Es mangelt nicht an soziologischen Diagnosen, denen es um das Spezifische gegenwärtiger Kultur- und Wirtschaftsbedingungen geht. Egal, ob von „spätmoderner“, „postfordistischer“, „Dienstleistungs-“ oder „Informationsgesellschaft“ gesprochen wird, stets schwingt ein analytisches Unbehagen daran mit, wie eine offensichtlich pluraler, globaler, dezentraler und virtueller werdende Gegenwart auf den Punkt zu bringen ist. Der in Arlington/Virginia lehrende amerikanische Regionalökonom Richard Florida hat jüngst den Begriff der „creative class“ ins Spiel gebracht 1. Anders als die „Klassen“ früherer Zeiten handelt es sich hierbei um hochmobile, gut ausgebildete, unternehmerisch denkende Individuen, wie sie etwa in den Medien und künstlerischen Branchen (inklusive Mode, Design und Werbung), an Hochschulen und in der Software-Entwicklung tätig sind. Zu bestimmen, was diese „kreativen Milieus“ und die aus ihnen hervorgehenden „Kulturindustrien“ ausmacht, ist eine Herausforderung für wissenschaftliche Analysen wie für (Standort-)Politik. Letztere wähnt hier ein attraktives Wachstumspotenzial, was bereits ein flüchtiger Blick in Hochglanzbroschüren oder Websites verdeutlicht, mit denen sich Städte, in spürbarer Konkurrenz untereinander, seit einiger Zeit sichtbar in Szene setzen.
Aber seit wann genau? Lässt sich die Ökonomisierung kultureller Techniken und Produkte nicht schon lange vor unserer Gegenwart antreffen? Waren Innovationen und ihre mediengestützte Vermarktung nicht das Fundament, auf dem die Wirtschaftsgeschichte in allen Epochen ruhte? Was war der spezifische Beitrag von Städten zur „cultural economy“? Zur Diskussion derartiger, unter Historikern bisher nicht im Zusammenhang thematisierter Fragen hatten Martina Heßler und Clemens Zimmermann in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung und mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung zu einer gut besetzten Tagung in englischer Sprache nach Saarbrücken eingeladen. Sicher werden in der angelsächsischen Forschung seit längerem „cultural consumption“ und „commodities“ auch für frühere Jahrhunderte thematisiert. Generell aber, so die Organisatoren in ihrer Einführung, werde in der Literatur allzu unbesehen und geradezu axiomatisch von einem „post-Fordistic leap“ in den 1980er Jahren ausgegangen, der den Blick auf frühere Erscheinungsformen von „Kulturökonomien“ verstelle 2.
Dabei wurde bald deutlich, dass heuristisch zentrale Begriffe wie „creative milieu“, „Bohemia“ oder „cultural industry“ äußerst verschieden verstanden und gefüllt werden können. In den insgesamt 18 Vorträgen machten sich die verschiedenen nationalen und disziplinären Hintergründe der Referenten bemerkbar, was den Dialog nicht immer unmittelbar erleichterte, mittelfristig aber große Chancen bergen dürfte. Empirisch wurden vor allem Städte in Großbritannien und Deutschland in den Blick genommen, daneben Venedig, Wien und Helsinki, sowie einige außereuropäische Fälle. Fünf verschiedene Zugangsweisen waren dabei zu erkennen.
1) Theoretisch-typologische Überlegungen: Birgit Metzger (Freiburg) trug Ergebnisse ihrer Diplomarbeit über „kreative Milieus“ in begriffsgeschichtlicher und wissenssoziologischer Hinsicht vor und empfahl eine Kombination der Ansätze von Ludwik Fleck und dem Forscherverbund GREMI 3. Paolo Capuzzo (Bologna) stellte in verallgemeinernder Absicht ein Drei-Phasen-Modell städtischer Kommerzialisierung und Konsumweisen seit dem 18. Jahrhundert vor, hauptsächlich festgemacht am Wandel der (Verkehrs-)Infrastruktur. Dagegen hinterfragte Jan Gert Hospers (Twente) in seinem Vortrag „What is the city but the people?“ – nicht ohne Ironie und jüngere Beispiele kritisch reflektierend – die Vorstellung eines plan- und steuerbaren „buzz about cities“, der auf „Markenbildung“ setzt, aber nicht von der Bevölkerung mitgetragen wird. Den Strukturwandel der letzten Jahrzehnte im Ruhrgebiet führte er hingegen als ein erfolgreiches Beispiel für die Ansiedlung von „creative industries“ an.
2) Städtische Soziabilität: Im chronologisch am weitesten zurück reichenden Beitrag der Tagung nahm Clemens Zimmermann (Saarbrücken) die Strukturbedingungen des Buch- und Kunsthandels in Venedig und London in der Frühen Neuzeit in den Blick. Die durch Korporationen und andere innerstädtische Netzwerke bestimmten Produktions- und Vertriebswege führten zu einem streng regulierten Markt auch für kulturelle Erzeugnisse, der in London im Laufe des 18. Jahrhunderts freilich immer offener wurde. Dass die spezifischen Rahmenbedingungen der „first industrial nation“ in Rechnung gestellt werden müssen, verdeutlichte auch das perspektivenreiche Paper des aus Krankheitsgründen verhinderten Peter Borsay (Lampeter/GB). Die von ihm seit längerem verfochtene These einer „urban renaissance“ im Großbritannien des 18. Jahrhunderts weit über die Kapitale hinaus untermauerte er mit dem Verweis auf Frühformen von „heritage, tourism and nature“ als genuin städtische Anliegen und Einnahmequellen. Wie sehr ein Jahrhundert später selbst das vermeintlich ganz von Fabriken geprägte Manchester ein dichtes Netz von „kulturökonomischen“ Einrichtungen (Presse, Clubs, Museen, Theater, Hotels, Restaurants, etc.) aufwies, legte Simon Gunn (Leicester) äußerst anschaulich dar. Alle drei Beiträge und die anschließenden Diskussionen machten in besonderer Weise deutlich, wie sinnvoll es für weitere Forschungen wäre, „Tiefenbohrungen“ in bestimmten Städten um dezidierte Vergleichsperspektiven zu ergänzen.
3) Stadtpolitik und städtische Festivals: Vier weitere Beiträge gingen stärker von den Städten als eigenständige Akteure aus. Helen Meller (Nottingham) unterstrich am Beispiel öffentlicher Grünflächen und Parks, dass es zumal in Großbritannien anfangs vor allem vermögende Privatpersonen waren, die sich durch die Überlassung und teilweise auch Gestaltung entsprechender Gelände als öffentliche Wohltäter profilieren wollten, während dies ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck und als Resultat städtischer Gewerbe- und Industrieausstellungen und generell gestärkter kommunaler Zuständigkeiten zunehmend auf politischen und stadtplanerischen Entscheidungen basierte.
Stark quantitativ und durchgehend komparativ angelegt war der Beitrag von Thomas Höpel (Leipzig) zur Kulturpolitik in Leipzig und Chemnitz sowie in Lyon und St. Étienne in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Unter Berücksichtigung singulärer Einrichtungen wie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst gelangte er zu dem Befund, dass in den beiden deutschen Städten ein höherer Grad an kommunaler Verantwortlichkeit existierte als in den französischen, die sich stärkeren Bestrebungen nach Nationalisierung und Privatisierung kultureller Projekte ausgesetzt sahen. Dagegen waren Leipzig und Lyon infolge ihrer Größe und Dynamik eher in der Lage, junge Medien wie das Kino oder Radiostationen zu fördern, während Chemnitz ca. 70% seines Kulturbudgets für das Theater aufwandte.
Weitgehend verloren ging die städtische Entscheidungsgewalt über kulturpolitische Initiativen unter dem faschistischen Regime in Venedig mit der Kunst-Biennale, seinem umgehend erfolgreichen Kino-Festival, und dem besonders lukrativen Casino. Die treibende Kraft hinter der Verstaatlichung der Tourismusindustrie war, wie Jan Andreas May (Berlin) darlegte, allerdings keineswegs eine ferne staatliche Bürokratie, sondern der seit Jahrzehnten vor Ort agierende geschäftstüchtige Graf Giuseppe Volpi. Obwohl dieser Magnat wohl am stärksten von den kulturellen Aktivitäten an der Lagune in den 1930er Jahren profitierte, sollte im Hinblick auf weitere Forschungen ganz allgemein die Frage Adam Smiths interessieren, in welchem Verhältnis zueinander private Interessen und öffentliche, i.e. städtische Vorteile daraus genau standen; anders etwa als die „Wagner-Festspiele“ wurden die venezianischen Festspiele ja weiterhin mit der Stadt, nicht mit herausragenden Künstlern, Impresarios oder Organisatoren assoziiert.
In einem weit ausholenden Referat wandte sich Jörn Weinhold (Weimar) der „reinvention of port culture as respectable maritime entertainments“ zu, die durch Aufwertung von Hafenpromenaden, der Einrichtung von Großaquarien und anderer Lehr- und Vergnügungsstätten – bis hin zum geplanten Hans Albers-Museum an der Hamburger Reeperbahn – in den letzten Jahrzehnten von den Städten zunehmend und vor allem im Hinblick auf eine kommerzialisierte Nutzung unternommen worden sei.
4) Private Initiativen in Städten: Diese auf der Tagung dominierende Zugangsweise zu städtischen Kulturökonomien kann hier nur in aller Kürze skizziert werden. So wurden Aspekte der Tourismusgeschichte beleuchtet, insbesondere der Produktion und Anpreisung neuer Bedürfnisse, sei es über Reiseagenturen, Verlagshäuser oder Hoteliers (Jill Steward/ Newcastle und Habbo Knoch/Göttingen); ferner die Schaffung neuer Stile, Moden und Blickweisen auf die Stadt, wie Chris Breward und David Gilbert (beide London) anhand der „swingenden“ Londoner Modeszene und ihrem kulturellen Umfeld in den 1960er Jahren, sowie Sandra Schürmann (Hamburg) in einem Überblick über das 20. Jahrhundert für Hamburger Fotografen in einem nicht immer gewogenen Umfeld zeigten. Bis in die jüngste Gegenwart hinein ragten schließlich die Referate von Giacomo Bottà (Helsinki), der sich der Rolle der – nicht stilistisch eingeengten – Popmusik-Szenen in Manchester, Berlin und Helsinki für die Anziehung eines breiteren Publikums zuwandte, sowie von Alexa Färber (Berlin), die den besonderen kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen für das Aufkommen und teilweise Fortbestehen von (Alternativ-)Kaufhäusern in Berlin und dem Selbstverständnis von „culturepreneurs“ ebendort nachspürte.
5) Wissenschaft und Technologie: Dass diese „Produktivkräfte“ zwar in aller Regel in Städten angesiedelt sind, aber prinzipiell über sie hinausweisen, verdeutlichten jeweils auf ihre Weise die Beiträge von Marjatta Hietala (Helsinki) und Martina Heßler (Offenbach). Erstere ging auf der Datengrundlage eines größeren Forschungsprojekts über die Auslandsaufenthalte finnischer Studenten und Professoren seit dem späten 19. Jahrhundert den „pull-factors“ akademischer Zentren wie Berlin, Paris oder Zürich nach und mithin eher der Wahrnehmung und Einschätzung bestehender kreativer Cluster. Die Mitorganisatorin der Konferenz konzentrierte sich hingegen auf die seit den 1950er-Jahren in und um München unternommenen Bestrebungen, „science cities“ und „creative milieus“ anzusiedeln und anzupreisen. Ihre insgesamt eher skeptischen Befunde zur „suburbanisation of science“ im „Municon valley“ galten weniger den Forschungsprojekten oder der Vernetzung Münchner Wissenschaftler als einer Periodisierung und Analyse der wissenschaftspolitischen und stadtplanerischen Zäsuren und Kontinuitäten.
Die Tagung machte deutlich, wie vielversprechend es sein kann, dem dynamischen und genuin interdisziplinären Forschungsfeld „Kulturökonomien“ historische Tiefenschärfe zu verleihen. Als besonders anregend erwies sich die Konfrontation verschiedener nationaler, thematischer und methodischer Ansätze. Die gezielte Erforschung von kreativen Milieus und Kulturökonomien in ihrem städtischen und stadthistorischen Kontext steht – zumindest in Deutschland – sicher erst am Anfang und täte gut daran, sich vorab auf ein strenges begriffliches wie methodisches Instrumentarium und auch auf bestimmte Gegenstandsbereiche zu verständigen, um der Gefahr der Konturlosigkeit einer „black box“ zu entgehen. Die derzeitige Aufmerksamkeit für die Thematik sollte jedenfalls nicht zur umstandslosen Rückprojektion heutiger Anliegen und Strukturbedingungen auf die Vergangenheit verleiten. Eine genaue Unterscheidung der Entstehungsbedingungen von „Kreativität“, etwa in den frühneuzeitlichen Zünften oder am Hof, ihrer möglichen Applikation und Vermarktung, verspricht eine bessere Einordnung des heutigen „city hype“, von der gerade die Stadtgeschichte nachhaltig profitieren könnte 4.
Anmerkungen:
1 Florida, Richard, The Rise of the Creative Class, and how it’s transforming work, leisure, community and everyday life, New York 2002; ders., Cities and the Creative Class, New York 2005.
2 Beispiele für einen weitgehend ahistorischen, gleichwohl breit rezipierten Zugang zu der Thematik wären: Scott, Allen J., The Cultural Economy of Cities. Essays on the geography of image-producing industries, London 2000; Landry, Charles, The creative city. A toolkit for urban innovators, London 2000; Hartley, John (Hrsg.), Creative Industries, Oxford 2005.
3 Akronym für: Groupe de Recherche Européen sur les Milieux Innovateurs. Eine wichtige Studie aus diesem Forschungszusammenhang: Camagni, Roberto (Hrsg.), Innovation Networks. Spatial Perspectives, London 1991.
4 Das Potenzial einer Historisierung von „Stadtmarketing“ seit dem 18. Jahrhundert am Beispiel Berlins auszuloten, war das Anliegen einer anderen interdisziplinären Tagung, deren Ergebnisse in Kürze publiziert vorliegen werden in: Biskup, Thomas; Schalenberg, Marc (Hrsg.), Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz zur Bundeshauptstadt (Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung Bd. 6), Stuttgart 2007.