Das Bild der 'eigenen' Geschichte im Spiegel des kolonialen 'Anderen'. Internationale Perspektiven um 1900

Das Bild der 'eigenen' Geschichte im Spiegel des kolonialen 'Anderen'. Internationale Perspektiven um 1900

Organisatoren
Jürgen Martschukat; Frank Schumacher
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Jobs und Nora Kreuzenbeck

Am 24. November 2006 fand im Internationalen Begegnungszentrum in Erfurt ein Workshop zum Thema "Das Bild der 'eigenen' Geschichte im Spiegel des kolonialen 'Anderen'. Internationale Perspektiven um 1900" statt. Vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten in der Geschichtswissenschaft warfen die Veranstalter Jürgen Martschukat und Frank Schumacher (beide Erfurt) eine Reihe von Fragen auf, die ersterer den Anwesenden in seiner kurzen Eröffnung noch einmal in Erinnerung rief. Die Vorträge sollten untersuchen, wie sich in Kolonialisierungsprozessen ein Verständnis und ein Blick nicht nur für ein fremdes "Anderes", sondern auch ein "Selbst"-verständnis entwickelte. Darüber hinaus formulierte er eine weitere Frage an die Vorträge zu Themen aus unterschiedlichen Weltregionen: Inwiefern veränderten sich dabei Vorstellungen von eigener Geschichte und Herkunft im Spiegel des kolonialen "Anderen", d.h. in Austauschprozessen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden?

Vor dem Hintergrund des Aufstieges der USA zur Kolonialmacht gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigte Frank Schumacher in seinem Vortrag Das Imperium als historischer Auftrag? Koloniale Geschichtsbilder auf der Weltausstellung von 1904 in St. Louis die gesellschaftlichen Funktionen der Zurschaustellung der kolonialen „Anderen“ am Beispiel von Filipinos und Native Americans auf. Dabei trugen die Völkerschauen nicht nur zur öffentlichen Verdrängung der Kriegserinnerung bei und normalisierten den US-amerikanischen Imperialismus, sondern drückten zugleich auch die Vorstellung von einem amerikanischen Sonderweg aus, auf dem in Selbstabgrenzung zu europäischen Kolonialmächten Amerika einem humanitär-zivilisatorischen Auftrag folgte. Kritikern der amerikanischen Expansionspolitik setzten die Ausstellungen ein scheinbares Inklusionsangebot an die Kolonialisierten entgegen, das sich vor allem in Modellschulen abbildete, in denen kolonisierte Menschen exemplarisch zu produktiven Mitgliedern der amerikanischen Gesellschaft erzogen werden sollten. Hier griff die historische Verortung amerikanischer Expansionspolitik bereits bestehende Vorstellungen, wie etwa die der manifest destiny auf, und ergänzte das in St. Louis entworfene Geschichtsbild, das Expansion als historischen Auftrag verstand, so um eine paternalistisch-benevolente Dimension.

Zu einem ähnlichen Thema lieferte Daniel Mollenhauer (Erfurt) einen Beitrag, in dem er französische Debatten über "Republikanische Tradition und kolonialisierende Identität" anhand der Pariser Weltausstellung von 1889 untersuchte. Er hob die Rolle der Schau als Feier des "centenaire", des hundertjährigen Revolutionsjubiläums hervor; sein besonderes Augenmerk galt aber der Ausstellung über die Kolonien. Diese Inszenierung eines scheinbar authentischen Lebens der "Eingeborenen" war einerseits darauf ausgerichtet, wissenschaftliche Aufklärung über die Kolonien in Afrika und Ostasien zu betreiben, gleichzeitig bediente sie jedoch die Schaulust der Besucher und ihren Wunsch nach Exotik. Daniel Mollenhauer konnte so zeigen, dass diese Präsentationen vor allem die französische "mission civilisatrice" im Zeichen von "Freiheit, Ordnung und Fortschritt" in den Mittelpunkt stellten und dabei innenpolitische Kontroversen und Konflikte über die Rolle der "République" als Kolonialmacht überdeckten.

Es folgte Claudia Bruns (Köln) Beitrag Ambivalenzen einer Mimikry an das „Primitive“. Der Blick der europäischen Völkerkunde auf die „Urvölker in aller Welt“ um 1900, der sich am Beispiel der in Deutschland breit rezipierten Monografie des Ethnologen Heinrich Schurtz mit dem paradoxen Versuch befasste, durch eine Art „Mimikry“ 1 an die Gesellschaftsordnungen „primitiver Völker“ die gesellschaftliche Machtstrukturen im Kaiserreich aufrecht zu erhalten und zu legitimieren. Schurtz identifizierte dabei Männerbünde in Abgrenzung zu von Frauen dominierten Familienverbänden als zentrale transhistorische Elemente der Gesellschaftsbildung. Claudia Bruns stellte heraus, dass die historische Verortung des Männerbundes nicht nur den Ausschluss von Frauen aus vielen gesellschaftlichen Bereichen legitimierte, sondern auch hierarchische Gefüge unter Männern verschiedener gesellschaftlicher und sozialer Schichten untermauerte. In Folge dessen wurden den so genannten „Primitiven“ ambivalente Funktionen zugeschrieben. So wurden etwa im Zuge einer Authentizitäts- und Natürlichkeitssehnsucht wilhelminischer Männer die „primitiven Anderen“ zum Urbild des Eigenen erklärt, dem es sich wieder anzunähern galt. Brüche in diesem Konzept entstanden unter anderem dort, wo Schurtz moderne Gesellschaften als fortschrittlich und männlich charakterisierte, bei der Beschreibung der „Primitiven“ aber auf weiblich konnotierte Begriffe wie zum Beispiel „passiv“ und „sorglos“ zurückgriff.

Das Bild vom russischen Süden, der Krim, nahm Kerstin Jobst (Salzburg) in ihrem Vortrag "Über den russischen Südländer" in den Blick. Sie hob dabei vor allem hervor, dass die Kolonisierung der Krim nicht als bloße Russifizierung und koloniale Distanzierung, sondern als eine Inklusion und Verschmelzung mit dem russischen Kernland verstanden werden müsse. Anhand künstlerischer Diskurse über die Krim um 1900 zeigte sie, welche romantischen Sehnsüchte und Fantasien von Schönheit und Urwüchsigkeit sich an der Landschaft der Halbinsel entzündeten und wie diese gleichzeitig auf die Figur des južanin, des Südländers projiziert wurde. Diese Kolonisten auf der Krim wurden mit ihrem südlichem Aussehen und der angenommenen Schönheit ihrer Sprache zu einem ästhetischen und kulturellen Ideal in Russland. Durch diese Romantisierung wurde die meist weiblich dargestellte Krim-Kolonie zu einer geographisch-kulturellen Peripherie, die im Gegensatz zum urban-russischen Alltag (z.B. in St. Petersburg) stand und gerade daher Freiheit und Kreativität ermöglichte.

Thoralf Klein (Erfurt) beschäftigte sich in seinem Vortrag "Weltgeschichte, Heilsgeschichte" mit den Erfahrungen und Geschichtsdeutungen "westlicher" protestantischer Missionare in China während des Boxerkriegs 1900 und der republikanischen Revolution 1911. Einleitend betonte er, dass Mission als transnationales Phänomen nicht als deckungsgleich mit Kolonisierungsprozessen anzusehen ist. Am Beispiel von Publikationen und Zeugnissen stellte er heraus, dass englische Geistliche die Gewalt, die sie während der Umwälzungen in China 1900-1912 erlebten und erfuhren, versuchten, als Opfer und Martyrium zu deuten und damit in eine Tradition christlicher Heilsgeschichte zu stellen. Im Bild des kolonialen, chinesischen "Anderen" fanden die Missionare einen Anknüpfungspunkt, ihr Handeln in der Nachfolge des Leidens Christi zu begründen.

In seinem abschließenden Kommentar lobte Dirk van Laak (Jena) die vorgestellten Arbeiten als überaus gelungen. Eine besondere Stärke der Tagung sah er in der Vielfalt der Beitragsthemen. Darüber hinaus betonte er, dass aus Europäischer und Amerikanischer Sicht um 1900 eine Umbruchphase der Globalisierung stattgefunden habe, in der sowohl Kontinuitäten als auch Brüche und Differenzen sichtbar geworden seien. Als Kontinuität identifizierte er so zum Beispiel die Herrschaftsdemonstration durch Zurschaustellung der „unterworfenen Anderen“ vor dem Volk und die Idealisierung kolonialer Lebenswelten. Er hob hervor, dass vor allem im 20. Jahrhundert Kolonialmächte sich in der Rolle des paternalistisch-benevolenten Erziehers gesehen hätten. Zudem stellte er Differenzen in der Methodik der Kolonialpolitik heraus, nach der Staaten wie etwa Frankreich, Russland und die USA eine Politik der Inklusion betrieben hätten, während etwa Deutschland kolonisierte Andere segregiert habe. Auch die Bedeutung von wissenschaftlich-biologischen Rechtfertigungsstrategien, die der Kolonisierungspolitik zugrunde lägen, sei ein wichtiger Untersuchungspunkt. Neben Aspekten, die bereits in den Vorträgen thematisiert worden waren, wies Dirk van Laak auf eine Reihe von weiteren Perspektiven und Dimensionen der Kolonialpolitik hin. Er nannte Themen wie Identitätsbildung, das Bild des Edlen Wilden, Exotismus, Kannibalismus oder auch die Bedeutung der freudschen Psychoanalyse für die Figur des kolonialen „Anderen“.

Insgesamt ist eine sehr positive Bilanz zu ziehen. Alle Beiträge lieferten überaus gelungene Denkanstöße zur Darstellung des Kolonialisierten, auch wenn es in einigen Fällen wünschenswert gewesen wäre, der Rückspiegelung des „Anderen“ auf die „eigene“ Geschichte noch weiter nachzugehen. Zu den Stärken der spannenden Tagung gehörte die große Vielfalt an Perspektiven, mit der sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dem Bild der „eigenen“ Geschichte im Spiegel des kolonialen „Anderen“ näherten. Darüber hinaus zeichneten sich die im Plenum stattfinden Diskussionen dadurch aus, dass sie äußerst konstruktive Kritik leisteten und den Anwesenden viele weitere Anregungen mit auf den Weg gaben.

Eine Publikation zur Tagung ist in Vorbereitung.

Anmerkung:
1 Der hier benutze Begriff orientiert sich an dem von Homi Bhabha in Location of Culture erarbeiteten Konzept der Mimikry: Bhabha, Homi, Location of Culture, London 1994.


Redaktion
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