Zwischen den Diktaturen. Kirchen und Religion in der Tschechoslowakei 1945-1948

Zwischen den Diktaturen. Kirchen und Religion in der Tschechoslowakei 1945-1948

Organisatoren
Arbeitstagung des Projekts „Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder im 20. Jahrhundert" veranstaltet vom Collegium Carolinum in Kooperation mit der Ackermann-Gemeinde und der Tschechischen Christlichen Akademie
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
09.09.2006 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Laura Hoelzlwimmer, Muenchen

Zusammen mit der Ackermann-Gemeinde und der Tschechischen Christlichen Akademie in Prag veranstaltete das Collegium Carolinum am 9. September 2006 in Prag eine Arbeitstagung mit dem Titel „Zwischen den Diktaturen – Kirchen und Religion in der Tschechoslowakei, 1945-1948.“ Im beeindruckenden Vortragssaal des Emaus-Klosters sollte dem Stellenwert von Religion in dieser Phase und der konkreten Rolle der Kirchen im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Wandels nachgegangen werden. Die Tagung steht im Kontext eines Projekts zur „Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder im 20. Jahrhundert“, das im Collegium Carolinum mit Unterstützung des Versöhnungsfonds der katholischen Kirche in Deutschland seit 2004 bearbeitet wird. Ziel des Projekts ist die Entwicklung eines kirchengeschichtlichen Handbuchs unter Mitwirkung tschechischer und deutscher Wissenschaftler. Daneben soll ein gesonderter Projektband entstehen, der die Jahre 1938 bis 1948 im Blick hat und vor allem auf das Beziehungsfeld zwischen „Nation“ und „Religion“ fokussiert. Anknüpfend an eine erste Arbeitstagung für diesen Band, die im Dezember 2005 in München stattfand und der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewidmet gewesen war, beschäftigte sich die Prager Konferenz, deren Vorträge in tschechischer und deutscher Sprache gehalten wurden, mit den drei Folgejahren.

Martin Schulze Wessel (München) betonte in seinen einleitenden Worten das Anliegen der Tagung, Religion und Kirche nicht als reaktive Kräfte im öffentlichen Leben zu sehen, sondern als aktiven Faktor zu betrachten. Es dürfe also gerade in dieser Zeit „zwischen den Diktaturen“ nicht nur nach der Betroffenheit des religiösen Lebens von Krieg und gesellschaftlicher Transformation gefragt werden, sondern auch nach der kirchlichen Mitgestaltung in religionsfeindlicher Zeit.

Die erste Sektion über die Nachkriegszeit in den böhmischen Ländern und Europa eröffnete Árpád von Klimó (Berlin/Potsdam) mit seinem Referat über religiösen Wandel durch Krieg und gesellschaftliche Transformation in Europa nach 1945. In Übereinstimmung mit Schulze Wessels Plädoyer spannte er das breite thematische Feld seines Vortrags zwischen zwei Fragen auf: Er fragte einerseits nach den Auswirkungen von Religion in den Gesellschaften Europas und andererseits nach den Auswirkungen der kriegsbedingten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen auf die Religion. Bei der Vorstellung seiner sechs Thesen zur Beantwortung dieser Fragen wurde klar, dass mit dem Zweiten Weltkrieg ein zumindest kurzfristiger Bedeutungszuwachs für Religion und Kirchen verbunden war. Von Klimó führte dies unter anderem darauf zurück, dass „die Kirchen die wichtigsten Institutionen der Versorgung, des Schutzes und des Trostes in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit“ gewesen waren.
Wesentlich enger auf Raum und Zeit der Tagung bezogen als von Klimós Weitwinkelperspektive behandelte Jaroslav Šebeks (Prag) Referat die gesellschaftlich-kirchlichen Verhältnisse in der Tschechoslowakei in den Jahren 1945-1948 im Spiegel der Zeitschrift „Katolík“. Auch hier wurde deutlich, dass die Zeitschrift die tschechoslowakische Gesellschaft gestaltend beeinflusste. Beispielsweise durch ihr öffentliches Sprechen als Bedenkenträger bezüglich der Kollektivschuldzuweisung an die Deutschen fügte die Zeitschrift dem öffentlichen Diskurs der Zeit eine Meinung hinzu, die den tschechischen Katholizismus reflektierte und ihn damit letztlich in den europäischen Diskussionen positionierte. Aus Leserbriefen ist außerdem eine gewisse Prägekraft dieser Meinung nachweisbar.

Der rechtliche und politische Stellenwert von Religion in der Tschechoslowakei stand im Mittelpunkt der zweiten Sektion. Martin Teplý (Dresden) leitete den Komplex mit seinem für diese Frage grundlegenden Referat über Religionsfreiheit in der „Dritten Republik“ ein. Durch sein dankenswertes Bemühen, auch nicht-katholische Konfessionen in seine Darlegungen einzubeziehen, zeigte er, wie Kirchen durch gewisse Zugeständnisse der Religionsfreiheit in den Staat einbezogen wurden, um sie als Garanten der moralischen Erneuerung in der demoralisierten Nachkriegsgesellschaft für den Staatsaufbau nutzbar zu machen. Die daraus erwachsende „Transmissionsfunktion“ bestimmter Kirchen in Bezug auf politische Vorstellungen der Herrschenden wurde in Teplýs Vortrag vor allem dadurch deutlich, dass er die unterschiedlichen Reaktionen der verschiedenen Kirchen auf Gesetzesänderungen darstellte, die die Religionsausübung tangierten.
Die Verbindung zwischen Politik und Religion behandelte auch Martin Pehr (Prag) in seinem Beitrag über den politischen Katholizismus in der Nachkriegszeit. Pehrs kenntnisreiche Darstellung vermittelte ein pointiertes Bild über Kontinuitäten und Brüche des politischen Katholizismus im Vergleich zur Zwischenkriegszeit. Er machte anschaulich, inwiefern das politische Handeln der Volkspartei nicht zuletzt aus dem unbedingten Willen gespeist war, in der Regierung zu bleiben, um katholische Vorstellungen in den politischen Prozess einzubringen.
Abgeschlossen wurde die Sektion von Jaroslav Cuhra (Prag), der Einblicke in seine umfangreichen Forschungen zum Verhältnis zwischen katholischer Kirche, Vatikan und tschechoslowakischem Staat gab. Die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen tschechoslowakischem Staat und dem Vatikan führte er nicht auf den Einfluss der Kommunistischen Partei zurück, sondern auf die allgemeine Geringschätzung durch den Staat. Die Einstellung, diplomatische Beziehungen zum Vatikan nicht wichtig zu nehmen, sei selbst in der heutigen tschechischen Regierung noch zu beobachten.

Der dritte Block widmete sich der Rolle der Kirchen angesichts von Vertreibung und Wiederbesiedlung. Martin Zückert (München) nahm zu Beginn die Veränderungen kirchlichen Lebens in den tschechischen Grenzregionen in den Blick. Er unterstrich die Folgen der Zwangsmigration in Bezug auf die Grenzgebiete vor allem dadurch, dass er auf eine veränderte Geographie hinsichtlich der Konfessionen und vor allem auch der religiösen Wahrnehmungen und Deutungen hinwies. Gleichzeitig betonte er, dass die Entwicklungen in diesen Gebieten unbedingt in gesamtgesellschaftlichem Kontext gesehen werden müssten.
Der zweite Referent dieser Sektion, Jan Lata (Brno), beschäftigte sich mit der Frage nach den unterschiedlichen Haltungen der kirchlichen Zeitschriften zur Vertreibung der Deutschen. Lata zeigte, dass es trotz des offiziell bestehenden Konsus über die Angemessenheit der Vertreibungen ein weites Spektrum an Haltungen innerhalb der kirchlichen Publizistik dazu gab. Dies reichte von der absoluten Billigung und Forderung nach härteren Maßnahmen bis hin zu öffentlich geäußerten Zweifeln. Inwiefern dies bemerkenswert ist, wurde auch in der anschließenden Diskussion deutlich, in der wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass die öffentliche Debatte über die Vertreibungen vom Informationsministerium kontrolliert und reglementiert wurde. Hier zeigte sich die gestaltende Rolle der Kirche in der Gesellschaft der unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Zu Beginn der vierten Sektion über den Wandel von Religion durch Migration und Transformation untersuchte Rainer Bendel (Tübingen) diesen Wandel anhand der Situation der Sudetendeutschen. In seinem Beitrag „Vertreibung und kirchlicher Neuanfang – religiöser Wandel bei den Sudetendeutschen in den ersten Nachkriegsjahren“ stellte er nicht nur unterschiedliche Institutionen der Vertriebenenseelsorge in Deutschland dar. Darüber hinaus wies er auf die Irritationen und Probleme hin, vor denen die Neuankömmlinge standen, weil sie aus ihren Herkunftsregionen andere Formen der Frömmigkeit kannten. Bendel beschrieb die Adaptionsprozesse auf beiden Seiten, welche die Diskrepanz zwischen dem für die Vertriebenen Bekannten und dem tatsächlich Vorgefundenen verringerten.
Die Sektion schloss Jirí Hanuš (Brno) mit seinem glänzenden Beitrag zu Kontinuität und Wandel kirchlicher Traditionen nach 1945 ab, in dem er an das bisher Gesagte anknüpfte. So zeigte er unter anderem die ambivalente Bedeutung von „Tradition“ aus der Perspektive der kirchlichen Eliten nach dem Krieg auf. Von der tschechoslowakischen Kirche beispielsweise wurde Überkommenes bewusst zurückgewiesen, weil es als Belastung empfunden wurde; von anderen Kirchen wurde Tradition jedoch als Inspirationsquelle für die Bewältigung der schwierigen Nachkriegssituation gesehen. Zugleich mahnte Hanuš aber an, davon abzukommen, sich nur auf die Ebene der Eliten zu konzentrieren, weil dies die dominierende Blickrichtung der Forschungen seit den 90er Jahren sei. Er plädierte dafür, die Situation der kirchlichen Basis stärker zu berücksichtigen und schlug als mögliche Quellengrundlage für solche Forschungen die Akten von katholischen Verbänden und Predigten vor, um den Entwicklungen des innerkirchlichen Lebens auf den Grund zu gehen. Ein weiteres Forschungsdesiderat bestünde Hanuš zufolge darin, der wechselseitigen Durchdringung von christlichen und kommunistischen Wertvorstellungen nachzugehen. Damit sprach er einen in Bezug auf das Thema der Tagung wesentlichen ideengeschichtlichen Komplex an. So könnte die von ihm vorgeschlagene Analyse der kommunistischen Kampagnen hinsichtlich ihrer Instrumentalisierung religiöser Semantiken und Argumentationsstrukturen interessante Rückschlüsse auf die Rolle der Kirchen im gesellschaftlichen Wandel zulassen.

Martin Schulze Wessels (München) abschließender Kommentar griff einige Aspekte auf, die sein Vorredner angesprochen hatte. Die Beiträge der Konferenz zusammenfassend unterstrich er die große Vielseitigkeit der unterschiedlichen Zugangsweisen, mit denen die Fragestellungen der Konferenz angegangen wurden. So sei deutlich geworden, dass die Veränderungen der religiösen und kirchlichen Strukturen in der „Schlüsselepoche“ 1945-1948 nicht nur politik- und theologiegeschichtlich, sondern in besonders interessanter Art und Weise auch durch einen ethnologischen, beziehungsweise anthropologischen Zugriff zu erschließen seien. Gerade in Bezug auf Migrationen sei diese Zugangsweise besonders wichtig und fruchtbar, wie der Religionssoziologie José Casanova durch seine Feststellung deutlich gemacht habe, dass Migrationen unter Umständen religiöse Mobilisierung bewirken können. Dies sei auch aus dem Beitrag von Rainer Bendel hervorgegangen, der die neuen Bindungen herausarbeitete, die Religion in den neuen Lebenszusammenhängen geschaffen hat. Vor allem sei auch klar geworden, dass Religion in dieser Phase des Wandels nicht nur Veränderungen unterlag, sondern in den Aus- bzw. Ansiedlungsgebieten neue Wahrnehmungsgeographien formte.

Gerade durch die letzten beiden Redebeiträge wurden in kompakter Art und Weise die Forschung zur Kirchen- und Religionsgeschichte der böhmischen Länder zusammengefasst, wodurch die Aussagekraft der Konferenz hinsichtlich des Standes und der Defizite der internationalen Forschung deutlich wird. Dies in schriftlicher Form zugänglich zu machen wird eines der Verdienste des entstehenden Projektbandes sein. Der Band sollte aber expliziter als während der Tagung geschehen, die Brücke zu den Ergebnissen der Münchner Konferenz schlagen. Auch sollten die Entwicklungen in und um die nicht-katholischen Glaubensgemeinschaften noch stärker berücksichtig werden. Dadurch würden der offensichtliche Stellenwert von Religion und die gestalterische Rolle der Kirchen während des politischen und gesellschaftlichen Wandels noch klarer hervortreten.


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Land Veranstaltung
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Deutsch
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