Jenseits von Autokratie und Gesellschaft. Das Politische als Kommunikationsraum im Zarenreich (19./20. Jahrhundert)

Jenseits von Autokratie und Gesellschaft. Das Politische als Kommunikationsraum im Zarenreich (19./20. Jahrhundert)

Organisatoren
Universität Bielefeld, Sonderforschungsbereich 584, Teilprojekt B 11 (Stephan Merl, Walter Sperling)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 - 25.11.2006
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Von
David Feest, Sonderforschungsbereich 640, Humboldt-Universität zu Berlin

Jenseits von Staat und Gesellschaft – mit dieser Formel wurde bereits im Titel eines Workshops des SFB 584: „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ die Gültigkeit der binären Oppositionsbegriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ für das vorrevolutionäre Russland in Frage gestellt. An die Stelle des politischen Raums des Staates und des vorpolitischen Raums der Gesellschaft sollte im Sinne einer „neuen Politikgeschichte“ ein übergreifender Kommunikationsraum politischen Charakters treten. Hier zu klaren Definitionen zu kommen, ist nicht leicht. Wie Willibald Steinmetz in einem einführenden Vortrag darlegte, kann jeder Gegenstandsbereich als politisch betrachtet werden, ohne dass das, was dort auffindbar ist, an sich politisch sein muss. Auch existieren breite methodische Spielräume. Von den in einem Überblicksreferat über die „neue Politikgeschichte“ von Tobias Weidner dargestellten Herangehensweisen überzeugte nicht zuletzt der Versuch, eine Verbindung zwischen handlungsbezogenen und systemischen Ansätzen herzustellen. Ein kommunikativer Politikbegriff könne den Gegensatz von Handeln und Struktur aufbrechen, indem letztere als interaktiv begriffen werde.

Walter Sperlings Forderungen an die Geschichtsschreibung gingen in dieselbe Richtung, ohne jedoch bei einem Strukturbegriff anzukommen. Gegen eine Sozialgeschichte, welche die Gesellschaft nach klaren Kriterien zu begreifen suche, sei es an der Zeit, die zeitgenössischen Diskurse über Gesellschaft in den Mittelpunkt zu rücken. Damit ließe sich auch, so seine optimistische Einschätzung, die Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft auflösen, denn die Kommunikation laufe mitten durch diese Bereiche. Auch wenn die Möglichkeit einer wertfreien Rekonstruktion der Vergangenheit im Medium ihrer eigenen Begrifflichkeit in der Diskussion auf einige Skepsis stieß, war doch der Anspruch des gesamten Workshops damit klar umrissen: Staat und Gesellschaft sollten hier eben nicht als vorgängiger Handlungsrahmen politischer Betätigung postuliert werden, sondern im größeren Konzept des politischen Kommunikationsraums aufgehen. Dieser Kommunikationsraum ist politisch, da er, nach einem der Definitionsversuche Steinmetz’, auf eine gewisse Breitenwirkung abzielt, und er befindet sich zumindest insofern „jenseits von Staat und Gesellschaft“, als er diese nicht voraussetzt, sondern eine Plattform für ihre Verhandlung bietet.

Entsprechend handelte das erste Panel zum Thema Gewalt dann auch, so der Kommentator Andreas Renner, von Politik als Verhandlungsgegenstand. Das Medium dieser Verhandlungen war die Gewalt: in einem Fall vonseiten linksrevolutionärer Terroristen, auf der anderen Seite in den Aushandlungen zwischen jüdischer Minderheit und dem zarischen Staat. In beiden Fällen wurde die Entwicklung eines politischen Raums außerhalb staatlicher Institutionen nachgezeichnet. So stellte Anke Hilbrenner in ihrer Untersuchung den Raum als Ort oder Schauplatz dem metaphorischen politischen Raum entgegen. Die Straße entwickelte sich mit der Entstehung des modernen politischen Terrorismus zum politischen Raum, die Gewalt wurde zur Sprache der politischen Kommunikation – so lassen sich die Kernbehauptungen von Hilbrenner zusammenfassen. Auch die Teilnahme vieler Radikaler am parlamentarischen Diskurs nach der Gründung der Duma schloss nicht aus, dass sie daneben weiterhin die gewaltsame „Sprache der Straße“ nutzten. Dabei machte sie deutlich, dass mit Gewalt nicht nur Aussagen gemacht wurden, sondern sie auch innerhalb von Legitimitätsdiskursen begriffen werden muss, wie anhand des Beispiels der zur Märtyrer-Heldin stilisierten Attentäterin Marija Spiridonova und einer Reihe politischer Karikaturen erhellend dargelegt wurde. Eben eine solche Einbindung fiel Alexis Hofmeister aufgrund seiner methodischen Selbstbeschränkung auf ein Sender-Empfängermodell etwas schwerer. Er behandelte die kommunikative Interaktion zwischen jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaft und der zarischen Administration im Zentrum sowie in den Regionen und verzeichnete eine Verschiebung von verbaler zu nonverbaler, gewalttätiger Kommunikation. Wie damit allerdings ein neuer politischer Raum geöffnet wurde, bleibt unklar. Die Gewaltanwendung erscheint eher als ein Anzeichen gestörter politischer Kommunikation und stützte damit indirekt – so Kommentator Andreas Renner – „die herkömmliche These von der gescheiterten bzw. blockierten politischen Partizipation“.

Doch wird der Raum des Politischen nicht nur in Handlungen geschaffen, sondern ebenso in Entwürfen, die ihre politische Relevanz festlegen und Ansprüche formulieren. Wie Diskurse über abweichendes politisches Verhalten in der Langzeitperspektive wesentliche Veränderungen erfahren können, beschrieb Angela Rustemeyer am Wandels von Konzepten des Majestätsverbrechens, insbesondere verbalen Angriffen gegen das Staatsoberhaupt, das zunächst in den Bereich des „Arkanums“, oder Fürstengeheimnisses gefallen war. Indem Verbaldelikte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend entpolitisiert, und deviante Verhaltensweisen als Problem kultureller Unterentwicklung aufgefasst wurden, änderten sich auch die Zuständigkeiten. Ohne die zentrale Rolle der administrativen Elite in Frage zu stellen, wurden auch Geistliche und Mediziner Teilhaber des Arkanums und konnten mit ihren Analysekategorien zu einem neuen Verständnis des Gegenstands führen, an das die noch größere Diskursgemeinschaft in der Ära der Reformen anknüpfte.

Wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein solcher Diskurs aussehen konnte, zeigte Vera Urban in ihrem Beitrag über die politische Kommunikation hochrangiger konservativer Staatsbeamter und einflussreicher politischer Publizisten. Nun mag es nicht überraschen, dass gerade Konservative wie D. A. Tolstoj und K. P. Pobedonoscev, daneben R. A. Fadeev und A. D. Pazuchin immer auch um eine historische Verankerung ihrer Überzeugungen bemüht waren. Doch zeigte der Beitrag im Detail auf, wie stark bei den Protagonisten historisch-wissenschaftliches Arbeiten und ihre politischen Kommunikationsstrategien verschlungen waren. Geschichtsbilder waren, so Urban, die mental maps, die auch politische Räume definierten. Während Rustemeyer Depolitisierungsvorgänge beschrieben hatte, geschah hier also die Politisierung eines Kommunikationsraums.

Weniger geschlossen präsentierte sich das nächste Panel. Schon die Überschrift: „Akteure, Themen, Konstellationen“ schien Elemente aller Beiträge, nicht aber ein eigenes Forschungsthema zu umreißen. Roland Cvetkovskis Beitrag über die „Geschwindigkeit als politischer Prozess“ stand dann auch etwas isoliert da. Cvetkovski unterschied zwischen Geschwindigkeit als konkretem Phänomen und als vermitteltem Bestandteil übergeordneter Prozesse wie etwa der Rationalisierung. Dass ihn Ersteres mehr interessiert als Letzteres machte ein Problem seines Vortrags aus. Denn so interessant die Nachzeichnung von Geschwindigkeitsvorstellungen in den allgemeinen Ordnungsvorstellungen der russischen Zentralmacht, wie in russischen Sprichwörtern auch ist: Der Versuch, den Begriff der Geschwindigkeit aus seinen Vermittlungszusammenhängen vollständig hinauszudestillieren, erwies sich, wie auch Kommentator Christian Noack bemerkte, als problematisch. Der entkontextualisierte Begriff der Geschwindigkeit ergab weniger Sinn, als es etwa der konkrete Begriff der Infrastruktur getan hätte. Cvetkovskis in der Diskussion geäußerte Befürchtung, die Behandlung konkreter Instanzen des Geschwindigkeitsdiskurses könne das eigentliche Thema verdecken, wurde umgekehrt wahr: Es verschwand in der Abstraktion.

Im Gegensatz dazu widmeten sich die folgenden Beiträge konkreten Akteuren. Julia Herzberg behandelt in einer Untersuchung des „Aushandelns eines besseren Russlands in Briefen und Autobiografien russischer Bauern.“ anhand von Autobiografien, die auf Aufforderung und mit Förderung des Ethnographen N. A. Rubakin geschrieben worden waren, die Veränderung des Persönlichkeitsbegriffs und der Vorstellungen einer gelungenen Lebenspraxis. In Absetzung zu den Konzepten der „neuen Politikgeschichte“, die entweder keine klare Trennung zwischen politischem und nicht-politischem Handeln leiste oder das Politische an eine Breitenwirksamkeit binde, strebte Herzberg an, anhand dieser Quellen die Unterschichten auch jenseits von öffentlichen Protesten als politische Akteure wahrzunehmen. Durch das Schreiben von Autobiografien hätten die Bauern (tatsächlich in der Mehrheit Wanderarbeiter) ihr Gruppen- und Gemeinschaftsgefühl und damit ihre soziale Identität neu bestimmt und auf diese Weise gleichzeitig einen Anspruch auf Mitsprache angemeldet. Auf diese Weise wurde in diesem sehr anregenden Beitrag tatsächlich versucht, politische Willensbildung in einem Bereich nachzuzeichnen, der jenseits sowohl staatlicher Institutionen als auch gesellschaftlicher Korporationen lag. Dass Herzberg dabei letztlich implizit doch auf einen Politikbegriff zurückgriff, der jenem des SFB sehr nahe kam, muss nicht als Nachteil gewertet werden. Schwerer wog der Einwand, auch das Projekt Rubakins könne als ein Eliteprojekt wahrgenommen werden, die Bauern einem Idealbild anzunähern, und sage folglich womöglich mehr über den Intelligenzijadiskurs aus, als über jenen der breiten Bevölkerung.

Ähnliche Einwände betrafen auch Alexander Kaplunovskiys Untersuchung in der er detailliert die Organisationsformen und Kommunikationsräume der Angestellten im russischen Zarenreich (1850–1906) nachzeichnete, in denen sich die Kategorie des „Angestellten“ stetig wandelte. Inwiefern aber etwa eine Institution wie der allrussländische Kongress der Angestellten, der sich 1896 in Nižnij Novgorod und 1898 in Moskau versammelte, sich auch wirklich jenseits des Staates und von unten herausbildete, und ob nicht vielmehr von einem social engineering durch das Handelsministerium gesprochen werden sollte (Noack), blieb in der Diskussion umstritten.

Behandelte Kaplunovskiy auch die Angestellten im Wesentlichen auf einer institutionellen Ebene, bestand das Ziel des letzten Panels darin, die „Praktiken und Räume des Politischen“ zu untersuchen. Marsil N. Farkhshatov stellte mit den Bittschriften der Muslime des Wolga-Ural-Gebiets in den 1870er–1890er Jahren das sehr instruktive Beispiel von Baškiren und Tataren vor, die als ethnisch-religiöse Minderheit nur geringe Möglichkeiten hatten, mit staatlichen Organen zu kommunizieren. Versuche der Zentralmacht, die muslimischen Schulen unter zentrale Kontrolle zu bringen, hatten jedoch eine Flut von Bittschriften zur Folge. Dabei argumentierten die Bittsteller besonders mit unterschiedlichen Rechtsnormen: den Reichsgesetzen, der Scharia sowie dem Gewohnheitsrecht, betonten aber gleichzeitig ihre Treue dem russischen Imperium gegenüber. Die Zentralmacht reagierte auf solche Proteste mit der Rücknahme oder Aussetzung der entsprechenden Gesetze; zuletzt fand man einen Kompromiss mit parallelen Schulmodellen.

Im Gegensatz zu dieser Untersuchung von Verhandlungen zwischen Zentralstaat und Peripherie, welche die Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft unangetastet ließ, strebte Kirsten Bönker in ihrer Untersuchung der „ultrarechten Akteure und Semantiken in der Lokalpolitik, 1905 bis 1914“ explizit einen Politikbegriff an, der bereits das Streben nach Macht im Kontext lokaler Selbstverwaltung und Vereine einschließt, sich also von den engeren zeitgenössischen Definitionen absetzt. Auch beanspruchte sie, die Politisierung von ihrer institutionellen Bindung zu lösen und sie vielmehr in lokalen Praktiken zu suchen. Am Beispiel einiger Saratover Kreisstädte zeigte sie auf, wie die Ultrarechten in der Lokalpolitik die bereitgestellten Ressourcen wie Parteienpolitik, Selbstverwaltungsorgane und Pressefreiheit für ihre politischen Ziele nutzten, ohne jedoch deshalb ihre radikalen Feindbilder, Symbole und Argumente aufzugeben. Dass Bönker dabei zivilgesellschaftliche Standards als Maßstab anlegte, stieß auf heftige Kritik des Kommentators Walter Sperling, der darin einen Rückgriff auf klassische sozialwissenschaftliche Kategorien sah, die durch den Begriff der „neuen Politik“ aufgewertet werden sollten. Auch Guido Hausmann bemängelte, die Akteure stünden von vornherein fest, wodurch Vorgänge der Politisierung und Depolitisierung aus dem Blickfeld gerieten. Diese Diskussion brachte nochmals die Grundfragen der gesamten Konferenz in den Fokus. Worin unterscheidet sich der politische Kommunikationsraum von dem traditionellen politischen Raum, der mit Verweis auf Institutionen und zivilgesellschaftliches Engagement beschrieben werden kann? Und wo bleibt, so Stephan Merl in seinem Abschlusskommentar, der Staat bei einer Behandlung der Politik jenseits von Autokratie und Gesellschaft?

Insgesamt erfüllte der Workshop mit diesen Diskussionen genau seinen Zweck: Über die Darstellung von Forschungsergebnissen weit hinausgehend rang man hier auf hohem Niveau um Grundbegriffe. Allerdings tauchte Weidners Vorschlag einer Versöhnung von Handeln und Struktur im Reader noch nicht auf, konnte also keine praktische Rolle spielen. Er hätte der Diskussion noch eine andere Richtung geben können: weg von einem teilweise heftig geführten Streit um die angeblich unhistorische Verwendung von Analysekategorien hin zu einer Untersuchung, wie Strukturen, die in diesen Kategorien beschrieben werden können, im historischen Kontext durch tägliches Handeln hergestellt werden.


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