Familie als historisches Modell – Gelingen und Scheitern

Familie als historisches Modell – Gelingen und Scheitern

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Familienforschung
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.01.2006 - 28.01.2006
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Von
Petra Götte, Köln

Im Vergleich zur mittlerweile beachtlichen Fülle an Ergebnissen zur Geschichte der Familie ist die theoretische Reflexion in der Historischen Familienforschung nur langsam vorangeschritten. Diesem Befund Rechnung tragend hat der Arbeitskreis Historische Familienforschung auf seiner diesjährigen Tagung die Diskussion von Theoriekonzepten ins Zentrum gestellt, die für die Historische Familienforschung, insbesondere für eine bildungshistorisch orientierte, interessant und innovativ sein können.

Dies gilt sicherlich für die in der Historischen Familienforschung bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Studie „Etablierte und Außenseiter“ von Norbert Elias und John Scotson (1965), die Hans Malmede (Düsseldorf) vorstellte. Elias und Scotson präsentieren darin die Ergebnisse einer Untersuchung, die sie in einer kleinen englischen Gemeinde – Winston Parva genannt – in den späten 1950er-Jahren durchgeführt haben und die sich mit den sozialen Beziehungen zwischen der „alten“, angestammten Dorfbevölkerung und den neu zugezogenen Bewohnern befasst. Elias und Scotson kommen nicht nur den Spezifika der Etablierten-Außenseiter-Figuration auf die Spur, sondern fördern auch interessante Unterschiede im Hinblick auf die Strukturen, Netzwerke und kommunikativen Prozesse in und zwischen den Familien der etablierten Dorfbevölkerung einerseits und den Familien der „Außenseiter“ andererseits zu Tage. Die Familien der „Etablierten“ bestehen vorwiegend aus drei Generationen, sind mutterzentriert und verfügen über ein dichtes Netz von Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen. Ihnen gelang es, die zentralen Positionen im örtlichen politischen und sozialen Establishment zu besetzen. Diese eher traditionelle Familien- und Sozialform, so Malmede, habe sich in der „Etablierten-Außenseiter-Figuration“ von Winston Parva als das örtliche Erfolgsmodell erwiesen. Im Gegensatz dazu waren die zwei-generationalen Kernfamilien der dörflichen Außenseiter weitgehend atomisiert; ihnen gelang es nicht, ein ähnlich dichtes Netz an nachbarschaftlichen Kontakten aufzubauen, was letztlich dazu führte, dass sie den Stigmatisierungen und Abschottungen seitens der etablierten Dorfbevölkerung wenig entgegenzusetzen hatten. Auf Elias’ Theorie vom Prozess der Zivilisation bezogen und in die Figurationsanalyse eingebunden, macht den besonderen Gewinn der von Malmede vorgestellten Studie aus, dass sie Individuum und Gesellschaft in ihrer wechselseitigen Vermittlung und in ihrem historischen Gewordensein betrachtet. Auch die Familie wird nicht singulär und quasi freischwebend betrachtet, sondern als Teil größerer Figurationen analysiert.

Jutta Ecarius und Katrin Wahl (beide Gießen) referierten anschließend über „Bourdieu und die Familienforschung“. Zunächst stellte Jutta Ecarius wesentliche und für die Familienforschung anschlussfähige Aspekte des Bourdieuschen Ansatzes heraus: die Kapitalsorten, die Reproduktionsstrategien und nicht zuletzt den Habitusbegriff. Ähnlich wie bei Elias und Scotson wurde auch in Bezug auf Bourdieus Theorieansatz der gelungene Brückenschlag zwischen einer kontextlosen Betrachtung des Subjekts auf der einen Seite und einem subjektlosen Strukturalismus auf der anderen Seite hervorgehoben. Katrin Wahl stellte sodann Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt vor, das sich mit familialen Bildungsleistungen und Bildungsstrategien, mit der Aneignung und Weitergabe von Bildung und Kultur in Familien befasst. Unter Rückgriff aus das Konzept der „Information Literacy“ und mit einem breit gefächerten methodischen Instrumentarium (unter anderem Einzelinterviews mit Familienmitgliedern, intergenerationelle Gespräche, moderierte Familiendiskussionen, Fotoanalyse) wird versucht, der Habitusausbildung empirisch auf die Spur zu kommen. In der anschließenden Diskussion des Vortrags kam die Frage auf, welches Quellenmaterial geeignet ist, um den Habitus im Bourdieuschen Sinne zu erforschen. Dies ist insbesondere für die Historische Familienforschung virulent, die sich – im Gegensatz zu dem vorgestellten Projekt – in der Regel mit einem vorgegebenen und zudem meist bruchstückhaften Quellenfundus konfrontiert sieht, die also kein neues und mithin nicht solch differenziertes Quellenmaterial erheben kann.

Im Anschluss an diese beiden Vorträge befasste sich das Plenum mit dem von Kurt Lüscher wiederbelebten Konzept der „Ambivalenz“. Im Kontext von familialen Generationsbeziehungen verweist es auf deren strukturelle Ambivalenzen wie beispielsweise das gleichzeitige Bestreben nach Annäherung und Distanzierung. Der Begriff der Ambivalenz mahnt auch die Historische Familienforschung, die Vieldeutigkeiten und Brüche, das Nebeneinander gegensätzlicher Gefühle und Bestrebungen – kurz: die Komplexität von familialen Beziehungen als Herausforderung anzunehmen und sie auch für historische Familienbeziehungen sichtbar zu machen. Denn wenn es sich, wie Lüscher herausstellt, um strukturelle Ambivalenzen handelt, dann müssten sie auch in den vermeintlich eindeutigen, rigiden Familienverbänden „vormoderner“ Zeiten anzutreffen sein.

Am zweiten Tagungstag führte Carola Groppe (Dortmund) zunächst ein Analysemodell für eine bildungshistorisch orientierte Familienbiographie vor, das dann am Beispiel der Seidenfabrikantenfamilie Colsman veranschaulicht wurde. Das Analysemodell von Carola Groppe bringt verschiedenste Theorieansätze zum Schnitt, denn auch für eine bildungshistorische Familienbiographie gilt es Lebenswelt, Lebensformen, Lebensmuster, Generationenverhältnisse und gleichzeitig Prozesse der familialen Lebenslaufgestaltung, der Persönlichkeits- und Identitätsbildung, des Erwerbs von Handlungskompetenz usw. in den Blick zu nehmen. Auf lebhaftes Interesse stießen auch die Ergebnisse ihrer Studie: Im späten 18. Jahrhundert, so Groppe, wurde die Arbeit am „Selbst“ erforderlich. Während aber noch für die ältere Generation (ab den 1760er-Jahren geboren) das Ringen um ein autonomes Selbst, um ein Recht auf Individualität im Mittelpunkt stand, war dies für die Kindergeneration (geboren ab 1800) fast schon Selbstverständlichkeit, weshalb sich ihre Suche darauf konzentrieren konnte, wie dieses „Selbst“ jeweils gestaltet und konturiert werden sollte, wobei die Affinität zur Erweckungsbewegung eine wesentliche Rolle spielte.

Wolfgang Gippert (Köln) stellte mit dem Milieukonzept einen Ansatz vor, der in der Historischen Familienforschung wenig rezipiert worden ist. Gleichwohl wird der Milieubegriff geradezu inflationär und noch dazu in unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet. Insofern ging es Gippert zunächst darum, den Milieubegriff von dort herzuleiten, wo er verwendet wird, nämlich in den modernen Sozialwissenschaften einerseits und in der historischen Milieuforschung andererseits. Im Zentrum des Vortrags stand aber die Frage, inwiefern der Milieuansatz für die Historische Familienforschung relevant ist. Es stellte sich heraus, dass das besondere Potenzial des Milieuansatzes unter anderem darin liegt, dass er Sozialstrukturen – hier allerdings kleinräumigen Zuschnittes – wie das lokale Parteienwesen, aber auch Betriebsgemeinschaften, Vereinszusammenschlüsse als milieukonstituierende und -tradierende Faktoren ebenso erfasst wie Nachbarschaftszusammenhänge und familiäre Bindungen und Beziehungen. Im Anschluss an den Vortrag wurde rege diskutiert, inwiefern der Milieuansatz Anknüpfungspunkte zu anderen Theoriekonzepten bietet, vor allem zu Elias und Bourdieu. Angeregt wurde weiterhin, die neuere, vor allem an Lebensstilen orientierte Milieuforschung für die historische Milieuforschung fruchtbar zu machen.

Unter dem Titel „Erfolg des Scheiterns und das Scheitern des Erfolgs“ referierten Gerhard Kluchert und Rüdiger Loeffelmeier (beide Hamburg) über „Leistungen der Familie in unterschiedlichen politischen Kontexten“. In ihrem Vortrag ging es um die Rolle der Familie beim Aufbau der politisch-moralischen Grundorientierung von Kindern. Veranschaulicht wurde dies an zwei biographischen Fallbeispielen. Sowohl bei der 1939 geborenen und in der DDR aufgewachsenen Pfarrerstochter Maria C. als auch bei der 1917 geborenen Stefani von W., Tochter eines Oberst, zeigten sich im Hinblick auf ihre politische Orientierung starke Affinitäten zu denen des Elternhauses. Insofern könne man sagen, dass Familien relativ „erfolgreich“ in der Tradierung ihrer jeweiligen normativen Orientierung seien. Lege man der Analyse der Fallgeschichten hingegen das Stufenmodell der moralischen Entwicklung von Lawrence Kohlberg zugrunde, so käme man zu gänzlich anderen Befunden: Dann nämlich müsse man für beide Fälle konstatieren, dass sie auf einer unteren Stufe der Moralentwicklung stehen geblieben seien. Vor diesem Hintergrund sei die Familie beim Aufbau einer autonomen politisch-moralischen Orientierung ihrer Kinder, so die Referenten, gescheitert. Als Fazit hielten Kluchert und Loeffelmeier fest, dass sich die Frage nach Gelingen und Scheitern der Familie nicht abstrakt beantworten lasse, sondern je nach theoretischem Bezugspunkt und je nach zugrunde gelegtem normativen Maßstab unterschiedlich ausfalle. Während das Plenum diesem Ergebnis nur beipflichten konnte, stieß die Anwendung der Kohlbergschen Theorie der Moralentwicklung auf Fragen der politisch-moralischen Orientierung im „Dritten Reich“ und in der DDR auf Kritik.

Im Anschluss an den Vortrag von Gerhard Kluchert und Rüdiger Loeffelmeier stellt sich die im übrigen grundsätzliche, aber auf dieser Tagung wenig diskutierte Frage nach den methodischen Implikationen von Theorieansätzen. Kann man beispielsweise die Kohlbergsche Theorie der Moralentwicklung, die üblicherweise an Dilemmainterviews gekoppelt ist, zur Deutung weitgehend narrativer Interviews heranziehen? Ebenso stellt sich die Frage, mit welchen Quellen und Methoden man ein komplexes Phänomen wie den Habitus erforschen kann. Schließlich benötigt Forschung nicht nur plausible Theorieansätze zur Deutung von Phänomenen, sondern ebenso adäquate Quellen, Erhebungs- und Auswertungsverfahren.

Die methodische und theoretische Herausforderung für die Historische Familienforschung, so ließ die Tagung deutlich werden, besteht vor allem in ihrem komplexen Gegenstand. Denn Familie ist auch in ihren historischen Varianten Generationsgemeinschaft, ist ein höchst differenziertes und diffiziles Gefüge von Beziehungen und Bindungen, ist Ort von Identitätsentwicklungs- und Bildungsprozessen und ist dabei immer eingebunden in nahe und weniger nahe soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen und Kontexte. Will Historische Familienforschung dieser Komplexität Rechnung tragen, wird sie in den seltensten Fällen mit nur einer singulären Theorie auskommen bzw. Theorieansätze favorisieren, die eben jene komplexen Wechselverhältnisse zwischen Subjekt und Gesellschaft zum Gegenstand haben. Insofern wurden auf der Düsseldorfer Tagung mit Bourdieu, Elias und Scotson, aber auch mit dem Milieuansatz zentrale Konzepte vorgestellt. Dies in Kombination mit einem offenen, angenehmen Diskussionsklima und einer umsichtigen Programmgestaltung durch das Sprechergremium und das Düsseldorfer Team um Hans Malmede und Gisela Miller-Kipp ließ die Tagung zu einer interessanten und anregenden Veranstaltung werden.

Das nächste Treffen des Arbeitskreises Historische Familienforschung wird als größere Tagung vom 26. bis 28. Januar 2007 an der Universität Gießen zum Thema „Familie und institutionelle Erziehung“ stattfinden. Auf der Tagung, die auch für Nichtmitglieder und Referentinnen und Referenten aus anderen Disziplinen geöffnet wird, soll die aktuelle (bildungs-)politische Debatte als Folie für die historische Dimensionierung des Verhältnisses von Familie und institutioneller Erziehung dienen. Ein Call for Papers wird durch das Sprechergremium erstellt und verbreitet.


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