So präsent historische Migrationsforschung in aktuellen Debatten auch sein mag: Selten nur werden migrationshistorische Fragen von der Alten bis in die Neueste Geschichte epochenübergreifend diskutiert. Eine solche diachrone Betrachtungsweise steht seit Gründung im Zentrum des Stuttgarter Arbeitskreises für Historische Migrationsforschung, der am 21. und 22. Januar 2006 unter der Leitung von Eckart Olshausen und Alexander Schunka ein Kolloquium zum Thema "Migrationserfahrungen und Migrationsstrukturen" veranstaltete. Den Organisatoren und Teilnehmern ging es dabei um die Frage, in welcher Verbindung individuelle oder kollektive Migrationserfahrungen zu den strukturellen Bedingungen stünden, vor deren Hintergrund Wanderungsbewegungen stattfinden. Migrationen können dabei selbst zu Strukturphänomenen werden - zu denken wäre hier etwa an die Völkerwanderung oder die frühneuzeitliche Glaubensflucht.
Fragen nach den Optionen, die eine Migration ermöglichen oder wahrscheinlich machen, nach der grenzüberschreitenden Kommunikation im Vorfeld, während eines Ortswechsels oder danach, oder auch nach den Möglichkeiten, mit Hilfe des "Mitgebrachten" sein Leben am Ziel zu strukturieren oder auch sein Schicksal zu instrumentalisieren, ferner nach der Dauerhaftigkeit einer Emigration und möglichen Rückwanderungswünschen, standen im Zentrum der Tagung. Vor dem Hintergrund elementarer Migrationserfahrungen ließe sich, so Alexander Schunka in seiner Einleitung, bei den Migranten vielleicht nach bestimmten "Erfahrungstypen" suchen, nach strukturellen Verbindungen und Vergleichsmöglichkeiten zwischen individuellen Migrantenschicksalen über Epochen und geographische Räume hinweg. Einer geographischen Ausrichtung von der Region in die Welt folgend gliederte sich die Veranstaltung entsprechend in drei Sektionen, die jeweils einen epochenübergreifenden Zugriff von der Antike bis zur Gegenwart unternahmen.
Die erste Sektion der Tagung stand unter dem Titel "Erfahrung von Migration in der Region". Wolfgang Dietz behandelte das erzwungene Exil württembergischer Aufständischer von 1525 anhand ihrer brieflichen Äußerungen. Während Migration in der Frühen Neuzeit oftmals religiös motiviert und konnotiert war, standen bei den portraitierten Fällen strafrechtliche Motivationen im Vordergrund. Im vorliegenden Fall wurde die Frage aufgeworfen, wie weit es gelingen konnte, sich in eine neue Gesellschaft einzugliedern und sich auf ihre religiösen und sozialen Normen einzulassen, wenn die Auswanderung erfolgte, um drohenden Strafen zu entgehen.
Daniel Kirn stellte Desertionen einfacher Soldaten im kaiserzeitlichen Württemberg zur Friedenszeit als Sonderform der Migration vor. Motive, Verlauf und Ergebnisse zahlreicher Fluchten zeigten Desertionen als Lösung persönlicher Situationsempfindungen. Kirn charakterisierte die Migrationserfahrung von Deserteuren als Schwebezustand, da Deserteure oftmals ein vagabundierendes Dasein geführt hätten und nicht in der Lage gewesen seien, sich in einen vorgegebenen gesellschaftlichen und militärischen Rahmen einzugliedern.
Erfahrungen von gegenwärtigen Migranten der zweiten oder dritten Generation standen im Vortrag von Caroline Gritschke im Vordergrund. Sie berichtete über ein aktuelles Ausstellungsprojekt, bei dem die Erfahrungen der Kinder und Enkel von Einwanderern und ihre Identitätsvorstellungen zwischen alter und neuer Heimat aufgrund von Oral-History-Interviews untersucht wurden. Hierbei beschränkte sich das Projekt auf ein idealtypisches Einwandererviertel in Stuttgart, wo sich eine eigene Form lokaler Bindung entwickelt habe.
Die zweite Sektion "Europäische Kontakte" wurde von Eckart Olshausen eröffnet, der einen zeitlichen Sprung in die Zeit des römischen Bürgerkriegs 49 bis 45 v. Chr. unternahm. Er stellte die Erfahrungen Ciceros im Exil in Brundisium in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. In Briefen an seinen Vertrauten Atticus habe Cicero sich sehr deutlich über seine Situation geäußert. Diese Briefe spiegelten vor allem drei Themenkomplexe: Finanzen, persönliche Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern und das persönliche Unwohlbefinden in der Hafenstadt, wo er sich in Lebensgefahr wähnte. Im Zentrum von Ciceros Äußerungen standen dementsprechend Selbstzweifel und Selbstanklagen.
Holger Sonnabend thematisierte "Völkerwanderung als Erfahrungsgeschichte". Die Zeit zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert n. Chr. sei eine Welt in permanenter Bewegung gewesen, und biete daher ein reiches Reservoir an potenziell erschließbaren Migrationserfahrungen, vor allem auf Seiten der Aufnahmegesellschaften. Hier allerdings bestünde das quellenkritische Problem der tendenziösen Verzerrung. Insofern sei es die Aufgabe einer Erfahrungsgeschichtsschreibung der Völkerwanderung, die in den Quellen vorhandenen Topoi zu identifizieren und als solche zu analysieren, wodurch sich insbesondere die subjektive Wahrnehmung der Wandernden durch aufnehmende Gesellschaften untersuchen ließe.
Alexander Schunka portraitierte den böhmischen Politiker Heinrich Matthias von Thurn zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und seine Erfahrungen am Hof in Konstantinopel anhand von dessen Korrespondenz. Dabei zeigte er auf, inwieweit Thurns persönliche Migrationserfahrung und die Verhältnisse des böhmischen Exils nach der Schlacht am Weißen Berg auf seine diplomatische Tätigkeit und auf seine soziale Einbindung in Konstantinopel Einfluss nahmen. Heimatverlust und Entwurzelung hätten sich sowohl auf seine diplomatischen Bemühungen als auch auf die Wahrnehmung seines Umfelds in Konstantinopel niedergeschlagen.
Eine Individualerfahrung ganz anderer Art stellte Ulrike Kirchberger in ihrem Vortrag zu Beginn der dritten Sektion "Überseeische Verbindungen" vor. Die Missionsreise des presbyterianischen Missionars Samuel Kirkland zu den Seneca-Indianern 1764-1766 zeigte, daß er gerade nicht als überlegener Segensbringer erschienen sei, sondern sich hilflos und fremd von den Seneca habe aufnehmen lassen müssen. Fortan sei er Anfeindungen seitens eines Teiles der Gesellschaft ausgesetzt gewesen, wobei die Hautfarbe und seine protestantische Religion als Ausgrenzungskriterien fungiert hätten. Der parallele Wandel in der Wahrnehmung Kirklands und der Seneca erlaubte einen Einblick in das Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft.
Heléna Tóth fragte danach, wie sich Emigranten aus Ungarn oder Deutschland nach den Revolutionen von 1848 in den Vereinigten Staaten etablieren konnten. Anhand von Fallbeispielen führte sie verschiedene Strategien vor, wie Migranten ihre Revolutionsvergangenheit in Einkommen verwandeln und sich selbst und die Revolution erfolgreich vermarkten konnten. Ungarische Flüchtlinge seien dabei im Gegensatz zu Deutschen aufgrund unterschiedlicher struktureller Voraussetzungen eher in der Lage gewesen, ihre Vergangenheit erfolgreich zu instrumentalisieren, da die Einwanderung rascher ablief, weil es im Gegensatz zu etablierten deutschen Migrantenstrukturen noch keine ungarische Kolonie in den USA gab und die Ungarn deshalb leichter die in der Aufnahmegesellschaft vorhandenen Stereotypen ansprechen konnten.
Joachim Reppmann berichtete über die Auswanderung des Achtundvierziger-Politikers und Zeitungsverlegers Theodor Olshausen und dessen kontinuierliche Verbindungen ins alte Heimatland - genauer gesagt nach Schleswig. Dies schlug sich in einem umfangreichen Korpus an Briefen nieder, die einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt Olshausens über mehrere Jahrzehnte hinweg erlaubten. Trotz seines familiären Netzwerkes konnte er sich nach seiner Rückkehr nicht wieder vollständig eingliedern, was vor allem an der zunehmenden Entfremdung zu seinen alten politischen Weggefährten gelegen habe.
Abschließend führte Johannes H. Voigt die Erfahrungen dreier deutscher Pädagogen vor, die es nach 1848 nach Australien verschlagen hatte. Er zeigte, wie wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Spezifika des Einwanderungslandes, über dessen deutsche Immigrantenschaft deutlich weniger bekannt ist als über die zeitgleiche USA-Auswanderung, sich auf Beruf und pädagogische Ziele der einzelnen auswirkten und die Ansiedlung entweder erleichterten oder hemmten, was in einem Fall bis zur Remigration führte.
Die epochenübergreifende Diskussion von Migrationsphänomenen unter Berücksichtigung der Erfahrungsebene hat sich insgesamt als recht fruchtbar erwiesen. Ein Befund der Tagung war, dass es nicht von der geographischen oder kulturellen Distanz der aufnehmenden Gesellschaft zur Migrantenschaft abhängt, ob Integrationsbemühungen von Migranten gelingen können. Zu fragen bleibt, worin sich etwa graduelle Abstufungen eines "Erfahrungstyps" - im Sinne der Organisatoren - wie Fremdsein oder Fremdheit ausdrücken können. Insofern müssen ebenso - vielleicht stärker als bisher - die Erfahrungen derjenigen untersucht werden, deren Integration nicht in ‚erfolgreichen' Bahnen verlief und die zurückkehrten. Dass die Notwendigkeit besteht, über die Bedeutung des aus der Frühneuzeitforschung entliehenen Erfahrungsbegriffs für die Migrationsgeschichte weiter nachzudenken, hat die Tagung gezeigt. Die Beiträge sollen in einem Band der Reihe "Stuttgarter Beiträge zur Historischen Migrationsforschung" veröffentlicht werden.