Vom 12. bis 14. Januar 2007 fand im Robert-Schuman-Haus in Trier eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Fachtagung zum Thema „Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus - deutscher Protestantismus 1930-1950“ statt. Veranstalter waren das Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes (Lehrstuhl für Systematische Theologie, Prof. Dr. Lucia Scherzberg) und die Katholische Akademie Trier, Abt. Saarbrücken (Leitung Dr. Werner Müller). Sie knüpfte an die Ergebnisse einer vor zwei Jahren durchgeführten ersten Tagung zum Thema „Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich“ an. Standen dort katholische Kirche und katholische Theologie in Deutschland im Vergleich mit anderen Kulturwissenschaften im Zentrum des Interesses, so thematisierte die diesjährige Tagung vergleichend den französischen Katholizismus und den deutschen Protestantismus während und nach der Zeit des Nationalsozialismus.
In einer ersten Einheit wurden die verschiedenen Facetten des französischen Katholizismus unter und nach dem Vichy-Regime untersucht. Auftakt der Tagung bildete Lucia Scherzbergs (Saarbrücken) vergleichender Vortrag zum Thema „Katholische Reformtheologen in Deutschland und Frankreich“. Scherzberg zeigte auf, dass die Reformtheologen in Deutschland in der nationalsozialistischen Bewegung ein großes Erneuerungspotential sahen, welches sie für ihre eigenen kirchenreformerischen Vorhaben nutzbar zu machen hofften. Anknüpfungspunkte zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus wurden von ihnen vor allem im Bereich der theologischen Themen „Natur und Gnade“, „Kirche als Gemeinschaft“, „Begründung des Glaubens im Erlebnis“ und im Entwurf eines heldischen, männlichen Christusbildes gesehen. Diese Konzepte waren gegen die traditionelle neuscholastische Schule gerichtet. Neuscholastische Theologen orientierten sich dagegen eher an Vernunft und Naturrecht und näherten sich zaghaft einer Argumentation mit den Menschenrechten an – allerdings gab es auch unter ihnen Sympathisanten des Nationalsozialismus, deren Beweggründe jedoch in einer antiliberalen, traditionalistischen Haltung zu suchen sind.
In Frankreich scheint die Situation gerade umgekehrt zu sein: während die neuscholastischen Theologen das Vichy-Regime unterstützten, waren Reformtheologen wie Henri de Lubac, die die gleichen theologischen Konzepte wie ihre deutschen Kollegen vertraten, der „résistance spirituelle“ verpflichtet. Ist es den unterschiedlichen politischen Unständen geschuldet, dass die gleiche Theologie in Deutschland mit der Unterstützung des Nationalsozialismus einherging, in Frankreich dagegen mit dem Widerstand? Oder sind die „Anwendungen“ der Reformtheologie in Deutschland und Frankreich doch ähnlicher, als auf den ersten Blick scheint? Diese und ähnliche Fragen werden noch zu klären sein.
Nach dieser Einführung in die Problematik widmeten sich die folgenden Beiträge wichtigen Einzelfragen aus dem Bereich des französischen Katholizismus.
Etienne Fouilloux (Lyon) beschäftigte sich in einer detailreichen Untersuchung mit Archivmaterial, das die theologischen Rechtfertigungen der Haltung der Bischöfe zum Vichy-Regime skizzierte. Neben einer Vielzahl von privaten Stellungnahmen von Theologen zum Vichy-Regime, die nicht oder nur sehr oberflächlich theologisch argumentierten, zog Fouilloux fünf Texte zur näheren Untersuchung heran, denen er argumentatives Niveau bescheinigte (besprochen wurden Texte von Maurice Lesaunier, Erzbischof Collet, Antonin-Dalmace Sertillanges, Paul Coulet und Paul Doncoeur). Zur Begründung für die Unterstützung des Vichy-Regimes zog man Schrift, Tradition und Vernunft heran, wobei letzterer der höchste Stellenwert eingeräumt wurde.
Bernard Comte (Lyon) nahm in seinem Beitrag, der sich mit dem Engagement französisch-katholischer Theologen in der Résistance befasste, die andere Seite in den Blick. Untersucht wurde das Denken der Theologen der sogenannten „résistance spirituelle“ und dessen theologisch-philosophische Begründung. Als Schüler Maurice Blondels argumentierten sie mit der Bedeutung des freien Subjekts und den allen Menschen zukommenden, unveräußerlichen Personenrechten. Aus biblischer Perspektive lieferte die Einheit von Neuem und Altem Testament die Argumentationsgrundlage gegen den Antisemitismus. Dieser Widerstand verband in Frankreich Katholiken und Protestanten und gab somit auch ökumenische Impulse. In den theologischen Debatten der Nachkriegszeit waren die Folgen des „geistigen Widerstands“ noch spürbar.
Die beiden letzen Beiträge der ersten Einheit weiteten den Blick auf kulturhistorische und philosophische Problemstellungen.
Seth D. Armus (New York) griff die Debatte um den katholischen Personalisten Emmanuel Mounier auf, der maßgeblichen Einfluss auf französische Reformtheologen ausübte und der sich von einem eher nach der politischen Rechten tendierenden spirituellen Nonkonformisten vor dem Krieg zu einem Protagonisten des französischen Linkskatholizismus nach dem Krieg wandelte. Konstantes Element in seinem Denken blieb dabei der Antiamerikanismus.
In diesem kulturell aufgeladenen Antiamerikanismus sah Armus keine aus den politischen Umständen resultierende Position, sondern verortet ihn als zentrales Element in Mouniers Weltanschauung, das in die von ihm begründete theologisch-philosophische Strömung des Personalismus eingegangen ist und es Christen ermöglichte eine ebenso radikale Haltung einzunehmen, wie die Kommunisten. Darüber hinaus deutete er die kompromisslos antiamerikanische Haltung Mouniers der Nachkriegszeit als Kompensation: nachdem Mounier der nationalsozialistischen Bedrohung aus Deutschland nicht widerstanden hatte, bekämpfte er nun „ausgleichend“ die „amerikanische Bedrohung Europas“.
Emmanuel Faye (Paris) widmete sich den potentiell nationalsozialistisch aufgeladenen philosophischen Elementen in den Konzepten französischer Theologen. Er bezog sich dabei vor allem auf die in Frankreich stark rezipierte Philosophie Martin Heideggers, die Faye zufolge nationalsozialistische Elemente aufweist. Obwohl Heidegger dem Katholizismus feindlich gesonnen war, wurde er von katholischen Theologen breit rezipiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass seine anti-christlichen Schriften 1945 noch weitgehend unbekannt waren. Daneben waren es vor allem Freiburger katholische Theologen und Heideggerianer, wie auch französische Intellektuelle, etwa Max Müller oder Roger Munier, die sein Denken für den Katholizismus fruchtbar machten. Wichtige Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Vichy-Regimes haben darüber hinaus zur Heidegger-Rezeption in Frankreich beigetragen, so Jean Guitton, der Kontakte zu dem Heidegger-Schüler und nationalsozialistischen Philosophen Hans Heyse unterhielt.
Ergänzt wurde die erste Einheit um einen Beitrag der jüngst verstorbenen Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held, die aufgrund ihrer schweren Erkrankung bereits nicht mehr selbst an der Tagung teilnehmen konnte. Da sie der Tagung ihren Vortrag zukommen ließ, der stellvertretend verlesen wurde, konnte sie auf diese Weise anwesend sein. In ihrem Beitrag untersuchte sie am Beispiel von Paul Eluard und Henri Laurens die Konzepte von Weiblichkeit, wie sie die im Umkreis der Résistance entstandene Kunst prägten, und stellte sie in Gegensatz zu den Männlichkeitsidealen der durch die Nationalsozialisten propagierten Kunst.
Die zweite Einheit beschäftigte sich mit dem Protestantismus in Deutschland zwischen 1930 und 1950. Einführend unterschied Manfred Gailus (Berlin) drei Phasen der (kirchen)historischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit: von 1945 bis etwa 1970 eine konfessionsnahe von Theologen getragene Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung, in den Folgejahren bis ca. 1990 eine zunehmende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, einschließlich der Thematisierung von Tabus, seit etwa 1990 interdisziplinäre Neuansätze , die mit dem religious turn einhergehen. Gailus konstatierte, dass der Protestantismus seit etwa hundert Jahren in einer engen Verflechtung mit dem Nationalen gefangen sei und das Thema „Protestantismus im Nationalsozialismus“ in diesem Kontext gesehen werden müsse. Neuere Forschungen werden nicht umhin können, dem „christlichen Widerstand“ eine geringere und der protestantischen Anpassungs- und Tätergeschichte eine höhere Bedeutung einzuräumen. Das protestantische Sozialmilieu wird von Gailus als eine der „Haupteinbruchstellen der ‚Ideen von 1933’ in die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit“ bezeichnet. Die NS-Epoche stellte gerade keine Phase zunehmender Säkularisierung dar, sondern bedeutete im Gegensatz zur Weimarer Republik ein Erstarken des Religiösen.
Martin Leutzsch (Paderborn) legte eine äußerst detailreiche Skizze der Entwicklung und Verbreitung des „Mythos vom arischen Jesus“ vor. Die Geschichte dieses rassistisch aufgeladenen, antisemitischen Jesus-Bildes kann in vier Phasen eingeteilt werden. An die biologistischen Diskurse der Zeit anknüpfend, wurde bereits zwischen 1800 und 1870 unter führenden Intellektuellen (unter ihnen J.G. Fichte und A. Schopenhauer) die These vertreten, Jesus sei „rassisch“ kein Jude gewesen. Um 1860 wurde diese Idee um das Bemühen, Jesus als Arier zu klassifizieren, ergänzt. In den Jahren zwischen 1870 und 1918 erfolgte eine systematische Aufarbeitung und Verbreitung dieser Gedanken, die nun auch über breite Debatten in die Öffentlichkeit getragen wurden. Von 1918 bis 1933 diente der „arische Jesus“ als politisches Symbol des nationalsozialistischen Antisemitismus. Noch heute knüpfen einige neuheidnische Bewegungen, etwa die Mazdaznan-Bewegung, die Jesus noch immer als „Arier“ bezeichnet, an die völkischen Traditionen der Jahrhundertwende an.
Michael Hüttenhoff (Saarbrücken) betrachtete die Problematik der Verstrickung von Wissenschaft und Nationalsozialismus aus systematisch-theologischer Perspektive am Beispiel der Ekklesiologie Emanuel Hirschs. Grundlegend für Hirschs Ekklesiologie ist die Unterscheidung zwischen der unsichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden, die allein geistig verstanden wird, und der sichtbaren Kirche, die als Menschenwerk gilt und daher in ihrer Gestaltung rationalen Überlegungen und Notwendigkeitsfragen unterworfen ist. Aufgrund dieser Unterscheidung war es Hirsch möglich, eine kontextuelle Ekklesiologie bezogen auf den Nationalsozialismus zu entwerfen. Die Begriffe des Volkes und der Volkskirche entwickelte er ausgehend von seiner Lehre von den Geschichtsmächten, welche wiederum auf die evangelische Ordnungstheologie der 20er und 30er Jahre zurückgriff. Da die Kirche den Lebensmächten entsprechend Volkskirche sein müsse, habe sie auch die zeitgenössische Weltanschauung des Nationalsozialismus zu rezipieren, um einer Entfremdung vom deutschen Volk und dem daraus resultierenden Ende des deutschen Christentums vorzubeugen. Damit war auch die Übertragung des Arierparagraphen auf die Kirche zu rechtfertigen. Hüttenhoff vertrat die These, dass Hirschs deutschchristliches Konzept das „anspruchsvollste und damit intellektuell verführerischste“ gewesen sei, was er auf Hirschs genaue Kenntnis von Theologie und Philosophiegeschichte zurückführte, die es diesem erlaubten, systematische Lösungsansätze mit starkem theologie- und kirchenkritischem Potential zu liefern. Das Grundproblem liegt für Hüttenhoff in der Unterscheidung zwischen der unsichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden und der sichtbaren Kirche, die ein Vakuum schuf, das mit der nationalsozialistischen Weltanschauung gefüllt werden konnte.
Björn Krondorfer (St. Mary’s City) untersuchte die narrativen Konzepte einer Vergangenheitsbewältigung in Autobiographien protestantischer Theologen nach 1945 am Beispiel Helmut Thielickes. Er zeigte auf, dass die theologischen Konzepte der untersuchten Theologen um die Relativierung der Schuld und die Anklage des Leidens der Deutschen kreisten, die als Opfer qualifiziert wurden, ohne dass die Leiden der Opfer ihrer eigenen Taten je in den Blick gerieten. Krondorfer entwickelte aus seinen Untersuchungen die These, dass die 1945 ausgerufene „Stunde der Kirche“ und die mit ihr erhoffte Rechristianisierung des Abendlandes von einem Theologen wie Thielicke zugleich als eine Möglichkeit gesehen und etwa in Vorlesungen für junge Kriegsheimkehrer genutzt wurde, eine dezidiert maskuline Identität zurückzuerlangen.
Der abschließende Beitrag von Horst Junginger (Tübingen) rückte mit der Religionswissenschaft eine Nachbardisziplin der Theologie in den Fokus des Interesses und zeigte auf, wie sie im Nationalsozialismus in Konkurrenz zur Theologie trat und nach der Absorbierung nationalsozialistischer Vorstellungen diese an den Universitäten zunehmend zu verdrängen drohte. Das Studium der germanischen und indogermanischen Religion wurde darüber hinaus in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen verstärkt betrieben. Die Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens, die ab Mitte der 30er Jahre forciert wurde, kam der Religionswissenschaft zu gute, obwohl deren Engagement selten so weit ging, aktiv an der Ersetzung des Christentums durch einen Deutschen Glauben mitzuwirken. Besonders die antikatholische Haltung machte es der eher protestantisch dominierten Religionswissenschaft leicht, sich unter dem Nationalsozialismus zu etablieren.
In der Generaldebatte zum französischen Katholizismus wurde die Krise des liberalen Systems als gemeinsamer Kontext in Frankreich und Deutschland ausgemacht. Konzepte einer „wahren Gemeinschaft“ galten vor allem der jüngeren Generation als Lösung dieser Krise. In Frankreich kam es zu individuell sehr unterschiedlichen Konzeptionen einer „nationalen Revolution“, die auch ein Nacheinander oder sogar die Gleichzeitigkeit einer zustimmenden und ablehnenden Haltung zum Vichy-Regime möglich machten.
In den weiteren Diskussionen kamen insbesondere zwei Fragestellungen zur Sprache, die, wenn auch von einzelnen Beiträgen ausgehend, für die Gesamtthematik der Tagung relevant waren. So entstand im Zusammenhang der Analyse einiger Quellen zu Emmanuel Mounier eine lebhafte Auseinandersetzung darüber, ob die unter der Okkupation entstandenen Texte womöglich codiert seien. Trägt man eine solche Frage an die Texte heran, so wird sehr schnell deutlich, dass zu ihrer Beantwortung eine Vielzahl von Kriterien zu klären ist, etwa: Warum wurde codiert, was im Text ist Code und was authentische Aussage, und nicht zuletzt, wie ist der Code richtig zu entschlüsseln und worauf kann man diese Deutung stützen?
Eine weitere Problematik trat anhand der Beiträge zu Martin Heidegger und Emanuel Hirsch zu Tage: inwieweit kann ein theologisches oder philosophisches Konzept als intellektuell anspruchsvoll bezeichnet oder heute rezipiert werden, wenn der Autor zugleich in einigen Schriften Zeugnis von einer menschenverachtenden Weltanschauung gibt?
Zuletzt soll auf einen weiteren themenübergreifenden Aspekt verwiesen werden, der im Rahmen zukünftiger Überlegungen zur Vergangenheitsbewältigung wesentlich erscheint: die Gender-Thematik, die sich in der Verteilung der Geschlechter bei den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche ebenso zeigt, wie in einem übersteigerten Männlichkeitsideal in der NS-Ideologie oder bei den deutschen und französischen Reformtheologen, aber auch in weiblichen Gegenentwürfen, etwa in der Kunst der Résistance.
Die Beiträge werden in einem Sammelband im Schöningh-Verlag veröffentlicht.
Siehe auch den Tagungsband zur ersten Tagung „Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, Paderborn 2005 und den Tagungsbericht in der Online-Zeitschrift theologie.geschichte 1 (2006). <http://aps.sulb.uni-saarland.de/theologie.geschichte/inhalt/2006/04.html>