Pour une histoire critique et citoyenne: Le cas de l’histoire franco-algérienne

Pour une histoire critique et citoyenne: Le cas de l’histoire franco-algérienne

Organisatoren
Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines
Ort
Lyon
Land
France
Vom - Bis
20.06.2006 - 22.06.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Zessin, Universität Bielefeld/Ecole Normale Supérieure, Paris; Natalya Vince, Queen Mary University, London

„Pour une histoire critique et citoyenne: Le cas de l’histoire franco-algérienne“: Unter diesem Leitsatz stand die Tagung, die die Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines in Zusammenarbeit mit universitären und politischen Institutionen sowie zivilgesellschaftlichen Gruppen 1 vom 20. bis 22. Juni 2006 in Lyon organisierte.
Das Besondere an der Tagung in Lyon war nicht nur deren schiere Grösse – etwa 65 Vorträge innerhalb von drei Tagen –, sondern auch die programmatische Positionierung der Veranstalter, die die Tagung nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als politische Handlung verstanden wissen wollten, wie der eingangs erwähnte Titel deutlich macht. Einerseits ging es naturgemäß darum, eine „bilan scientifique de l’état du savoir“ im Bereich der „Histoire franco-algérienne“ vorzunehmen, also zeitlich gesehen zwischen dem Beginn der Kolonialherrschaft 1830 und der algerischen Unabhängigkeit 1962. Andererseits beabsichtigten die veranstaltenden Historiker jedoch auch, das von erinnerungspolitischen Lobbygruppen und Politikern verschiedenster Couleur (französischen wie algerischen) beanspruchte Feld der „Histoire franco-algérienne“ wieder für sich zu reklamieren. Zudem waren auch zivilgesellschaftliche Akteure an der Tagung beteiligt, welche sich für die Integration und die Versöhnung verfeindeter „Groupes de mémoire“ (Pieds-Noirs; Harkis; algerische Einwanderer in Frankreich) einsetzen, wie Coup de soleil oder den Le Cercle des Algériens et Franco-Algériens en Rhône-Alpes.

In der Session „Du beylik ottoman au pouvoir francais“ ging es um den Übergang von der osmanischen Dominanz über Algerien zur französischen Kolonialherrschaft ab 1830. Fatima Zohra Guéchi (Constantine) verfolgte genau diese Fragestellung am Beispiel der ostalgerischen Stadt Constantine und kam zu dem Ergebnis, dass es sowohl Beispiele von Kontinuität osmanischer Herrschaftstraditionen als auch „Assimilationen“ an französische Formen der Machtausübung gab. André Nouschi (Nizza) ging auf die Wirtschaftskrise im Algerien der Jahre 1865-1879 ein und konnte zeigen, wie sehr die Einführung agrarkapitalistischer Wirtschaftsformen sowie die Enteignung der indigenen Bevölkerung zu einer wirtschaftlichen Deklassierung letzterer führte. Didier Guignard (Aix-en-Provence) schließlich unterstrich, wie sehr sich im Zuge der Etablierung der französischen Kolonialverwaltung über Algerien – im Gegensatz zur politischen Praxis der Dritten Republik – Korruption und Vetternwirtschaft durchsetzten.

In der Session „Pouvoirs d’Etats et Etats“ standen, anders als es der Titel vermuten lässt, nicht nur staatliche Akteure im Mittelpunkt. Fanny Colonna und Christelle Taraud (beide EHESS, Paris) widmeten sich der europäischstämmigen Minderheit in Algerien und räumten dabei mit dem hartnäckigen Mythos auf, die Algérie Francaise sei von Anfang an ein Schmelztiegel für alle Siedler gewesen, gleich ob aus Frankreich, der Schweiz, Spanien, Italien oder Malta stammend. Valérie Esclangon-Morin (Paris 7) ging auf die besondere Form Algeriens als colonie de peuplement ein: Die europäischen Siedler waren angesichts ihrer großen Zahl überzeugt, ein peuple nouveau, eine nouvelle race zu sein, was jegliche Kompromissbereitschaft im Hinblick auf einen Interessenausgleich mit der muslimischen Bevölkerung ausschloss.

In der Session „Administrer, encadrer, réprimer“ unterstrichen Jacques Frémeaux (Paris 4) und Raphaëlle Branche (Paris 4) die während des Algerienkriegs ständig wachsende Bedeutung der französischen Armee im politischen Leben der Überseeprovinz: So gingen zivile Befugnisse wie das Verwalten und Überwachen der muslimischen Bevölkerung in die Verantwortung der Armee über; Branche wies auf die Pionierrolle hin, die Soldaten bei der (letztlich gescheiterten) Neukolonisierung des Landes zwischen 1954 und 1962 spielten. Belkacem Recham (Straßburg) schließlich wies für die Zeit zwischen 1919 und 1945 auf das Ungleichgewicht zwischen dem erbrachten Blutzoll und der allgegenwärtigen kolonialistischen Diskriminierung muslimischer Soldaten in der französischen Armee hin. François-Xavier Hautreux (Paris 7) berichtete über die vielschichtige Wirklichkeit, die sich hinter dem Begriff Harkis verbirgt, der gemeinhin die muslimischen Hilfstruppen der französischen Armee während des Algerienkrieges bezeichnet: So gab es mindestens fünf verschiedene Korps, in denen sie als Polizist oder Soldat, in Algerien oder Frankreich eingesetzt wurden.

Hubert Bonin (Bordeaux) stellte in der Session „Le soubassement économique“ seine Untersuchung zur Einführung eines modernen Bankwesens in Algerien Ende des 19. Jahrhunderts vor: Dabei wies er darauf hin, dass das Bankwesen quasi als Einfallstor für kapitalistische Wirtschaftpraktiken in Algerien fungierte. Ahmed Henni (Arras) referierte über das ethnisch grundierte Steuersystem im kolonialen Algerien, das die pauperisierten Muslime zu Steuerzahlern und deren Notablen zu -eintreibern machte. Nur so sei die Tatsache zu erklären, dass das „projet national algérien“ von einem „sous-prolétariat“ und keineswegs von der diskreditierten Elite getragen worden sei.

In der Session „Sociétés et cultures“ ging es um Sprachen und Musik in historischer Perspektive: Omar Carlier (Paris 7) beschrieb die Entwicklung Algeriens von einer bilderlosen Gesellschaft vor der Kolonisierung über erste Kontakte mit Fotografien und Postkarten um die Jahrhundertwende bis hin zur massenmedialen Gesellschaft ab den 70er Jahren. Khaoula Taleb Ibrahimi (Algier) präsentierte die historisch eindrucksvoll nachvollziehbare Sprachenvielfalt Algeriens, während Mostefa Haddad (Constantine) die Geschichte folkloristischer Praktiken, darunter insbesondere Volkslieder skizzierte.

Die Session „Religion et status personnels“ leistete zunächst in Person von Richard Ayoun (Paris) einen Überblick über die Geschichte der algerischen Juden von 1830 bis 1962, wobei es dem Referenten gelang, die Entwicklung der Juden von Kolonialsubjekten zu assimilierten französischen Staatsbürgern, für die nach der algerischen Unabhängigkeit nur ein Übersiedeln nach Frankreich in Frage kam, aufzuzeigen. Karima Direche-Slimani Guignard (Aix-en-Provence) widmete sich dem wenig untersuchten Thema der kabylischen Konvertiten zum Katholizismus und erklärte unter Verweis auf ihre mikrohistorische Studie das relative Scheitern der französischen Mission mit dem „mythe kabyle“, d. h. mit der die Realität völlig verzerrenden Vorstellung von einer oberflächlich islamisierten und für europäische Einflüsse zugänglichen kabylischen Gesellschaft.

Gleich mehrere Sessionen thematisierten die „Résistances anticoloniales“, die es nicht nur in Algerien, sondern auch in Frankreich selbst gab. So zeigten Julien Fromage (Lyon) und Jean-Pierre Peyroulou (EHESS, Paris), welche Gestalt die politische Interessenvertretung sowohl bei den Muslimen als auch bei der europäischstämmigen Bevölkerung zwischen den 1930er und 1950er Jahren annahm: Notable aus alteingesessenen Familien prägten hier wie dort das Bild. Gilbert Meynier (Lyon) versuchte, den Ausbruch der nationalistischen Rebellion am 1. November 1954 in die „longue durée“ einzuordnen und so die „causes profondes“ für den Algerienkrieg zu Tage zu fördern. Jim House und Neil MacMaster (beide Leeds) stellten ihre Forschungen zur Demonstration Zehntausender Algerier am 17. Oktober 1961 vor, die blutig von der Pariser Polizei aufgelöst worden war. Dabei verwiesen sie ebenso auf die Übernahme von polizeilichen Repressionsmustern aus Algerien wie auf die problematische Aussagekraft der Dokumente aus den Polizeiarchiven. Ryme Seferdjeli (Ottawa) legte eine besondere Form des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft dar, nämlich den von muslimischen Frauen in der algerischen Rebellenarmee: Die Referentin wies in diesem Zusammenhang auf die Gefährdung traditioneller Rollenmuster hin, die sich aus der Präsenz von Frauen an der vordersten Frontlinie ergab. Die ALN (Armée de Libération Nationale) reagierte darauf mit der Verlegung aller Frauen aus den unmittelbaren Kampfgebieten. Zineb Ali ben Ali (Paris 8) wies in seinem Vortrag zur Frau und ihrem Körper während des Unabhängigkeitskrieges – betrachtet durch den Spiegel der Literatur – darauf hin, dass ein wichtiges literarisches Bild die muslimische Frau zeigte, wie sie als Mann verkleidet zum Bombenlegen in europäische Wohngebiete ging und sich dadurch sowohl am Kampf gegen den Kolonialismus beteiligte als auch ihre Rolle als Hörige, aus der Öffentlichkeit Verbannte zurückwies.
Den französischen Widerstand gegen den Algerienkrieg nahm u. a. Martin Evans (Portsmouth) in den Blick. Die wichtigsten Träger in Frankreich waren neben den Intellektuellen auch Juden, Frauen und unangepasste Linkspolitiker, während die Hauptmotivationen in der Erinnerung an die Naziherrschaft sowie dem Durchbruch tiersmondistischer Denkmuster in den westlichen Ländern lagen.

In den Sessionen „Histoire officielle“ und „Une histoire idéologique?“ stand die Geschichte der Erinnerung an den Algerienkrieg im Vordergrund. Guy Pervillé (Toulouse) kritisierte das staatliche Infragestellen des prinzipiell offenen und wandelbaren Charakters von Geschichtsschreibung: In der Tat hat der französische Staat in den letzten Jahren immer wieder eine von spezifischen Erinnerungsmustern geleitete Geschichtsschreibung gesetzlich festschreiben lassen (Verbot des Zweifelns am Armeniergenozid; Erinnerung an die „positiven Aspekte der Kolonisation“ im Maghreb etc.). Yann Scioldo-Zurcher (EHESS, Paris) beschrieb die Etablierung einer spezifischen Erinnerung der ursprünglich heterogenen Gruppe der Pied-Noirs an das koloniale Algerien: Diese war geprägt von der Pionierrolle der europäischen Siedler, ihren guten persönlichen Beziehungen zum „Arabe“; Gewalt, Enteignung und Diskriminierung der muslimischen Mehrheit kamen hierin nicht vor.
Auf algerischer Seite stellte die Geschichtsschreibung lange Zeit ein Legitimationsinstrument für die Ein-Parteien-Herrschaft des FLN dar; dementsprechend nahm sie fast ausschließlich den Unabhängigkeitskrieg in den Blick, wie Fouad Soufi (Nationalarchiv Algier) berichtete.

Die drei Sessionen „France, guerre d’Algérie et enjeux internationaux“, „Les traces de la guerre“ und „Migrations croisées“ verband vor allem ein Aspekt: Dass sie in der bisherigen Forschung zu kurz gekommen sind und somit Neues vorzuweisen hatten. So leisteten Laszlo Nagy (Szeged) und Nassima Bougherara (Grenoble) einen wichtigen Beitrag zur internationalen Einordnung des Algerienkrieges. Ersterer skizzierte die Konfliktwahrnehmung in Osteuropa, speziell in Ungarn: Während die ungarischen Behörden den nationalistischen Aufstand in Algerien propagandistisch unterstützten (arabische Radiosendungen von ungarischem Boden aus) und auch für eigene Werbezwecke ausschlachteten, hielten sie sich mit materieller und konkreter politischer Unterstützung (Anerkennung der Provisorischen algerischen Regierung) zurück. Bougherara nahm nicht nur die offiziellen deutsch-französischen Beziehungen vor dem Hintergrund des Algerienkrieges in den Blick, sondern beleuchtete auch die zivilgesellschaftliche Ebene, wo sich oppositionelle SPD-Abgeordnete sowie parteinahe Kräfte (Hans-Dieter Wischnewski; Paul Frank) für den FLN einsetzten.
Geneviève Massard-Guilbaud und Gérard Noiriel (beide EHESS, Paris) interessierten sich für die algerischen Einwanderer nach Frankreich. Massard-Guilbaud wies in diesem Zusammenhang auf das diskriminierende Verhalten der französischen Behörden in den 1920er und 30er Jahren hin, die die Einwanderung von Algeriern aus ökonomischen Gründen betrieben, ihre Integration unter Verweis auf ihre „koloniale“ Herkunft jedoch behinderten. Noiriel schließlich nahm Abdelmalek Sayads Begriff von der exemplarité der algerischen Einwanderung nach Frankreich auf und konnte dabei zeigen, dass die Algerier als main d’oeuvre colonisée einer wesentlich größeren Stigmatisierung ausgesetzt waren als die italienischen Immigranten.

Der Anspruch der Veranstalter, aus der Tagung sowohl eine wissenschaftliche als auch eine politische Manifestation zu machen, konnte alles in allem eingelöst werden: Denn dadurch, dass inhaltlich – also in der Praxis der einzelnen Sessionen – das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse im Vordergrund stand, man der Form nach jedoch sehr publikumswirksam und offensiv nach außen auftrat (Liveübertragung der Tagung im Internet; breite Berichterstattung seitens lokaler und überregionaler Medien; intensive Debatten in Internetforen bereits im Vorfeld der Tagung), wurde deutlich, dass die Historiker das Feld der franko-algerischen „Histoire“ und „Mémoire“ nicht Politikern und erinnerungspolitischen Lobbygruppen überlassen werden.
Allerdings entbehrte gerade das Verhältnis der Veranstalter zum Aspekt der „Erinnerung“ nicht einer gewissen Ambivalenz: Einerseits forderten sie zurecht – und mit Erfolg (siehe Beitrag Pervillé und Scioldo-Zurcher) – die teilnehmenden Historiker dazu auf, sich der „histoire franco-algérienne“ wieder zu bemächtigen; ebenso wurde in verschiedenen Sessionen die Geschichte an die Erinnerung des Algerienkrieges aufgearbeitet und die „Mémoire“ so konsequent historisiert. Andererseits wiederum beteiligten die Veranstalter bestimmte Vereine und „Groupes de mémoire“ wie L’association France-Algérie oder Harkis et Droits de l’Homme an der Tagungsausrichtung, wodurch der Anspruch, einen Kontrapunkt zu den „lobbies de mémoire“ zu setzen, an Glaubwürdigkeit einbüßte. Genau hier setzten Nostalgiker der Kolonialherrschaft (Vertreter von Vereinigungen der Français d’Algérie; Aktivisten des Front National) ihre scharfe Kritik an der Tagung an, welche sie wiederholt in den Diskussionsrunden im Anschluss an die Vorträge vorbrachten.

Positiv fielen vor allem die vielen jungen Forscher auf, die zur Histoire franco-algérienne arbeiten und sich mit neuen Perspektiven dem Thema nähern: So untersuchten Ryme Seferdjeli und Zineb Ali ben Ali mit Hilfe von Ansätzen aus den Gender Studies die gesellschaftliche Stellung der muslimischen Frau während des Algerienkrieges. Raed Bader und Karima Direche-Slimani widmeten sich zudem vernachlässigten Themen wie der schwarzen Bevölkerung Algeriens im 19. Jahrhundert respektive der dortigen französischen Mission. In methodischer Hinsicht auffällig war der häufig verwendete Oral-History-Ansatz. Zudem sind in den letzten Jahren zahlreiche juristische und fiskale Quellen den Forschern zugänglich gemacht worden.
Neben französischen und algerischen Historikern, deren Zusammenarbeit sich mittlerweile eingespielt hat, kamen endlich auch einmal Ansätze aus dem nichtfrankophonen Ausland zum Zug: Gerade die angelsächsische Forschung hat in den letzten Jahren erheblich zur Untersuchung der französischen Kolonialherrschaft über Algerien beigetragen (Martin Evans, Jim House, Julian Jackson), aber auch deutsche Historiker kamen zu Wort (Frank Renken; Hartmut Elsenhans und Werner Ruf mussten absagen).
Kritikwürdig war dagegen die Zusammenstellung der unterschiedlichen Sessionen: Viele Vorträge derselben Session passten nicht zueinander und hätten woanders bessere Verwendung gefunden, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass es der Tagung an leitenden Fragestellungen fehlte, die eine problemorientierte Strukturierung ermöglicht hätten. So wirkten viele Sessionen zusammenhangslos, woran auch die Bemühungen der Diskussionsleiter, einen roten Faden zu finden, meist nichts ändern konnten.

1 Die Gesamtübersicht der beteiligten Institutionen und Vereinigungen ist auf der eigens für die Tagung eingerichteten Internetseite einsehbar: Siehe http://ens-web3.ens-lsh.fr/colloques/france-algerie/. Das Gleiche gilt für die Vorträge: Aufgrund des begrenzten Raumes, der für den Tagungsbericht zur Verfügung steht, kann im nachfolgenden Text nicht jeder Referent genannt werden. Die Verfasser bitten um Nachsicht.


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