Collegium PONTES 2006 Bedingungen europäischer Solidarität

Collegium PONTES 2006 Bedingungen europäischer Solidarität

Organisatoren
Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen, Görlitz
Ort
Görlitz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.06.2006 - 28.07.2006
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Von
Agnieszka Mazur

Förderer: Europäische Kommission, CIFE Nizza, Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesiens, Stadt Görlitz und private Förderer, darunter Škoda Auto, Mlada Boleslaw.

Wissenschaft für die kulturelle, geistige und soziale Bestimmung Europas und der Europäischen Union
Bereits zum fünften Mal forschte das Collegium PONTES (CP) zu den Themen und Fragestellungen, die die Bürger Europas beschäftigen: Was ist Europa? CP wurde gezielt zur Förderung des Diskurses über die kulturelle, geistige und soziale Bestimmung Europas und der Europäischen Union - unter besonderer Berücksichtigung des Beitrags der 2004 beigetretenen Staaten Mitteleuropas – 2001 von der Universität Breslau, der Karls-Universität Prag und der Hochschule Zittau/Görlitz unter Federführung des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen 2001 gegründet.

Der fünfte Jahrgang 2006 des Collegium PONTES verhandelte über Bedingungen europäischer Solidarität, ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen Prof. em. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenfördes, Bundesverfassungsrichter a.D., in einem Vortrag am Görlitzer Collegium PONTES 2005. Die siebenwöchigen Forschungsarbeiten der Präsenzphase wurden von einer Gruppe exzellenter Senior Fellows gemeinsam mit einer multinationalen Gruppe von Junior Fellows sowie namhaften Visiting Fellows auf hohem Niveau durchgeführt. Das CP 2006 hat in drei interdisziplinären Teams gearbeitet:

Team I: “Überlegungen zu einem erneuerten Verfassungsvertrag der Europäischen Union“
Team I des CP 2006 beschäftigte sich mit dem vorläufigen Scheitern des Projektes eines europäischen Verfassungsvertrages. Es regte an, die instrumentelle und die symbolische Dimension des Europäischen Verfassungsvertragsentwurfes (VVE) zu entflechten und Europa als kulturelle Gemeinschaft aufzufassen, verankert in der geistigen und moralischen Solidarität seiner Bürger. Das Team wurde gemeinsam geleitet von Prof. Dr. Werner Bramke, Universität Leipzig; Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Technische Universität Dresden; Prof. Dr. Stefan Voigt, Universität Kassel; Prof. Dr. Hans Jürgen Wagener, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder. Visiting Fellows waren u.a: Prof. Dr. Eli Salzberger, Universität Haifa, und Rupert Graf Strachwitz, Humboldt-Universität. Die Junior Fellows kamen aus Berlin, Bochum, Kaliningrad/Königsberg, Luxemburg und Prag.

„Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker […] nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden“, heißt es in der Präambel der UNESCO-Verfassung.
Es ist offensichtlich, daß die Bürger der Europäischen Union nicht länger bereit sind, eine ausschließlich auf Rechtsangleichung und einheitliche Wirtschaftsräume orientierte Europapolitik mitzutragen. Ein Motto für diese Wirklichkeit bisheriger Europapolitik ließe sich im Wappen der Vereinigten Staaten finden. Es zitiert eine Stelle aus den „Bekenntnissen“ (4,13) des Augustinus, in denen dieser das Prinzip von Freundschaft bzw. von „Liebe und Gegenliebe“ beschreibt, die „aus mehreren einen“ mache (e[x] pluribus unum [facere]). In unangemessener Verkürzung des erotischen Grundgedankens bei Augustinus wird als Motto der USA die melting pot-Idee eines Schmelztiegels kolportiert. Demgegenüber fordern die Bürger Europas eine Berücksichtigung der Einmütigkeit bei kultureller Vielfalt und des Prinzips der Unterschiedlichkeit ein. Im Ergebnis eines Wettbewerbs unter europäischen Schülern wurde dafür 2000 die Formel gefunden in varietate concordia / In Mannigfaltigkeit Einmütigkeit; die griechische Fassung spricht von der Polymorphia, der Vielgestaltigkeit, die sich noch deutlicher von der melting pot-Idee absetzt. In Art. I-8 des Verfassungsvertragsentwurfes hätte diese Formel zu einem der fünf europäischen Symbole erhoben werden sollen.

Eine Fortschreibung des Vertrages von Nizza ist unumgänglich, da nach den anstehenden weiteren EU-Integrationen die dort festgelegten Strukturen nicht mehr für ein sinnvolles Funktionieren 2009 ff. ausreichen werden. Dieses Ziel wäre mit dem gescheiterten Verfassungsvertrag erreicht worden. Der Diskussionsprozess um denselben zeigt gleichzeitig, daß ein zweites zentrales Ziel jeder europäischen Einigung noch nicht erreicht wurde: die Befestigung des Friedens in der geistigen und moralischen Solidarität seiner Bürger.

Im Prozeß von Laeken war versucht worden, zwei Dinge in ein Werk zusammenzubringen: einerseits ein kompliziertes und für viele unverständliches zwischenstaatliches Vertragswerk (instrumentelle Dimension); andererseits eine Verfassung, die den Bürgern Europas mehr Vertrauen in die Union hätte geben sollen (symbolische Dimension).

Um jene für die weitere Zukunft der EU-Institutionen wesentlichen Elemente zu „retten“, über die im bisherigen Verfassungsvertragsprozeß zwischen den beteiligten Regierungen bereits Übereinkunft erzielt wurde, wäre zu überlegen, ob nicht unter der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 I eine Entflechtung der beiden unterschiedlichen Zielsetzungen, die dem Verfassungsvertrag zugrundelagen, eine Auflösung des Dilemmas erbringen könnte.
(1) Die im Verfassungsvertragprozeß bereits erreichten zwischenstaatlichen Übereinkommen ließen sich in einem schmaleren "Vertrag von Laeken" (um an den Prozeß positiv zu erinnern) einbringen.
Inhaltlich vielleicht ohne die heikle Festlegung einer "Begründung der Europäischen Union" (I-1; aber durchaus mit der historisch überfälligen Begründung einer "Rechtspersönlichkeit" nach I-7, das Kommunalrecht könnte mit der allseits vertrauten Rechtsfigur des Zweckverbands ein unpathetisches und daher gerade für besonders nationale Staaten akzeptables Modell liefern).

(2) Eine eigentliche "Verfassung für die Europäische Union" zielt auf die emotionalen Tiefenschichten erst der Eliten, dann weiterer Bevölkerungskreise. Sie ist zwar ein verschriftetes Dokument aus der Sphäre des Rechts, aber aus dem - dem positiven Recht notwendigerweise vorgelagerten - symbolischen Bereich des Vertrauens in die Ordnung der Gesellschaft. Auf diesem Vertrauen kann das kodifizierte Recht in der instrumentellen Dimension aufbauen. Der Verfassungsvertragsentwurf war als vertrauensbildende Maßnahme ungeeignet, für das Gelingen des „Projekts Europa“ ist eine solche Maßnahme jedoch dringlich.

Angeregt wird, ein kürzeres Dokument - möglicherweise unter Verwendung einer anderen Gattungsbezeichnung - auf den Weg eines umfassenden Diskussionsprozesses zu bringen. Inhaltlich: als „Verständigung auf Grundsätze“, die die geistige Verfasstheit Europas und seiner Bürger niederlegen (cf. insbesondere der Artikel I-1 bis I-8 sowie II-61 bis II-114). Typologisch: auf der Ebene einer loi constitutionelle (vgl. den deutschen Einigungsvertrag). Formal: als gemeinsames Referendum aller Bürger sämtlicher (dann 27) Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an ein und demselben Tag (eventuell mit einem doppelten Quorum nach dem Beispiel der Schweiz und ihrer Kantone). Politisch: der Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit verpflichtet und in Überwindung des vorherrschenden Bildes der EU als einheitlichem europäischen Wirtschaftsraum, hin zu einem positiven Begreifen der komplexen Aufgabe der europäischen Institutionen mit ihrer vocation multiple (vielfältiger Aufgabenstellung, wie der französische Terminus für Zweckverbände heißt) für die Ermöglichung von Solidarität.
Paradoxerweise sind Gegenstand des zu schaffenden Dokumentes die geistigen Grundlagen Europas, welche ihrem Wesen nach am Anfang des Integrationsprozesses gestanden haben.

Team II: “Erscheinungsformen der Solidarität und Entsolidarisierung in der schlesischen Literatur“
Team II des CP ist traditionell der Literaturwissenschaft vorbehalten, entsprechend der engen Kooperation mit dem Institut für deutsche Philologie an der Universität Breslau. 2006 stand es unter der Leitung von Dr. Hans-Joachim Hahn, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, und Dr. Antje Johanning, Vytautas-Magnus-Universität Kaunas. Visiting Fellows waren u.a. Dr. Michael Parak, Schlesisches Museum zu Görlitz, und Tobias Weger, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg. Die Junior Fellows kamen aus Berlin, Breslau, Dresden, Kattowitz und Kobe (Japan).

„Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“, heißt es bei Andreas Gryphius. Solche barocken Vanitasbilder entstanden in Schlesien, einer Region, die von den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts in besonderem Maße betroffen war. In dieser Zeit wurde über Solidarität oder Entsolidarisierung zwischen Menschen oftmals entlang von Konfessionsgrenzen entschieden. Da Solidarität sowohl zwischen Individuen als auch Gruppen geübt werden kann, ist der Entwurf von Menschenbildern sowie von menschlichen Gemeinschaften (über religiöse Zugehörigkeit, Abstammung, Nationalität, kulturelles Verhalten etc.) in unterschiedlicher Literatur (Belletristik, religiöses Traktat, Lehrgedicht etc.) ein besonders relevanter Aspekt des Themas. Literatur, seit Erfindung des Buchdrucks für einige Jahrhunderte das Leitmedium zur Verständigung über gattungsgeschichtliche Prozesse, bis sie von der heutigen Medienpluralität in dieser Funktion beerbt wurde, kann als diskursiver Ort der Konstruktion, der Reflexion sowie der Kritik von Solidaritätsvorstellungen und ihrem Gegenteil gedeutet werden. Literatur so zu verstehen, heißt, sie nicht als einfaches Abbild, als Repräsentation der Wirklichkeit misszuverstehen, sondern ein komplexeres Wechselverhältnis zwischen beiden vorauszusetzen. Es kann und soll daher insbesondere untersucht werden, wie in dem diskursiven Feld der „Literatur aus Schlesien“ Vorstellungen von Solidarität und Entsolidarisierung konstruiert werden. Wem gilt jeweils eine bestimmte Form solidarischen Verhaltens, wer dagegen wird davon ausgeschlossen? Wie sehen die jeweiligen Selbst- und Fremdbilder von den in der Literatur aus Schlesien vorzufindenden Akteuren aus? Ein weiterer Schwerpunkt besteht in einer begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit den Bedeutungsverschiebungen der solidaritas, um eine Reflexion benachbarter sowie gegensätzlicher Begriffspaare (Respekt vs. Demütigung; Würde vs. Entwürdigung etc.) sowie um ein Nachdenken über das Ideal solidarischer Gesellschaften ergänzt.

Einzeluntersuchungen galten der Darstellung des ‚Judentums’ in der Reiseliteratur in Schlesien am Ausgang des 18. Jhs.; der Solidarität in ausgewählten Rübezahl-Erzählungen; der Oberschlesien-Grenzlandliteratur des Robert Kurpiun; der Nicht-Politischen Politik in der Tschechoslowakei nach 1938/39; Christoph Heins "Landnahme" unter Aspekten der Solidarität und Entsolidarisierung.

Team III: „Der grenzüberschreitenden Kultur ihr Recht geben. Untersuchungen zu einem Theaterverbund Neiße“
Team III ergänzte die Theorie und die Literatur zur Solidarität um Untersuchungen zu ihrer Realisierbarkeit in einem konkreten kulturpolitischen Kontext am Beispiel des grenzüberschreitenden „Theaterverbund Neiße“. Das Team stand unter der gemeinsamen Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Aschauer, Technische Universität Chemnitz; Prof. Dr. Erich Konter, Technische Universität Berlin und Prof. Dr. Matthias Munkwitz, Hochschule Zittau/Görlitz. Visiting Fellows waren u.a. Generalintendant a.D. Günter Beelitz, Düsseldorf; Hans Herdlein, Präsident der Deutschen Bühnengenossenschaft, Hamburg; Dr. Reiner Zimmermann, Ministerialdirigent a.D., Dresden. Die Junior Fellows kamen aus Dresden, Görlitz, Krakau, Khmlenizkij (Ukraine), Chemnitz.

Das Forschungsprojekt „Theaterverbund Neiße“ (TVN) ist ein Kooperationsprojekt des Musiktheaters Oberlausitz/Niederschlesien, der Niederschlesischen Philharmonie Jelenia Góra, des Theaters Jelenia Góra, des Gerhardt-Hauptmann-Theaters Zittau und des Franz Xaver Salda Theaters Liberec. Die fünf Kooperationspartner haben das Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen beauftragt, zu erforschen, wie eine engere Zusammenarbeit der beteiligten Theaterhäuser und Orchester zu gestalten ist. Die Forschungsarbeit begann Ende 2005 und ist auf zwei Jahre angelegt.

Im Rahmen der ersten Projektphase wurden die kulturpolitischen Rahmenbedingungen untersucht, welche in den Regionen wirksam sind und die Arbeit an den einzelnen Institutionen betreffen. Hier ging es v. a. um die Verschränkung kommunaler, regionaler, staatlicher und letztlich auch internationaler Akteure und Regelapparate im TVN mit ihren spezifischen Ausprägungen. In einer zweiten Projektphase wird die genaue Betriebsstruktur der fünf Häuser evaluiert. Die aus dieser Statusanalyse gewonnen Erkenntnisse stellen die Grundlage für die folgende Phase dar, in der im Frühjahr 2007 eine Strukturkonzeption für ein künstlerisch und wirtschaftlich tragfähiges trinationales Städtebundtheater zu erarbeiten ist. In der Folge wird ein Vorschlag für die Umsetzung des Strukturkonzeptes entworfen und bis Dezember 2007 dessen Durchführung vorbereitet.

Im Rahmen des Collegium PONTES 2006 beschäftigten sich zwei Forschungsgruppen mit den kulturökonomischen sowie den kulturellen, sozialen und mentalen Voraussetzungen für einen tragfähigen transnationalen Theaterverbund. Er wäre unseres Wissens der erste in Europa und würde im Falle einer Realisierung das herkömmliche Bild von den Aufgaben eines Stadttheaters substantiell erweitern.

Ausblick
Erste Forschungsergebnisse wurden im Rahmen des Wissenschaftsklosters Ende Juli der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Die Manuskripte werden Ende September abgeschlossen. Die ersten der zur Eröffnungskonferenz am 12.-14. Juni entstandenen Beiträge sind bereits im Netz unter www.kultur.org zu finden; die Gesamtpublikation soll gegen Jahresende vorliegen.

Das Thema des nächsten Collegium PONTES ist „Die Stärke der Schwäche“. Weitere Informationen unter www.kultur.org

Kontakt

Ansprechpartner: Agnieszka Mazur


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