz

Eine Vielzahl lokaler Mikrostudien, die zeitlich und geographisch weit über den europäischen Kontinent bis nach Russland gestreut waren, wurde in offenen Sektionen präsentiert. Dabei war Resistenz ein wiederkehrendes Motiv - vom banditismo des famosen Fälschers Samuel Farinet, den Sandro Guzzi-Heeb (Bern) schilderte, bis zu den ausufernden Antworten auf die Fragebögen der spanischen Kolonialherren im Zeitalter Philipps II. Das Wort "Widerstand" bezeichnet seit den Arbeiten Peter Blickles eine weitgehend anerkannte Richtung der Erfor-schung von Staatsbildungsprozessen, die "von unten" kommen. Einen kuriosen Fall von Resi-stenz schilderte Arndt Brendecke (München): Im Zeitalter Philipps II. verfolgte der Indienrat in Spanien das Ziel, durch Versenden von Fragebögen seinen hauseigenen Kosmographen und Chronisten mit entera noticia (vollständiger Kenntnis) über die transatlantischen Kolonien auszustatten. Der Rücklauf war ernüchternd: Die Fragen wurden sehr unregelmäßig beant-wortet, und manche der lokalen Repräsentanten fühlten sich aufgefordert, mit Hilfe der Indios ganze Chroniken zu verfassen und zurückzusenden. So erstickte der Versuch, Wissen durch verwaltungsgesteuerte Textproduktion zu zentralisieren und zu monopolisieren, in einer hete-rogenen Informationsmasse. Wie der Fall allerdings einzuordnen sei - ob schlicht als Beispiel gescheiterter Staatsbildung oder als Initial für eine Neuorientierung bei der Erhebung verwal-tungsrelevanten Wissens - blieb offen.

Verzicht auf den Staat?

Ein grundsätzliches Problem bestand darin, dass viele der in Ascona vorgetragenen Referate, die den interaktiven Aspekt in der Kommunikation zwischen "oben" und "unten" betonten, kaum über Mikrostudien zur Herrschaftspraxis hinauskamen. Hier wurde eine Redundanz erkennbar, die im Ansatz zu stecken scheint. Überdies blieben nachhaltige Wirkungen und die klassische Frage nach der Ausdehnung staatlicher Politikfelder und ihrer institutionellen Aus-gestaltung ausgeklammert. Auf der anderen Seite bemaßen raum-zeitlich größer angelegte Vergleiche - besonders die virtuose Studie von Stefan Brakensiek (Bielefeld) zu Ungarn, Böhmen und den Reichsterritorien 1650-1800 - den Spielraum für Einflüsse von unten ins-gesamt als gering.

Beide Tendenzen bestärkten vor allem die ebenfalls vertretene ältere Historikergeneration in ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Tagungsthema: Wim Blockmans (Leiden), der in den neunziger Jahren prominent an jenem früher erwähnten europäischen Großprojekt mit-gewirkt hatte, überraschte mit dem Vorschlag, die historische Forschung solle einige Zeit gänzlich auf den Begriff "Staat" verzichten. Wolfgang Reinhard (Freiburg i.Br.) erkannte zwar die Bedeutung aller auf der Konferenz vorgetragenen Referate für die Politikgeschichte an, befand jedoch, dass die meisten Beiträge wenig mit dem Staat zu tun gehabt hätten. "Staatsbildung von unten" sei eben ein empirisch schwer einzulösendes Forschungsprojekt. Wenn allerdings die Tatsache der Interaktion zwischen Obrigkeit und Volk, staatlichen Insti-tutionen und Bürgern oder lokalen und zentralen Gewalten schon als hinreichend betrachtet werde, dann falle letztlich alles unter Staatsbildung. Fast explizit plädierte Reinhard für das klassische Gegenmodell des "Weberschen Staates", wenn er meinte, Staatsbildung sei gleich-sam per Definition ein Prozess, der von oben nach unten verlaufe.

Nicht nur, weil Reinhard damit Widerspruch erntete, wurde am Ende ein Generationen-problem deutlich. Die jüngere Generation der anwesenden Historiker zwischen 35 und 45 Jahren hatte zwar viel zur Politik, aber wenig zum Staat zu sagen. Die neue Kulturgeschichte der neunziger Jahre hat vor allem regionale Studien und - unter dem Eindruck Michel Fou-caults - Untersuchungen zur "Mikrophysik der Macht" gefördert. Aber dabei ist der Mut, dies auf Konzepte wie Staat oder Staatlichkeit hochzurechnen, abhanden gekommen. Schon des-halb ist es zu begrüßen, dass eine mittlere Historikergeneration der 45- bis 55-Jährigen die Initiative ergriffen hat, die vorhandenen Forschungen auf einer Tagung zu bündeln und mit den Fragen und Antworten der älteren Generation ins Gespräch zu bringen. Der weitsichtige Rückblick auf den Forschungsstand, der in einer Sektion mit Beiträgen von Peter Blickle (Bern/Saarbrücken) und Giorgio Chittolini (Mailand) integriert wurde, hat wichtige Arbeit am Gedächtnis des Faches geleistet, das im Wirbel der wissenschaftlichen "Turns" immer kurz-atmiger zu werden droht. Bei allem berechtigten Anspruch auf Neues haben die Organi-satoren, Jon Mathieu (Lugano) und André Holenstein, hier auf größere Nachhaltigkeit gesetzt. Inwiefern das Thema Staatsbildung in Europa schließlich empirisch einen neuen Stand er-reichen wird, dürfte vor allem davon abhängen, ob es gelingt, den Begriff "Staat" analytisch kohärent - und dabei nicht anachronistisch - für eine neue Pluralität von Phänomenen zu öffnen, ohne ihn darin zerstäuben zu lassen. So viel scheint klar: Max Weber wird dabei keine Hilfe sein.