PROGRESSORE (Programme for the Study of European Rural Societies, COST A35) wurde im Jahr 2005 unter Beteiligung von 20 europäischen Staaten ins Leben gerufen. Durch diese Aktion sollen die zahlreichen, oft unverbundenen Forschungsaktivitäten der letzten Jahre auf dem Gebiet der erneuerten Rural History stärker vernetzt werden. Zu diesem Zweck werden in den Jahren 2006 bis 2008 insgesamt 12 Workshops, verteilt auf vier thematisch ausgerichtete Arbeitsgruppen, veranstaltet. Für die PROGRESSORE-Arbeitsgruppe 3 „Peasant Societies“ organisierten Erich Landsteiner vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und Ernst Langthaler vom Institut für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten von 31.8. bis 2.9.2006 in Retz/Österreich den ersten Workshop zum Thema „Agrosystems and Labour Relations in European Rural Societies“.
Der Workshop folgte der Frage, wie regionale Agrarsysteme über Arbeitsbeziehungen innerhalb und zwischen ländlichen Haushalten mit der naturalen und sozialen Umwelt verknüpft waren. Dabei sollten ‚ökologistische‘ und ‚ökonomistische‘ Verkürzungen natur- und wirtschaftswissenschaftlicher Provenienz überwunden werden. „Regionales Agrarsystem“ wurde vorläufig definiert als zeit- und raumspezifische Formation agrarischer und, gegebenenfalls, außeragrarischer Produktion von Gütern und Dienstleistungen, eingebettet in die ökologische, ökonomische, soziale, politische und kulturelle Reproduktion und Transformation ländlicher Gesellschaften.
Erich Landsteiner (Universität Wien, Österreich) verknüpfte in seinem Eröffnungsvortrag die leitende Fragestellung mit der Region um die Kleinstadt Retz in einer jahrhundertelang durch den Weinbau geprägten Kulturlandschaft an der niederösterreichisch-tschechischen Grenze. Die Trauben- und Weinerzeugung im klimatisch begünstigten Flach- und Hügelland nahe den Absatzmärkten Böhmens und Mährens sowie Wiens begünstigte, zusammen mit informellen und formellen Regelungen wie Handelsprivilegien, zeit- und raumspezifische Gruppenbildungen: ein wohlhabendes, städtisches Handelsbürgertum ebenso wie zahlreiche, von Wein- und Ackerbau auf Eigen- und Pachtland sowie Lohnarbeit abhängige Kleinbauern- und „Häusler“ Familien. Typologisch fassen lässt sich diese Formation als „Smallholder-Gesellschaft“, die Michael Mitterauers Typologie der „Gesinde “ und der „Taglöhnergesellschaft“ im Konnex mit vieh-, getreide-, wein- und hauswirtschaftlich geprägten „Ökotypen“ korrigiert und erweitert.
Die erste, von Anne-Lise Head-König (Universität Genf, Schweiz) moderierte Session behandelte mediterrane Agrarsysteme in Südwesteuropa. Antoni Furió und Ferran Garcia-Oliver (Universität Valencia, Spanien) betrachteten Arbeitsbeziehungen in der ländlichen Gesellschaft im Umland von Valencia im Spätmittelalter. Die Notwendigkeit, den Wasserhaushalt der Gründe durch permanenten Arbeitsaufwand zu regulieren, brachte spezifische Formen der Kooperation zwischen den durchwegs kleinbäuerlichen Haushalten hervor. Anschließend skizzierten Ramon Garrabou und Enric Tello (Universität Barcelona, Spanien) ökologisch-sozioökonomische Wechselwirkungen in der katalonioschen Region Vallès gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Analysen von Energieflüssen, Landnutzung, Arbeitszeitbudgets und Besitzrechten ergeben eine zunehmende Differenzierung zwischen Kleinbesitzern und Pächtern, die sich auf Weinbau spezialisierten, und größeren, stärker diversifizieren Betrieben. Der Arbeitskräftebedarf letzterer wurde überwiegend durch das Angebot an Familienarbeitskräften ersterer gedeckt, bevor die Industrialisierung der wachsenden Bevölkerung außeragrarische Lohnarbeit in großem Umfang eröffnete.
Die zweite Session, geleitet von Erich Landsteiner (Universität Wien, Österreich), versammelte zentraleuropäische Beiträge. Josef Grulich (Universität Ceské Budejovice, Tschechische Republik) erläuterte Arbeitsbeziehungen in der ländlichen Gesellschaft Böhmens an einer Lokalstudie über das Gut Chýnov im 17. und 18. Jahrhundert. Dabei stand der Umgang der Angehörigen ländlicher Haushalte mit den desaströsen Folgen des Dreißigjährigen Krieges, der die Region massiv in Mitleidenschaft gezogen hatte, im Mittelpunkt. Peter Pozsgai (Universität Budapest, Ungarn) skizzierte die Arbeitsorganisation in und zwischen ländlichen Haushalten im nordöstlichen Ungarn im 19. Jahrhundert. Dabei ging er auch auf quellenkritische Aspekte der mikrohistorischen Analyse von Zensuslisten und anderen Massenquellen ein. Schließlich setzte sich Margareth Lanzinger (Universität Wien, Österreich), ausgehend von ihrem laufenden Forschungsprojekt über Heiratsdispense in Tirol und Vorarlberg im 19. Jahrhundert, mit dem „Rollenergänzungszwang“ in bäuerlichen Haushalten auseinander. In den Diskursen zwischen heiratswilligen Antragstellern und kirchlichen Obrigkeiten zeichnet sich ab, dass das Modell des verheirateten „Arbeitspaares“ in den alpinen Agrarsystemen gegenüber alternativen Arrangements einen hohen Stellenwert besaß.
In der dritten Session unter dem Vorsitz von Jürgen Schlumbohm (Max Planck-Institut für Geschichte, Göttingen, Bundesrepublik Deutschland) standen ländliche Regionen Zentral- und Osteuropas mit proto-industrieller Prägung im Mittelpunkt. Hermann Zeitlhofer (Universität Wien, Österreich) betrachtete die lokale und regionale Arbeitsteilung in einer südböhmischen Flachsbauregion vom 17. bis 19. Jahrhundert. Die Flachsproduktion und verarbeitung erscheint als Faktor, der auf die ländliche Gesellschaft zugleich dynamisierend – durch die Erweiterung der Existenzbasis landarmer Haushalte – und stabilisierend – durch die Minderung des Drucks zur Abwanderung in die Industrie – wirkte. Den Schlusspunkt dieser Session setzte Herdis Kolle (Universität Bergen, Norwegen), die in ihrem Beitrag über Arbeitsbeziehungen im proto-industriellen Umland von Moskau zwischen den 1830er und 1860er Jahren die veränderten Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern und Altersgruppen innerhalb der ländlichen Haushalte betonte.
Die vierte, von Ernst Langthaler (Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten, Österreich) moderierte Session befasste sich mit ländlichen Gesellschaften Nord- und Zentraleuropas, die durch die Kombination agrarischen und außeragrarischen Erwerbs gekennzeichnet waren. Frank Konersmann (Universität Bielefeld, Bundesrepublik Deutschland) präsentierte in seinem Beitrag über „Bauernkaufleute“ in Rheinhessen und in der Pfalz in Südwestdeutschland im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine dynamische Gesellschaft mit wachsender Bevölkerung, die ihre soziale Tragfähigkeit durch intensivere Landnutzung, Branntweinerzeugung und handel sowie vermehrte Taglohnarbeit zu erweitern trachtete. Auf der Quellengrundlage von bäuerlichen Schreibebüchern verglich er die – je nach Agrarsystem unterschiedlichen – innerbetrieblichen Arbeitsbeziehungen in einer vieh- und getreidewirtschaftlich geprägten Region und in einer Wein-, Gemüse- und Getreidebauregion. Ottar Brox (Norwegian Institute of Urban and Regional Research, Norwegen) präsentierte in seinem Beitrag über „fishing farmers“ im arktischen Norwegen zwischen den 1930er und 1970er Jahren eine Art Sonderweg, der sich vom Schrumpfungsprozess des Agrarsektors in weiten Teilen Europas deutlich abhob: Die flexible Kombination subsistenzorientierter Weidewirtschaft und marktorientierter Fischerei im Bündnis mit der sozialdemokratischen, protektionistisch orientierten Regierung begünstigte einen prosperierenden, familienwirtschaftlich geprägten Agrarsektor. Rita Garstenauer (Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten, Österreich) verglich die Erwerbskombination bäuerlicher Familienbetriebe in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Alpen- und einer Flachlandregion. Auf Basis einer zeitgenössischen Erhebung machte sie deutlich, dass die regionalen Unterschiede von Ausmaß, Branchen und Jahresrhythmus der außeragrarischen Erwerbsarbeit eng an die Eigenarten der jeweiligen Agrarsysteme gekoppelt waren.
In der Abschlussdiskussion, an der neben den bisher Genannten auch Jon Mathieu (Universität Luzern, Schweiz) als Kommentator teilnahm, wurden weiter führende Perspektiven der historischen Agrarsystem-Forschung benannt: Großflächige, starre Sichtweisen (Grundherrschafts- versus Gutsherrschaftsregionen, Anerben- versus Realteilungsgebiete, Gesinde- versus Taglöhnergesellschaften usw.) sollten in Richtung feingliedriger, flexibler Betrachtungen weiter getrieben werden; mikroanalytische Fallstudien sollten stärker in Bezug zu Makro-Synthesen gesetzt werden (ohne darüber in ahistorische ‚Meta-Erzählungen‘ zu verfallen); naturale und soziale Strukturen von Agrarsystemen sollten konsequenter im Hinblick auf ihre Vermittlung durch Praktiken deutungs- und handlungsmächtige Akteure gesehen werden; Konzepte natur- und sozialwissenschaftlicher Provenienz sollten deutlicher auf (In )Kompatibilität hin befragt werden; Raum und Zeit sollten in allen Forschungsphasen als zentrale Dimensionen von Agrarsystemen beachtet werden. Auf den Tagungsbeiträgen basierende Publikationen in englischer und in deutscher Sprache sind für die Jahre 2007 und 2008 geplant.