Das Russländische Reich im 18. Jahrhundert

Das Russländische Reich im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Dr. Ricarda Vulpius (Berlin) und Dr. Martina Winkler (Berlin)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.03.2006 - 04.03.2006
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Von
Guido Hausmann, Trinity College Dublin

Anfang März 2006 trafen sich in Berlin Osteuropahistoriker/innen zu einem Workshop über ‚Das Russländische Reich im 18. Jahrhundert’. Die Initiative ging von den beiden Berliner Osteuropahistorikerinnen Dr. Ricarda Vulpius und Dr. Martina Winkler aus, die mit der Veranstaltung zwei Ziele im Blick hatten.
Einmal ging es ihnen darum, erstmals einen organisatorischen Rahmen für diejenigen Historiker zu schaffen, die ein fachliches Interesse an der Erforschung des russländischen 18. Jahrhunderts haben. Eine gewisse Marginalisierungserfahrung im Verhältnis zur etablierteren und ausgefächerteren Forschung zum ausgehenden Zarenreich, dem Zeitabschnitt zwischen Krimkrieg und dem Kollaps der Autokratie 1917, und besonders zur Sowjetperiode (hier besonders der Erforschung des Stalinismus) spielte eine Rolle. Die Initiatoren verwiesen etwa auf die britische ‚Study group’ zur Erforschung Russlands im 18. Jahrhundert als ein Vorbild. Beabsichtigt war also weniger eine einmalige Fachkonferenz zu einer spezifischen Thematik. Zum andern ging es aber doch erkennbar um mehr als um ein rein informelles Treffen mit organisationsbildender Absicht. Elf Vorträge, aufgeteilt in die Sektionen Aufklärung, Imperium, Periodisierungsfragen und aktuelle Forschungen, sollten erste Pflöcke in eine Forschungslandschaft schlagen, die in den letzten Jahrzehnten von der deutschen historischen Osteuropaforschung kaum bearbeitet wurde.

Christoph Schmidt (Köln) bot einen breiten Überblick über die Forschungserträge der letzten Jahrzehnte, der bei (nationalen) Generationenerfahrungen ansetzte. Einige Pointierungen riefen Widerspruch hervor, etwa die Auffassung, der Göttinger Historiker Reinhard Wittram habe vor dem Hintergrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, Russland nach Europa hereinzuschreiben und Zar Peter I. als Verkörperung von Vernunft und Macht verklärt. Die nachfolgende Generation, hier besonders der emeritierte Tübinger Professor Dietrich Geyer, habe dagegen Russland aus Europa herausgeschrieben. Schmidt erkannte die führende Position der amerikanischen bzw. anglo-amerikanischen Forschung an, etwa auf dem Gebiet der Erforschung von Peter I. und seiner Zeit, stellte aber einen Rück- oder Niedergang fest, den er nicht zuletzt in einer Theorielosigkeit sah.
Die vorsowjetische russische Geschichtswissenschaft hatte noch eine erste Generation von Historikern zum 18. Jahrhundert hervorgebracht (Ključevskij, Miljukov, Kizevetter), auf die die sowjetische Geschichtswissenschaft aufbauen konnte. Diese habe dann grundlegendes geschaffen, etwa auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte, besonders der Agrargeschichte, oder der Behördengeschichte, aber auch viele Felder nahezu verweisen lassen (Kirchen- und Rechtsgeschichte). Positiv schätzte er auch die Leistungen der DDR Geschichtswissenschaft ein, die vor dem Hintergrund einer slawophilen Grundhaltung die wechselseitigen deutsch-russischen Beziehungen erforscht habe.
Es bleibt fraglich, ob eine Einteilung der Forschung nach nationalstaatlichen Kriterien vor dem Hintergrund einer jahrzehntelang wachsenden Internationalisierung der Forschung sinnvoll ist.

Andreas Renner (Köln) und Michael Schippan (Berlin) leiteten die Sektion über die Aufklärung in Russland mit Thesen zum Forschungsstand ein. Renner sprach von der Erforschung der Aufklärung in Russland als Defizit, aber als Notwendigkeit, da keine Untersuchung zur Geschichte Russlands im 18. Jahrhundert ohne einen Begriff von Aufklärung auskomme. Zu Recht wies er darauf hin, dass sie nicht reduziert werden dürfe auf die Wirkungsgeschichte prominenter Aufklärer und auf die Erforschung autokratiekritischen Denkens, sondern etwa die Wissensrezeption in den Vordergrund rücken solle. ‚Aufklärung in Russland’, nicht eine ethnisch verengte ‚russische Aufklärung’ sollte das Dach für weitere Forschungen sein (und so etwa die Aufklärer in den baltischen Provinzen systematisch einbeziehen), wie auch Michael Schippan unterstrich und wie es bereits vor einigen Jahren in der Forschung gefordert worden ist. Wichtig war die Frage, ob sich für Russland überhaupt von einer Einheit dieser Epoche sprechen lässt oder ob Aufklärung in Russland nicht eher eine Art Patchwork war. Die Erforschung der ‚Öffentlichkeit’ sollte eine der Forschungsperspektiven sein und ist ja auch seit langem etabliert (vgl. etwa die arbeiten von Marker und Smith). Man wird sich hier nicht mehr mit bloßen sozialgeschichtlichen Ansätzen begnügen können, obwohl es – typisch für die Erforschung der osteuropäischen Geschichte – Lücken aufgrund jahrzehntelanger ‚Unterforschung’ gibt. Für das 18. Jahrhundert bietet sich eine transnationale Ausweitung selbstredend an.
Schippan wies besonders auf die Bedeutung der 1730er und 1740er Jahre hin und reklamierte für Russland auf einigen Gebieten der Aufklärung eine volle Gleichzeitigkeit mit der Aufklärung in mittel- oder westeuropäischen Gesellschaften. In seinen Ausführungen ging er auch genauer auf die orthodoxe Kirche in Russland ein. Er forderte, dass ihr Verhältnis zur Aufklärung genauer erforscht werden müsse, etwa Einstellungen des Belehrens, der Selbstreflexion oder ihr Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften.

Ingrid Schierle (Tübingen) eröffnete den Themenblock ‚Imperium’ mit einem Beitrag zum Wortfeld ‚Rossija’ im 18. Jahrhundert. Der Begriff bezog sich zunächst vor allem auf die Größe Russlands, er meinte die Größe des Herrschaftsgebietes, die Größe der Macht, die Ebenbürtigkeit Russlands mit anderen Mächten und die Einheit der Gesetzgebung. Die Multinationalität des Reiches trat dahinter zurück. Schierle wies darauf hin, dass Begriffe wie ‚Rossija’ oder ‚Rossijskij’ noch sehr fluide gebraucht wurden, dabei nicht durchgehend, aber doch manchmal auch ethnisch ausgerichtet waren. Das lässt sich vielleicht als ein Indikator dafür ansehen, dass die Reichsbildung – auch diskursiv – eher ‚im werden’ als ‚im sein’ begriffen war. Schierle plädierte überzeugend für eine Einbeziehung der Zeit von Alexander I., um Kontinuitäten und Wandel auch in der politischen Sprache besser erkennen zu können.
Eva-Maria Stolberg (Bonn) präsentierte in ihrem Vortrag über ‚das Osmanische Reich: Dämonisiertes Feindbild und Turcoiserie in der russischen Aufklärung und der Einfluss der Okzidentalisierung der russischen Elite’ vor allem einen breiten Katalog an Forschungsperspektiven. Sie machte auf die vielen Kontakte und Konflikte zwischen beiden Reichen im 18. Jahrhundert aufmerksam, die vor allem unter Katharina II. die Fantasie der St. Petersburger Hofschranzen anregte. Diese Vorstellungen waren Teil eines breiteren Stereotypengeflechtes des Orients in Europa im 18. Jahrhundert, deren Erforschung Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Eliten des Russländischen Reiches zulässt.

In der Sektion ‚Aktuelle Forschungen’ referierte zunächst Kristina Küntzel-Witt (Lübeck) über ‚Sibirien in der Historiographie des 18. Jahrhunderts’. Ihr Ausgangspunkt war der aus Pommern stammende, in schwedischen Diensten während des Großen Nordischen Krieges in Russland gefangengenommene und nach Sibirien verbannte Philipp von Strahlenberg, der eine erste, in Westeuropa verbreitete Karte Sibiriens angefertigt hatte. Erst die großen Akademieexpeditionen des 18. Jahrhunderts, besonders die Zweite Kamtschatkaexpedition (1733-1744), führten dann aber dazu, dass Sibirien in Russland wie in Europa bekannter wurde. Küntzel-Witt stellte die Expedition und die sich anschließenden Veröffentlichungen (vor allem die Sibirische Geschichte von Gerhard Friedrich Müller) als ein Medienereignis in der europäischen Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts dar. Erstaunlich ist, dass erst in jüngster Zeit das Werk von Gerhard Friedrich Müller genauer erforscht wurde, der als einer der Mitbegründer der Geschichtswissenschaft in Russland gilt. Dabei kamen viele archivalische Fundstücke an die Oberfläche, die erstmals publiziert wurden oder in den nächsten Jahren publiziert werden. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Kategorisierung des Wissens in Russland im 18. Jahrhunderts, dessen Kriterium hier (wie im übrigen Europa) weniger die Disziplin als die Nützlichkeit oder aber die Aufteilung in praktisches und theoretisches Wissen war.
Jan Kusber (Mainz) stellte in seinem Vortrag über ‚Schande und Ehre im russischen Adel des 18. Jahrhunderts’ die Familiegeschichte der Razumovskij’s vor. Im Zentrum standen die Biographien von Kyrill Razumovskij und Ivan Šuvalov, deren Familien im 18. Jahrhundert einen steilen Aufstieg erfahren hatten, der aber weder mit Geburt noch mit besonderer Ehre oder Schande konnotiert war. Bildung (beide waren französisch orientiert), patriotische Gesinnung und vor allem die soziale Integration über eine geschickte Heiratspolitik spielten dagegen durchaus eine Rolle. Kusber sah außerdem Reichtum und Repräsentation als erfolgreichen Ersatz für Aufstieg bis in die höchsten Staatsämter an.
Martina Winkler (Berlin) diskutierte in ihrem Beitrag das 18. Jahrhundert als Jahrhundert der Weiblichkeit. Weiblichkeit war keine fest definierte Kategorie in Russland im 17. und 18. Jahrhundert, es lässt sich auch von keinem Dualismus zwischen Männer- und Frauenherrschaft sprechen. Winkler zog es vor, von komplexen Machtbeziehungen zu sprechen, je nach Alter, Geschlecht und familiärer Situation. Die Räume zwischen Männern und Frauen waren zwar abgegrenzt, aber nicht absolut, sieht man einmal vom Militär (bzw. militärischem Raum) als exklusiv männlichem Raum ab. Sie beendete Ihren Vortrag mit der These, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Bezüge und Selbstdefinition von Weiblichkeit zugenommen hätten, eine Auffassung, die in der Diskussion von einigen Teilnehmern zeitlich deutlich vorverlegt wurde.

In der letzten Sektion, die sich mit Fragen der Periodisierung beschäftigte, setzte sich zunächst Martin Aust (Kiel) mit der Bedeutung Peters I. für Periodisierungen der Geschichte Russlands auseinander. Seit dem 18. Jahrhundert bis in die jüngste Historiographie hat es immer polarisierende Auffassungen über ihn gegeben, die auf die Periodisierung rückgewirkt haben. Die jüngere historiographische Strömung hat seine Herrschaftszeit aber häufig eingebettet in einen größeren Zeitraum der imperialen Geschichte Russlands, der vom 17. bis ins 19. Jahrhundert reicht. Möglichkeiten für variablere Periodisierungen sah Aust vor allem in der Anwendung von Modellen, die mit mehreren historischen Geschwindigkeiten bzw. Zeitschichten operieren (Braudel, Koselleck) oder aber den Raum (Raumwahrnehmung, Raumbeherrschung, sozialer Raum) in den Vordergrund rücken.
Der Kölner Historiker Alexander Kraus diskutierte neue Periodisierungsmöglichkeiten aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Ähnlich wie Aust rückte er auch Prozessualisierung gegenüber der Festlegung von Schwellenjahren in den Vordergrund, forderte jedoch die Berücksichtigung eines sogenannten Eigenrhythmus der russischen Geschichte ein. Während Kraus sich auf Ansatzpunkte für einen Periodenbeginn im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts konzentrierte, diskutierte Klaus Harer (Berlin) im letzten Beitrag die 1730er Jahre als mögliche Periodisierungsgrenze. Eine neue Elite nahm in diesem Jahrzehnt eine radikale Regulierung der russischen Sprache auf, gleichzeitig sei mit dem Wirken von Tatiščev ein erster Höhepunkt der Aufklärung in Russland zu erkennen.

Die Teilnehmer des Workshops waren dankbar für die Möglichkeit der Diskussion und Präsentation, als hätte man bereits lange auf solch eine Initiative gewartet, sei aber nicht selber auf die Idee gekommen. Die beiden Initiatorinnen brachten in der Schlussdiskussion die Frage auf, ob und auf welche Weise man die Aktivität verstetigen könne. Es kam jedoch zu keinem Konsens. Es wäre schade, wenn die Initiative verpuffen würde. An dieser Stelle sei aber zunächst Ricarda Vulpius und Martina Winkler für ihr Engagement gedankt.

Kontakt

Dr. Guido Hausmann
Lecturer in East European and Russian History
Trinity College, University of Dublin
Dep. of Russian and Slavonic Studies
Dublin 2 Ireland


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Deutsch
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