Spuren der Avantgarde: Theatrum Anatomicum

Spuren der Avantgarde: Theatrum Anatomicum

Organisatoren
Projekt A6 "Theatrum Scientiarum - Spuren der Avantgarde im experimentellen Wissen des 17. Jahrhunderts" des SfB 447 "Kulturen des Performativen"
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2006 - 04.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexandra Lewendoski

Silentium, Vorhang hoch, und auf die Bühne tritt … ein Anatom!

Im anatomischen Theater richten sich die Blicke der Zuschauer nach unten, auf den Tisch, der Mittelpunkt des Raumes ist. Bequem sitzt man nicht. Die Reihen sind eng, das Gefälle beträchtlich, damit der Abstand zum Seziertisch nicht allzu groß wird. Der Raum erinnert an eine Miniaturarena, ein antikes Theater. Die Sitze im Sektionshörsaal sind auch heute noch unbequem. Doch wichtig ist nicht die Bequemlichkeit, sondern das Schauspiel. Auch wenn es sich nicht um wirkliche Sektionen handelt, sondern um Vorträge über Sektionen, Zerlegungen, Schnitte, Zerstückelungen. Für alle, die nicht täglich mit Medizin zu tun haben, ist solche Thematik fremd und auch mit Berührungsängsten verbunden. Dabei scheint Anatomie doch heute selbstverständlich, kaum ein Fernsehkrimi möchte auf den Autopsie-Befund verzichten. Gerade diese Gewissheit über den Fortschritt anatomischer Kenntnisse mag uns vielleicht davon abhalten, das anatomische Schauspiel mit dem gleichen neugierigen Blick zu bewundern wie das Publikum im 16. Jahrhundert. Ob nun im theatrum anatomicum, bei den Live-OP’s im Fernsehen oder bei der Lecture Performance von Thomas Lehmann, der seine Knie-OP kommentierte, die während der Konferenz im Sektionshörsaal zu sehen war – immer geht es darum, die Belastbarkeit des Publikums zu prüfen. Ziel der Veranstaltung ist, das Wissen mittels einer demonstratio ad oculos zu veranschaulichen und dem Geschehen einen künstlerischen Gehalt zu entlocken.

Anatomische Bücher sind bekanntlich mit Illustrationen versehen. Sie zeigen, wie ein theatrum anatomicum aussah, eine Sektion ausgeführt wurde und dass es genügend Zuschauer gab, die mit eigenen Augen sahen, wie etwas mit dem Seziermesser freigelegt wurde. Ersichtlich wird hier, welche Bedeutung „die Anatomie im Geistesleben der Zeit einnahm“, 1 und zwar verbunden mit einem künstlerischen Anspruch. So verwundert es kaum, dass Künstler und Anatomen eng zusammenarbeiteten. 2

Mit Illustrationen und Augenzeugenberichten wollte man verhindern, dass überlieferte Lehren ungeprüft übernommen wurden und den eigenen Beobachtungen nur in dem Maße getraut wurde, wie sie sich alten Wahrheiten unterordnen ließen. Denn die Wahrheit über den menschlichen Körper schien seit Galen festgelegt: Vor ca. 1850 Jahren hinterließ der neben Hippokrates bedeutendste Mediziner des Altertums sein umfangreiches Werk. Galens heilige Schrift zur Medizin und Anatomie war sakrosankt wie die Bibel, Kritik an ihr verpönt. Die Ehrfurcht vor seinem Werk und die Anzahl der Kommentierungen wuchsen im gesamten Mittelalter bis hin zur Frühen Neuzeit, als das Messer zur Wahrheitsfindung gleichsam neu geschärft wurde. Im 16. Jahrhundert hielt Galens Autorität weiter an, doch die Stimmen der Kritik wurden lauter, unter ihnen vor allem die von Andreas Vesal(ius). Vesals anatomische Versuche, Präparierungen und Sezierungen machen ihn für viele zum Begründer der modernen Anatomie. Sein Verdienst bestand nicht zuletzt darin, dass er die einzelnen Organe des Menschen in Bezug auf den ganzen Körper untersuchte. 3

Wie sahen die Wege aus, auf denen die anatomische Wahrheitsfindung voranschritt? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Anatomie und jenen Problemen, die sich im Umbruch des wissenschaftlichen, politischen und religiösen Denkens des 16. u. 17. Jahrhunderts neu stellten? Welche Spuren haben diese neuzeitlichen Entwicklungen in der Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Sprachanatomie der künstlerischen Avantgarde des letzten Jahrhunderts hinterlassen? So lauten einige der Fragen, auf die Wissenschaftler der unterschiedlichsten Forschungsbereiche (Medizin, Medizingeschichte, Philosophie, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft u.a.) eingingen. Die internationale Konferenz Spuren der Avantgarde: Theatrum Anatomicum fand vom 2. bis zum 4. November 2006 in Berlin statt. Sie wurde organisiert von H. Schramm, L. Schwarte, J. Lazardzig, D. Hahn u. M. Lorber im Rahmen des Projekts Theatrum Scientiarum – Spuren der Avantgarde im experimentellen Wissen des 17. Jahrhundert (Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen) der FU Berlin 4 in Kooperation mit T. Schnalke und dem Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin. Unterstützt wurde die Tagung von der Gerda Henkel Stiftung, dem Außenamt der FU Berlin und der DFG.

Der Brückenschlag zwischen Tagungsthema und Veranstaltungsort war spektakulär, denn die Tagung fand zum Teil in der Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums, dem ehemaligen Rudolf-Virchow-Hörsaal statt, der noch Spuren des 2. Weltkriegs aufweist. 5 Zwischen den Gläsern, in denen Virchow Wasserköpfe, Gehirntumore, Lebern mit Zirrhosen oder Hände mit fortgeschrittenen Basaliomen präsentierte 6, stellte sich diese Konferenz die Frage nach den Übergängen und Initialmomenten anatomischer Theorie und Praxis (Sezierungspraktiken, Präparierung und Darstellungsformen). Zu diesem Zwecke wurde die Anatomie auf die Bühne verschiedener Wissenschaften und Künste versetzt.

Thomas Schnalke, Professor an der Medizinischen Fakultät Charité der Humboldt-Universität und Leiter des Medizinhistorischen Museums in Berlin, erläuterte die Funktion des Anatomischen Theaters, 7 würdigte Virchows Verdienste für die pathologische Sammlung und wies an dessen Beispiel auf die besondere Verbindung von Theorie und Praxis hin: Da Virchow eben an dem Ort seine Vorlesungen hielt, wo seine Sammlung zu sehen war, wuchs die Zahl seiner Studenten, und je größer die Resonanz seiner Vorlesungen wurde, desto mehr Sammler spendeten wiederum ihre Exponate für seine Sammlung. Der Anatom bzw. Pathologe ist ein Mediator, der den Studenten anhand solcher Kollektionen bzw. anhand von Sektionen einen Einblick in das Innere des Menschen bietet. Doch ist dieser Einblick auch immer schon eine Interpretation, die abhängig ist von den Präsentationsräumlichkeiten, von der Auswahl der zu sezierenden Körper, von den Methoden, mit deren Hilfe bestimmte Attribute des gesunden bzw. kranken Körpers dargestellt werden. Auch der Künstler ist ein solcher Mediator, der dem Publikum einen Einblick in sein Innerstes zu vermitteln sucht.

Am Beispiel von Performancekünstlern der 70er Jahre sprach Erika Fischer-Lichte, Professorin am Institut für Theaterwissenschaft an der FU Berlin, über die „sezierende Gewalt“. Durch Selbstverstümmelungen und –verletzungen versuchten Künstler, die eigenen Schmerzen und Gefühle unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, indem sie z.B. ihre Haare verbrannten, am Körper Zigaretten ausdrückten oder über zerbrochenes Glas liefen. Diese Performances fanden u.a. auch in Museen statt, die von den Künstlern zu anatomischen Theatern erklärt wurden und dadurch eine Distanz zum ausgestellten Schmerz schufen, anders als das beispielsweise bei einer ähnlichen Performance auf der Straße der Fall wäre.

Den philosophischen Hintergrund thematisierte Helmar Schramm, Professor für Theaterwissenschaft an der FU Berlin und Leiter des Projekts Theatrum Scientiarum am SFB Kulturen des Performativen. Er sprach über den ‚Schnitt’ zwischen Leib und Seele. Ausgangspunkt war Descartes’ Philosophie des Zweifelns und dessen Trennung zwischen res cogitans und res extensa. Der Zweifel sei Bestandteil des Lebens, nur der Tod sei zweifelsfrei. Die ‚physische Grenze’ werde essenziell für die Zweifelsfreiheit. Die Anatomen sezieren den toten Körper, um mehr über den lebenden Körper zu lernen. Diese Widersprüchlichkeit interpretierte Schramm vor dem Hintergrund melancholischer Weltsicht, wie sie in Robert Burtons Anatomie der Melancholie geradezu enzyklopädisch festgehalten ist. Das methodische Fragen und die veränderte Sicht auf das Verhältnis von Körper und Geist würden – charakterisiert durch systematische ‚Schnitte’ – bis in die Gegenwart wirken und seien verbunden mit einer melancholischen Weltsicht. Avantgardistische Experimente und deren Einsatz von Fragmentierung und Zerlegung ließen sich als Ansatz einer alternativen Anatomie der Melancholie verstehen.

Rafael Mandressi, Professor für Erkenntnistheorie an der Universidad Católica de Montevideo, schilderte den Zusammenhang von Instrumentarien, Verfahren und Denkformen in der Anatomie und beschrieb dabei einen hermeneutischen Zirkel: Um Instrumente entwickeln zu können, mit denen man den Körper besser sezieren und untersuchen kann, müsse man schon wissen, auf welche Erkenntnis man hinauswolle. Die Realität des Körpers abbilden zu wollen verlange nach gewissen Verfahren und sei abhängig von der Qualität der Instrumente. Doch seien der Umgang mit den Instrumenten und bestimmte Untersuchungsmethoden (z.B. das Aufblasen von Adern) ihrerseits wiederum mit besonderen Anforderungen verknüpft (z.B. bestimmten Hygienemaßnahmen). Geeignete Instrumente und Verfahren dienen auch dazu, den Körper und das Wissen über den Körper besser exponieren zu können. Auch die Auswahl geeigneter Körper, Räume und Methoden trage zum Gelingen der Präsentation bei.

Die Frage, wie sich das Wissen über den sezierten und ausgestellten Körper adäquat festhalten lasse, stand im Zentrum des Vortrags von Christoph Hoffmann, der über das Protokollieren in der Pathologie sprach. Das Protokoll sei einerseits Garant der Erkenntnis und würde oft vollständig das Beobachtete vertreten, es bleibe einziger Überrest des toten Körpers. Andererseits führe die Standardisierung und Methodik des Protokollierens dazu, dass der Protokollant die eigenen Beobachtungen vernachlässige, damit er die Protokollform einhalten könne. Dadurch aber werde die Erkenntniskraft der Pathologie gefährdet.

Simone de Angelis wies darauf hin, wie komplex dieser Bereich der Beweisbarkeit und des Vor-Augen-Führens anatomischen Wissens wirklich ist. Historisch betrachtet greife die demonstratio auf antike Rhetoriklehren zurück. Schon früh sei es nicht nur um das sog. Wahre gegangen, sondern auch um die Frage, was den Rezipienten dazu bringe, etwas für real zu halten. So auch im Theater. Methodisch gesehen frage die demonstratio nach der Evidenz bzw. danach, welche Instrumente, Operationen und Methoden geeignet seien, um eine bestimmte Beweisführung anzutreten. Indem diese beiden Aspekte der demonstratio einbezogen werden, könne verdeutlicht werden, wie Anatomen argumentieren und auf welche Weise sie ihre neuen Erkenntnisse im anatomischen Theater bzw. in Texten demonstrieren.

Den Übergang von der Untersuchung der ‚art- und geschlechtlosen Einheit Körper’ zur Untersuchung des differenzierten und individuellen Körpers erläuterte Michael Stolberg, Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg und Institutsvorstand. Er verdeutlichte damit, wie wichtig die Kenntnis gesellschaftlicher und philosophischer Rahmenbedingungen für die Geschichte der Anatomie ist. Am Beispiel des Schweizer Arztes Felix Platter, der wohl erstmals eine Abbildung des weiblichen Skeletts veröffentlichte, zeigte Stolberg, dass im 16. Jh. mit der Tradition gebrochen wurde, die Differenzen zwischen Mann und Frau nur auf Unterschiede in Temperament und ‚innerer Wärme’ zurückzuführen. Nun wurde die anatomische Differenz betont und das Skelett in die Betrachtung mit einbezogen.

Welche Rolle spielt die Entwicklung der Anatomie für die Kunst? Thema war da nicht nur das Wissen, um Körper modellieren zu können, sondern auch die Fragmentierung des Körpers, die einen vom Ganzen losgelösten Kreativitätsprozess erlaubt und dem Künstler gestattet, selbst als „Schöpfer“ tätig zu werden und die Gestalten ohne Rücksicht auf Funktionszuordnungen zusammenzufügen, sodass neue Denkstrukturen sichtbar werden. Dieser Aspekt wurde u.a. deutlich in Nicola Suthors Vortrag über die anatomischen Zeichnungen Picassos, der mit „Gliedmaßen jongliere“ wie vor ihm z.B. Braccelli mit seinen „Bizzarien“ von 1624.

Die historische Darstellung des Anatoms, am Beispiel von Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp, machte für Claus Volkenandt deutlich, in welcher Weise Kunst nicht Report, sondern Interpretation sei. Autorität und Evidenz gehen eine neue Verbindung ein: nicht länger die Bücher seien Autorität, sondern die vor Augenzeugen (Studenten) demonstrierte anatomische Praxis. Hierbei komme die Theatralität der Malerei zum Ausdruck, die zum Sinnbild werde für die Theatralität von Wissenschaft.

Die Tagung Theatrum anatomicum. Spuren der Avantgarde war bewusst als Spektakel angelegt, das vom Blick der Theaterwissenschaftler für die Inszenierung geprägt war, die Inszenierung von Wissen und Wissenschaften. So ergibt sich ein Fazit, das auch die Berührungsängste des Fachfremden verringern konnte und vielfältige Anregungen bot, die sonst getrennten Wissenschaften im Bezug auf die Anatomie miteinander zu verknüpfen und sich mit dem zu beschäftigen, was oft mit einem Tabu belegt ist. In dem Bruch des Tabus ist freilich auch ein Scheitern angelegt, Helmar Schramm sprach vom „Ende avantgardistischer Utopien“. Denn die Zerstückelung wird tatsächlich auch zum Scheitern der Utopie, mehr zu erfahren. Sezierungen seien oft nur mit Hilfe von Dissoziationen erträglich, wie auch Medizin-Studenten berichten.

Thema, Methode, Aufbau und Ort der Konferenz spiegelten den Facettenreichtum der Anatomie: Zum einen bleibt die Tagung notwendigerweise ausschnitthaft, und es ist dem Zuhörer überlassen, aus den vielen Facetten der Vorträge einen Zusammenhang zu ermitteln, den zerstückelten Tagungskörper für sich zu einem Ganzen zu fügen. Vielleicht wird er dazu angeregt, mal wieder zu Gottfried Benns spektakulärem „Morgue“-Bändchen von 1912 zu greifen und Gedichte wie „Kleine Aster“ oder „Schöne Jugend“ zu lesen. Zum anderen lässt diese Veranstaltung ungeahnt viele Zusammenhänge erkennen oder zumindest erahnen. Neugierde auf den in ca. einem Jahr erscheinenden Tagungsband ist jedenfalls geweckt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Toellner, Richard, Illustrierte Geschichte der Medizin, Bd. 2, Vaduz 1992, S. 874.
2 a.a.O.
3 Vgl. Boas, Marie, Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450-1630, Nördlingen 1988 (1. Aufl. 1962), S. 161.
4 Tagungsprogramm, vgl.: <http://www.fu-berlin.de/presse/fup/2006/fup_06_231.html> (25.01.07).
5 Vgl. <http://www.bmm.charite.de/ruine/ruine.htm> (25.01.07).
6 Die Präparatensammlung (diverse Krankheitsformen) wird in Glasvitrinen aufbewahrt. Das Pathologische Museum wurde 1899 von dem damals bereits 80jährigen Rudolf Virchow gegründet. Vgl. <http://www.bmm.charite.de/museumtransparent/pathmuseum.htm> (25.01.07).
7 Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurden vor allem an Universitäten und anatomischen Theatern Präparate gefertigt und aufbewahrt: zwecks Studiums des „normalen“ Körperbaus. Seit Beginn des 19. Jh. gibt es eine neue Perspektive: die auf den kranken Körper. Vgl. <http://www.bmm.charite.de/museumtransparent/virchowspraeparate.htm> (25.01.07).


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