Geschlechtsspezifische Aspekte von Krankheit und Gesundheit

Geschlechtsspezifische Aspekte von Krankheit und Gesundheit

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM)
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.05.2006 - 05.05.2006
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Von
Christiane Winkler, University College London

„Geschlechtsspezifische Aspekte von Krankheit und Gesundheit“ waren Thema des 25. Fortbildungsseminars des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM), das vom 3. bis 5. Mai in Stuttgart stattfand. Eine interdisziplinäre Gruppe deutscher und österreichischer Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler diskutierte zweieinhalb Tage lang über methodologische und theoretische Konzepte ihrer Forschungsarbeiten aus den Bereichen Medizin- und Sozialgeschichte, Soziologie und Gender Studies.

Sektion I: Epochenübergreifende Differenzen

Der erste Seminartag wurde mit einem Vortrag aus dem Bereich der antiken Medizingeschichte eröffnet. Nadine Metzger (Freiburg) analysierte insbesondere die Rezeption folgender Passage aus dem Corpus Hippocraticum: „sie [die Schwellungen] befielen Kinder, junge Leute, Erwachsene, darunter vor allem die, die in der Palästra und in Gymnasien Sport trieben; Frauen befielen sie nur selten.“1 Anhand präziser Textanalysen zeigte Metzger auf, wie die Rezeption zwischen Galen († um 200 n. Chr.) und Hans Diller (1962) geprägt war von unterschiedlichen zeitgenössischen Rollenvorstellungen und geschlechtsspezifischen Deutungshorizonten der jeweiligen Interpreten und Kommentatoren. Durch den Vergleich der divergenten Interpretationen in den verschiedenen Epochen machte die Referentin deutlich, dass gerade Geschlecht als Kategorie besonders anfällig ist für eine Übertragung von Vorstellungen aus dem eigenen Kulturraum. Vor dem Hintergrund dieses Befunds stellte die sie die Frage nach der kulturellen Bedingtheit auch unseres heutigen Blickwinkels auf die griechische Quelle und regte an, zu diskutieren, ob ein Verständnis der Intentionen des antiken Autors im zeitgenössischen Kontext heute überhaupt möglich sei.

Sektion II: Sexualität und Norm

Divergierende Rezeptionen und Deutungen waren auch Thema der aufeinander aufbauenden Vorträge von Ulrike Klöppel (Berlin) und Tino Plümmecke (Berlin). Beide Referenten untersuchten das Thema Intersexualität am Beispiel des wohl bekanntesten Falls der Sexualmedizin – der Geschlechtsneuzuweisung eines Babys Ende der 1960er Jahre –, der als „John/Joan“-Fall diskutiert wurde.

Ulrike Klöppel stellte zunächst den Fall vor und skizzierte dessen Rezeptionen im Spannungsfeld zwischen sozialpsychologischen und biologischen Deutungen der Kategorie Geschlecht. Ihre daran anschließende Frage nach den Bedingungen der Fallkonstruktion(en) führte sie zu zwei zentralen Thesen. Erstens sei die Entstehung eines experimentellen Dispositivs in Form einer Experimentalisierung der Intersexualitätsforschung zu beobachten, die dazu geführt habe, dass die verschiedenen Standpunkte produktiv miteinander kommunizieren könnten. Zweitens argumentierte sie, dass es mit Hilfe des bei Foucault entlehnten Problematisierungskonzepts möglich sei, die vermeintliche Evidenz des „Problems“ einer Uneindeutigkeit von Geschlecht zu hinterfragen. Dabei stelle sich heraus, dass die Kategorisierung entlang einer Zwei-Geschlechter-Dichotomie stets als selbstverständliche Prämisse behandelt und reproduziert wird, während am intersexuellen „Studienobjekt“ selbst immer wieder bestimmte Geschlechtskodifikationen problematisiert und reformuliert werden.

Tino Plümecke machte daran anschließend die divergenten Herangehensweisen an den Fall und dessen Deutungsmöglichkeiten in den Sozialwissenschaften, den Gender Studies, den intersexuellen Bewegungen sowie in populären und medialen Inszenierungen deutlich. Was aber lässt den „John/Joan“-Fall und das Thema Intersexualität so ergiebig erscheinen, dass sich verschiedene Wissensbereiche, Disziplinen und Forschungen zum Thema „Geschlecht“ immer wieder auf diesen Fall beziehen? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage spielt für Plümmecke der Faktor der Plausibilität als Bindeglied für die Herstellung verschiedener Topoi eine wichtige Rolle. Den für ihn zentralen Topos-Begriff verwendet er im Sinne von Sprechorten, verstanden als Argumentationsmuster oder Formationen des Sprechens über einen Fall, in denen unterschiedliche Strategien und Diskurse miteinander verknüpft sind.

Zur Diskussion stellten die beiden Referenten einen von ihnen gemeinsam erarbeiteten methodischen Ansatz, den sie unter Rückgriff auf Ideen u. a. von Judith Butler und Michel Foucault mit „Ausnahme-Regel-Ansatz“ bezeichneten. Mit diesem Ansatz sei es möglich, das Verbindende der so unterschiedlichen Rezeptionen und Problematisierungen des „John/Joan“-Falls im Speziellen und des Themas Intersexualität im Allgemeinen herauszufiltern. Als wesentliches Ergebnis hielten beide fest, dass Intersexualität als Kampfplatz für die Auseinandersetzungen um Konstruktion und Materialität von Geschlecht funktioniere. Auf diesen Ansatz gingen die Referenten in der anschließenden Diskussion nochmals gesondert ein und betonten die Übertragbarkeit der Ausnahme-Regel Konstrukte, die sie als eine fundamentale Dichotomie sehen, auch auf andere Fälle.

Auch Meike Lauggas (Wien) stellte in ihrem Vortrag über Kinder- und Jugendgynäkologie ein theoretisches Konzept vor. Auf Basis einer Untersuchung kindergynäkologischer Fachartikel und Lehrbücher von 1939 bis 2002 sowie von Experteninterviews erklärte Lauggas die Entwicklung der Kinder- und Jugendgynäkologie mit Hilfe einer Analyse der Intersection2 verschiedener Kategorien. Durch den intersectionality-Ansatz, so argumentierte Lauggas, ließen sich gezielt verschiedene Lebensrealitäten und deren Herrschaftskontexte betrachten. So öffne der Ansatz die Möglichkeit, die Argumentationsmuster für Vorgehensweisen und Methoden der Kinder- und Jugendgynäkologen als ein Zusammenwirken und eine wechselseitige Beeinflussung der Kategorien Geschlecht und (Lebens-)Alter aufzufassen. Sehr deutlich werde dies beispielsweise bei der Gleichzeitigkeit endokrinologischer Alters- und Geschlechtsforschung im Rahmen der Kinder- und Jugendgynäkologie. Darüber hinaus ermögliche es der „intersektionelle Blick“ sowohl Aussagen über den politischen Kontext zu treffen, der die Entwicklung der Kinder- und Jugendgynäkologie vorantreibe und mit beeinflusse, wie auch bewusst auf real existierende Komplexitäten einzugehen.

Schwule Pinguine und schwule Flamingos standen zunächst im Mittelpunkt der Präsentation von Rainer Herrn (Berlin). Anhand entsprechender Medienberichte stellte Herrn die Anthropomorphisierung derartiger Tiergeschichten vor und lenkte seinen Blick dann auf die seit dem 19. Jahrhundert geführte und in den Medien wiederholt aufgegriffene Diskussion über biologische Ursachen von Homosexualität. Seine zentrale Frage war, warum die Biologisierung von Homosexualität immer wieder von Wissenschaftlern thematisiert werde. Zunächst untersuchte der Referent die in den verschiedenen Diskursen verwendeten Argumentationselemente und stellte die These auf, dass biologische Arbeiten über Homosexualität selbstrefenziell und argumentativ hermetisch seien, woraus sich eine spezifische Eigendynamik ergebe. Um der Frage nachzugehen, warum die Biologisierung von Homosexualität immer wieder von Wissenschaftlern thematisiert wird, beschäftigte er sich in einem weiteren Schritt mit der Funktion der Diskursivität einer biologischen Auffassung von Homosexualität in der Homosexuellenszene. Gerade die letzte Welle biologischer Untersuchungen über Homosexualität seit Ende der 1980er Jahre sei überwiegend von lesbischen und schwulen Forscherinnen und Forschern in den USA getragen worden. Ein Blick sowohl auf die amerikanische Gesellschaft als auch auf die individuelle sowie kollektive Ebene der betreffenden Forscher zeige, dass politische und gesellschaftliche Motive wie die Wiedererlangung eines Kollektivbewusstseins, die Anerkennung als soziale Minderheit und die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen das Forschungsinteresse bestimmen.

Sektion III: Gynäkologie und Biomacht

Karen Nolte (Würzburg) analysierte in ihrem Werkstattbericht Geschlechterkonstruktionen, die im 19. Jahrhundert im Zuge medizinischer Kontroversen über gynäkologische Untersuchungen entstanden sind. Anhand ihrer Analyse ärztlicher Schriften zeigte die Referentin zunächst auf, dass um 1800 das Betasten der weiblichen Genitalien als weniger beschämend empfunden wurde, als der Blick des Arztes durch das Speculum in den Uterus. In den Überlegungen der Mediziner im frühen 19. Jahrhundert sei einerseits immer wieder auf die Schamgrenzen der Frauen verwiesen, andererseits jedoch seien durchaus auch die eigenen männlichen Sittlichkeitsvorstellungen thematisiert worden. Beides habe dazu geführt, dass in den deutschsprachigen Gebieten lange Zeit der Einsatz des Speculums bei der gynäkologischen Untersuchung verpönt war. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – und damit später als bislang angenommen – sei dann zwar die „Objektivierung“ und Entproblematisierung der gynäkologischen Untersuchungsmethode weitgehend vollzogen worden – nun waren es jedoch Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, die das Argument der weiblichen Scham zu nutzen versuchten, um damit für die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium zu werben.

Christina Benninghaus (Bielefeld) thematisierte in ihrem Vortrag den Zusammenhang von Fortpflanzung und weiblichem Orgasmus in Fach- und Ratgeberliteratur zum Thema „Unfruchtbarkeit“ des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts. Dabei stellte sie heraus, dass die lange Zeit vorherrschende Vorstellung, ein gemeinsamer Orgasmus von Frau und Mann sei eine notwendige Bedingung für Fortpflanzung, zwar im 19. Jahrhundert durch wissenschaftliche Erkenntnisse an Bedeutung verliere, dennoch weiterhin vorhanden sei. Besonders in der Ratgeberliteratur für unfruchtbare Paare spiele der weibliche Orgasmus nach wie vor eine wichtige Rolle und werde als befruchtungsfördernd beschrieben. Mit diesen empirischen Befunden stellte Benninghaus das „two-sex-model“ von Thomas Laqueur 3 in Frage. Dass im spezifischen Diskurs über die Unfruchtbarkeit weiterhin die Zusammengehörigkeit von weiblichem Orgasmus und Fruchtbarkeit des Beischlafs propagiert werde, lasse sich viel eher mit einem „one-sex-model“ vereinbaren, als mit den Annahmen Laqueurs. Die Referentin plädierte daher in der Diskussion ihres Beitrags, in der Forschungspraxis zwischen verschiedenen gleichzeitig stattfindenden Diskursen präzise zu differenzieren.

Als Beispiel geschlechtsspezifischer Biopolitik stellte Siri Rossberg (Berlin) die um 1900 geführte Debatte über die so genannte „Stillungsnot“ sowie weitere Maßnahmen zum zeitgenössischen Säuglingsschutz vor. Am Beispiel von Alice Salomon und Agnes Blum, und damit von Vertreterinnen sowohl der Sozial- als auch der Rassenhygiene, argumentierte Rossberg, dass die Debatte über die Bevölkerungspolitik um die Jahrhundertwende geprägt wurde von der spezifisch weiblichen Perspektive bürgerlicher Frauen. So wurden einerseits arbeitende Frauen zu einem biopolitischen Zielobjekt definiert und von staatlicher wie frauenrechtlicher Seite dazu ermahnt, ihre Säuglinge zu stillen – Agnes Blum beispielsweise forderte sogar einen gesetzlichen Stillzwang für Mütter, um dem Kind das Recht auf seine ihm zustehende „natürliche Ernährung“ zu gewähren. Andererseits wurde von der bürgerlichen Frauenbewegung der Nutzen der Mitarbeit von Frauen für die Gesellschaft mit ihren geschlechtsspezifischen, weiblichen Eigenschaften begründet. Auf diese Weise verkörpere der Beruf der Fürsorgerin zugleich bürgerliches Engagement für die Arbeiterfrauen und deren Disziplinierung sowie die Emanzipationsbemühungen bürgerlicher Frauen.

Sektion IV: Männer im Krieg

Antje Kampf (Mainz) setzte sich in ihrem Vortrag mit der Kontrolle männlicher Sexualität am Beispiel des Umgangs mit Geschlechtskrankheiten im Neuseeländischen Militär während des Zweiten Weltkriegs auseinander. Gerade die Kontrolle der Männer sei bislang in Arbeiten zur Regulierung von Geschlechtskrankheiten im Militär zu kurz gekommen. Anhand empirischer Beispiele zeigte die Referentin auf, wie neuseeländische Soldaten durch Techniken von Objektivierung und Normalisierung diszipliniert wurden und wie durch derartige Maßnahmen männliche Sexualität konstruiert wurde. Als nützliches Analyseinstrument erwiesen sich für sie Überlegungen Michel Foucaults zur Kontrolle und Disziplinierung von Körpern. Diese Überlegungen hätten sie veranlasst, sowohl die immer weiter ausgebaute Rolle der Männer als Subjekte eines Kontrollmechanismus zu analysieren, als auch herauszuarbeiten, wie manche Männer Formen von Widerstand gegen die Kontrollen produzierten und den verordneten Kampf gegen Geschlechtskrankheiten sogar für ihre eigenen Interessen zu nutzen verstanden.

Die Bekämpfung von sexuell übertragbaren Krankheiten bildete auch einen Schwerpunkt im Vortrag von Herwig Czech (Wien) über Geschlechtskrankheiten, Prostitution und Sexualpolitik im Nationalsozialismus am Beispiel der Stadt Wien und des dortigen Gesundheitsamts. Auch er bediente sich des Foucaultschen Ideenfundus – speziell seiner Gedanken zu Machtanalytik, Biopolitik und Sexualität. Diese erlauben es Czech, seine Überlegungen auf die produktiven Aspekte von behördlichen Strategien und Überwachungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Sexualpolitik zu lenken. Eine seiner zentralen Thesen ist, die Einrichtung von Bordellen als Teil eines Kontrollmechanismus zu sehen und nicht als sexuelle Permissivität. Diese These, die kritisch die Permissionsthese von Dagmar Herzog 4 hinterfragt, wurde in der anschließenden Diskussion aufgegriffen, wobei insbesondere danach gefragt wurde, ob nicht doch Freizügigkeit gerade durch Repression und Kontrolle produziert worden sei.

Nicole Schweig (Stuttgart) stellte vor, welche Aussagen über das Krankheits- und Gesundheitsverhalten von Männern anhand der Analyse von Feldpostbriefen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gewonnen werden können. Dabei zeigte sie auf, dass die von ihr untersuchten Männer ihre allgemeinen und auch ganz speziellen Befindlichkeiten genauestens analysiert und in ihren Briefen kommuniziert haben. Im Blick hatte die Referentin dabei die veröffentlichten Briefe von zwei ledigen und zwei verheirateten Männern, die sie auf verschiedene Umgangsweisen mit ihren Krankheiten sowie auf die Kommunikation dieses Verhaltens an die Adressaten hin untersuchte. Im Gegensatz zu den verheirateten Männern hätten die Ledigen ihre Krankheitsbeschreibungen genutzt, um ihre Unabhängigkeit von der Familie zu demonstrieren. Abgesehen von der Kategorie verheiratet/unverheiratet, wurden in der Diskussion auch Fragen nach dem Alter sowie nach den Adressaten der Briefe aufgeworfen, die ebenfalls Faktoren für ein bestimmtes Verhalten der Männer gewesen sein könnten.

Christiane Winkler (London) präsentierte ihre Überlegungen, wie es anhand einer Analyse der politischen Interessen des westdeutschen „Verbands der Heimkehrer“ möglich sei, die „Heimkehrerkrankheit“ Dystrophie als geschlechtsspezifisch konstruierten Krankheitsbegriff zu erfassen. Die Genese und Entwicklung des Diskurses über die Mangel- und Unterernährungskrankheit Dystrophie ist historisch eng verknüpft mit der Heimkehr der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs aus sowjetischen Lagern. Der im Diskurs konstruierte Zusammenhang zwischen Geschlecht und Dystrophie sei deshalb auch vor dem politischen und sozialen Hintergrund der Nachkriegszeit zu sehen und besonders der zeitgenössischen Interessen der beteiligten Diskursakteure. So haben sich insbesondere Mitglieder des „Verbands der Heimkehrer“ im Dystrophie-Diskurs hervorgetan und diesen gezielt zu verbandsstrategischen Zwecken instrumentalisiert, was besonders in der Phase einer strategischen Neuausrichtung des Verbands nach der Rückführung der letzten Kriegsgefangenen deutlich wird. Im Anschluss an das Referat wurde kontrovers diskutiert, welche Bedeutung für das Verständnis dieses Prozesses den individuellen Biografien der beteiligten Akteure beigemessen werden muss, die teilweise in das NS-System verstrickt waren.

Sektion V: Selbstdiziplinierung

Susanne Hoffmann (Stuttgart) untersuchte Autobiografien von Männern und Frauen unterschiedlichen sozialen Hintergrunds daraufhin, welche Rolle Selbstdisziplinierung im Leben von Männern und Frauen spielt. Durch eine quantitative Untersuchung dieser Texte stellte Hoffmann die von Holger Brandes 5 geäußerte These in Frage, dass Männer gegenüber sich selbst mehr Härte an den Tag legten als Frauen. Es seien in den untersuchten Quellen vielmehr die Frauen, die sich weit öfter eines kompromisslosen Umgangs mit ihrem eigenen Körper bezichtigten. Die Alltagsdiskurse, das stellte die Referentin anhand ihrer quantitativen Analyse fest, seien also weit weniger geschlechtsspezifisch strukturiert als angenommen. Geschlecht wurde von ihr jedoch nicht nur als zu analysierende Kategorie thematisiert, sie stellte sich vielmehr auch die Frage nach der Nützlichkeit des von ihr gewählten geschlechtervergleichenden Zugangs, der ja bereits das Vorhandensein einer geschlechtlichen Dichotomie voraussetze. Viele Anregungen zur methodischen Ableitung der gebildeten Kategorien für die quantitative Analyse erhielt Hoffmann in der anschließenden Diskussion, in der auch darauf hingewiesen wurde, dass ein Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext der Abfassung der Texte die bislang gewonnenen Erkenntnisse bereichern und die angewandten Kategorien schärfen würde.

Sporttreibende alte Frauen und der „somatic turn“ in den Kulturwissenschaften standen im Mittelpunkt des Vortrags von Angelika Uhlmann (Greifswald) über „Frauenbewegung“ im Alter. Uhlmann argumentierte zunächst, dass die These von der Sportabstinenz alter Frauen heute keine Gültigkeit mehr besitze, sondern dass sich ganz im Gegenteil alte Frauen immer sichtbarer sportlich betätigen. Die Gründe für die „Frauenbewegung“ seien mannigfaltig und könnten als Sebstdisziplinierung, als Folge von Kürzungen der Krankenkassenleistungen, als Orientierung am Jugendwahn oder gar als emanzipatorischer Akt verstanden werden. Warum aber, fragte sich Uhlmann, wird diese Partizipation an sportlichen Aktivitäten nicht stärker in den Medien wahrgenommen und von der Werbung aufgegriffen? Antworten zu dieser Frage möchte sie in ihrem derzeitigen Projekt finden. Als methodisches Problem rückte sie die von ihr geforderte Grenzüberwindung im Zuge ihres interdisziplinären Projektrahmens ins Licht. Wie kann ganz konkret in der wissenschaftlichen Praxis interdisziplinär gearbeitet werden? Um sich diesem grundlegenden Problem anzunähern, stellte die Referentin vor, wie verschiedene Ansätze wie u. a. Sportwissenschaft, Gerontologie, Medizin, Geschichtswissenschaft oder Gender Studies sich bislang dem Thema Sport von alten Frauen gewidmet hatten.

Sektion VI: Psychiatrie aus der Akte

Katharina Weikl (Berlin) betonte in ihrem Vortrag über die Giesinger Irrenanstalt und deren „Anstaltsvater“ Dr. Sax zunächst ihre Verwunderung darüber, in Patientenakten und ärztlichen Rechenschaftsberichten aus dem beginnenden 19. Jahrhundert kaum geschlechtsspezifische Unterschiede in Diagnostik und Behandlungsmethoden zu finden. Sie hielt jedoch fest, dass Geschlecht in der Protopsychiatrie durchaus in anderer Hinsicht eine Rolle spiele – sei doch der Gedanke der Institution der Irrenanstalt selbst durch den dominanten Topos der „Anstaltsfamilie“ und des „Anstaltsvaters“ geprägt. Die Analyse der Berichte des Giesinger Anstaltsleiters Dr. Sax habe ergeben, dass dieser mehrere Männerrollen auf sich vereinige – so sei er gleichzeitig Beobachter, Pädagoge, Ökonom, Vater und aufgeklärter Arzt. Dennoch zeige die Praxis, dass Sax zwar die Elemente des Anstaltsvaters einer Anstaltsfamilie aufrufe, jedoch dem Topos gleichzeitig auch widerspreche, indem er beispielsweise nicht auf dem Anstaltsgelände wohnte. Nicht nur über den Fokus auf den Anstaltsvater, auch über die Patienten und deren Angehörige versucht die Referentin Aufschluss darüber zu erhalten, wie geschlechtsspezifisch konnotierte Konflikte oder Verhaltensweisen in die Irrenanstalt hineingetragen wurden.

Mit dem Vortrag von Maike Rotzoll (Heidelberg) wurde nochmals ein Beitrag zur quantitativen Erfassung geschlechtsspezifischer Aspekte zur Diskussion gestellt. Auf Basis einer statistischen Auswertung von über 3000 psychiatrischen Krankengeschichten geht Rotzoll in ihrem Teilprojekt 6 der Frage nach, warum Frauen häufiger als männliche Mitpatienten Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktion T4 geworden sind. Was waren die tatsächlich wirksamen Selektionskriterien der Täter? Gab es ideologische oder ökonomische Motive dafür, dass Frauen zu 54% zu den Opfern des Euthanasieprogramms gehörten? Durch die quantitative Analyse anhand einer Auswahl der insgesamt etwa 90 Variablen stellte die Referentin vor, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Faktoren wie Diagnose, Verhaltensbewertung, Arbeitsbewertung und Arbeitsbereich – jeweils getrennt nach Männern und Frauen – zur Selektion führten. Erweitert wird diese Untersuchung durch eine quantitative linguistische Analyse der Krankenakten sowie durch biografisch-qualitative Elemente. Durch das Zusammenbringen sowohl der quantitativen als auch der qualitativen Analyseelemente konnte als erstes Ergebnis präsentiert werden, dass sich die vorgestellten Kriterien der Arbeitsfähigkeit, des Arbeitsbereichs und des Verhaltens der Patienten als wichtige Elemente für die geschlechtsspezifische Tötung herausgestellt haben. Basiert die qualitative Herangehensweise des Projekts auf der Annahme eines rationalen Selektionsprozesses, den es womöglich gar nicht gegeben hat? Auf diese Nachfrage in der Diskussionsrunde hin ergänzte Rotzoll ihren Beitrag dahingehend, dass bei ihr nach dem bisherigen Untersuchungsstand tatsächlich der Eindruck des Vorhandenseins einer Planrationalität der Selektion entstanden sei.

Der abschließende Freitag vormittag stand im Zeichen von Reflexion und Seminarkritik. Waren bis dato oftmals inhaltliche Fragen zu den Referaten diskutiert worden, entwickelte sich auf Anregung des Moderatorenteams eine angeregte Diskussion über methodische Herangehensweisen an die Themen Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Hierbei wurden auch verschiedene generelle Problemstellungen herausgearbeitet, die sich im Laufe der vorangegangenen Diskussionen anhand der konkreten Vorträge ergeben hatten. Kritisch reflektierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beispielsweise ihre eigene (geschlechtsspezifische) Subjektivität bei der Analyse von Quellen, wobei einerseits in Frage gestellt wurde, ob die Kategorie Geschlecht eine besondere Rolle neben anderen Kategorien spiele und andererseits die Aufforderung geäußert wurde, die eigene Subjektivität auch produktiv in den Forschungsprozess einzubringen. Zudem wurden verschiedene Überlegungen zur Kategorisierung von Geschlecht angestellt. Dabei wurde deutlich, dass in den Vorträgen Geschlecht einerseits als analytisches Instrumentarium angewandt und damit als bestehende Größe vorausgesetzt wurde. Andererseits ging es aber auch darum, Geschlecht als konstitutives Element von historischen Prozessen überhaupt erst zu entlarven und den Konstruktionsprozess von Geschlecht zu untersuchen. Die Diversität der Herangehensweisen an die Untersuchungsobjekte der einzelnen Beiträge hatte aufgezeigt, dass es keinen eindeutigen theoretischen Zugang zu geschlechtsspezifischen Fragen gibt, was sicherlich auch darin begründet liegt, dass Geschlecht von unterschiedlichen Disziplinen thematisiert wird. Die disziplinären Hintergründe und daraus entstehende Gräben zu überbrücken war zwar eines der Ziele des Fortbildungsseminars, jedoch blieb in der Schlussdiskussion die Frage bestehen, inwieweit diese Tagung nicht letztlich auch gezeigt habe, wie sehr Wissenschaftler durch ihre disziplinären Gebundenheiten geprägt sind.

Sehr positiv äußerten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die zu allen Themen äußerst engagierten Diskussionen, die als gleichsam kritisch und konstruktiv empfunden wurden und oftmals noch in den Pausen und beim abendlichen Zusammensein weitergeführt wurden. Auch wenn nicht ausschließlich über methodische und theoretische Fragestellungen diskutiert wurde und viele Beiträge die empirischen Ergebnisse in den Vordergrund gestellt hatten, nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer viele Anregungen und neue Kontakte mit nach Hause.

Herzlich gedankt sei schließlich dem Moderationsteam Viola Balz (Berlin), Nicholas Eschenburg (Freiburg), Marion Hulverscheidt (Kassel) und ganz besonders Philipp Osten vom IGM Stuttgart.

Anmerkungen:
1 Corpus Hippocraticum, Epidemien, I,1. Übersetzung von Hans Diller (1994).
2 Der Begriff der Intersectionality wird auf Kimberlè W. Crenshaw (1991) zurückgeführt.
3 Laqueur, Thomas W., Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/Mass. 1990.
4 Herzog, Dagmar, Sex After Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton 2005
5 Brandes, Holger, Männlicher Habitus und Gesundheit, in: Blickpunkt DER MANN 1 (2003), S. 10-13.
6 Maike Rotzolls Ausführungen sind Teil des DFG-Projektes „Wissenschaftliche Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ‚Euthanasie-Aktion T4".


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