Vom 7. bis 10. Juni fand an der Babeş-Bolyai-Universität Cluj-Napoca eine Konferenz zum Thema „Der Kleine und der Große Lebensraum. Siebenbürgen und die Habsburgermonarchie 1848-1918“ („Centru şi periferie. Transilvania şi monarhia habsburgicǎ 1848-1918“) statt. In Zusammenarbeit der Babeş-Bolyai-Universität (Fakultät für Geschichte und Philosophie, deutsche Studienrichtung), der Biblioteca Austriaca Cluj-Napoca, der Academia Românǎ (Centrul de Studii Transilvane) und der Karl-Franzens-Universität Graz (Institut für Geschichte) gelang es, diesen internationalen Wissensaustausch erfolgreich unter der hauptverantwortlichen Leitung von Herrn R. Gräf und I. Bolovan zu organisieren und damit erstmals eine gemeinsame Plattform zu bilden, die einen offenen Meinungsaustausch im Hinblick auf neue Methoden und Forschungsansätze unterschiedlicher Wissenschaftstraditionen des deutschsprachigen (österreichischen), ungarischen und rumänischen Raumes ermöglichte. Kleiner und Großer Lebensraum – Zentrum und Peripherie sind dabei keineswegs als wertende Begrifflichkeiten einer größeren oder geringeren Bedeutung in diesen Zusammenhang zu sehen, wenngleich dies die vielleicht etwas missverständliche Gleichsetzung des deutschen und rumänischen Tagungsmottos suggerieren könnte.
Die Teilnahme von Forscher/innen der Eötvös-Loránd Universität Budapest, der österreichischen Akademie der Wissenschaften, des österreichischen historischen Instituts in Rom, der Universitäten Graz und Innsbruck zeugte nicht nur von einem wachsenden Interesse an diesem Raum seitens der österreichischen Geschichtsschreibung und Geographie per se, sondern auch von einem aktiven Willen, die traditionellen Beziehungsgeflechte dieser Region – besonders in der Zusammenarbeit mit rumänischen wie ungarischen Kollegen/innen – auf eine neue Diskussionsgrundlage abseits revanchistischer wie national überstrapazierter Geschichtspolitik zu stellen.
Der erste Block widmete sich dem Dorf und der Stadt Siebenbürgens als Kategorie eines geistigen Raumes. Die bis dato nur geringe Berücksichtigung des Dorfes als primärem Forschungsgegenstand stand insgesamt in keinem Verhältnis zur Betrachtung der Stadt als vermeintlich einzig aktivem wie prägenden Raumelement. Um jedoch zu einem integralen Verständnis Siebenbürgens zu gelangen, erscheint eine gesteigerte wissenschaftliche Aufmerksamkeit für den ländlichen (um einen weiter zu fassenden Begriff zu verwenden) Raum, in dem und von dem bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als 70 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten, unerlässlich. Zumal Siebenbürgen durch seine Siedlungsgenese wohl eine Reihe recht unterschiedlicher, städtischer Zentren aufweist, der ländliche Raum und damit das Dorf als unmittelbar der Familie nachgereihte Organisationseinheit eine wesentliche Rolle in der Modernisierung sowie deren Bewältigung im Gesamtraum einnimmt. Insbesondere H. Heppner (Graz) betonte im diese nicht neuen, aber meist unbewusst hingenommenen Defizite bzw. wissenschaftlichen Wahrnehmungslücken. S. Flavius (Iaşi) konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die Genese der Stadt als geistigen Aktionsraum und stellte die siebenbürgische Situation in einen gesamt- „mitteleuropäischen“ Kontext.
Wenn man das Dorf als eine wichtige, unmittelbar der Familie folgende Organisationseinheit Siebenbürgens bezeichnet, so ist die Kirche (bzw. die Kirchen) eine ihrer grundlegenden wie formenden Pfeiler. Die überaus heterogene Konfessionslandschaft Siebenbürgens geriet durch die Nationalisierung politischer Forderungen und deren Überlagerung von ungelösten sozialen Fragen zu einem Kernelement zwischen Modernisierung, Strukturwandel und dem Verlangen nach politischer Mündigkeit. Die Beiträge von S. Retegan, N. Bocşan (beide Cluj-Napoca) und A. Gottsmann (Rom-Wien) unterstrichen geradezu die Problematik konfessioneller Heterogenität dieser historischen Region. Der Zusammenhang zu den im 19. Jahrhundert sich zunehmend virulent darstellenden, „interethnischen“ Konflikten sowie ihrer nicht selten sozialen Wurzeln ständischer Ungleichheit bzw. die in steigendem Maße empfundene persönlichen Eingeschränktheit in der politischen Mitgestaltung weiter Bevölkerungsteile fanden ihre Aktionsbasis zunächst v. a. in durch die Konfession organisierten wie definierten Gruppen. Letztere begannen sich aber nach der Jahrhundertwende von der Religion verstärkt abzusetzen, ohne sie jedoch ganz aus ihrer Lebenswelt hinauszudrängen. Der aktuelle (kirchen-) politische Streit um die Frage der Restitution von Kircheneigentum nach 1989 bestätigt die anhaltende Diskussion um Identität und Selbstbestimmung sowie religiöser Zugehörigkeit.
Das dritte Panel versuchte neuerlich die Zusammenhänge in der Entwicklung des siebenbürgischen Raumes zum Gesamtstaat der Habsburgermonarchie herauszuarbeiten. Ein wesentliches Element kam dabei der im 19. Jahrhundert durch den Ausgleich mit der ungarischen Reichshälfte (1867) fest gefahrenen Verfassungssituation bzw. dem Wandel seit 1848 in der Gesamtstaatskonzeption zu (Urbanitsch, Wien). Dass trotzdem gerade persönliche Beziehungen einzelner Personen wie Gruppen zu Regierungskreisen in Wien in der national rumänischen Bewegung eine entscheidende Rolle spielen konnten, stellte L. Maior (Bukarest) am Beispiel der Gruppe um Alexandru Vaida Voivod zur Diskussion. Ebenso zu den maßgeblichen Faktoren politischer Kommunikation zu zählen sind aber auch zunächst oberflächlich betrachtet eher randlägige Entwicklungen wie das mehrbändige „Kronprinzenwerk“ (Österreich-Ungarn in Wort und Bild). Dessen bewusste Konstruktion eines geistigen (Parallel-) Raumes über gesamtstaatliche Visionen des Unum Totums besitzen nachvollziehbar einen erheblichen, langzeitig wirksamen Einfluss auf die Ideenwelt des Kleinen wie des Großen Lebensraumes, wurden bisher aber als solche von der Forschung kaum in Betracht gezogen (G. Barth-Scalmani, K. Scharr, Innsbruck).
Der letzte Block der Tagung legte seinen Schwerpunkt zunächst auf die Bedeutung der Modernisierung dieses Raumes durch den ökonomischen-technischen Wandel (etwa durch den Eisenbahnbau) und die damit enger werdenden Verflechtungen zwischen Gesamtstaat, Zentrum und Peripherie (P. Jordan, Wien). Dass der Einfluss geschichtspolitischer und nationaler Deutungsweisen im Hinblick auf Siebenbürgen und seine Historiografie in den vergangenen eineinhalb Dekaden zwar insgesamt im Abklingen begriffen ist, jedoch immer noch ein Hindernis in der gemeinsamen Betrachtung dieses vielfältigen Raumes darstellt, legte T. Pavel (Cluj-Napoca) in seinem Beitrag deutlich offen. Die geistige Modernisierung der Gesellschaft spiegelt sich vielfach im zeitgenössischen, konfliktgeladenen wie nationalen Diskurs der Epoche wider und setzt sich oftmals bis in die gegenwärtige Interpretation der Geschichte dieser Region fort. Der atmosphärische Wandel (A. Miskolczi, Budapest) während der Jahrhundertwende in Siebenbürgen zeichnet dabei ein ebenso facettenreiches wie auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen entstehendes Bild dieses Zeitraumes nach. Miskolczi rief dabei nachgerade die nicht selten als vernachlässigbar betrachtete Differenziertheit historischer Prozesse, wie etwa das Beispiel der Magyarisierung, ins Bewusstsein der gegenwärtigen Forschung.
Abschließend fand eine Präsentation dreier kürzlich erschienener Arbeiten statt, die inhaltlich starken Bezug auf das Rahmenthema der Tagung nahmen. R. Gräf besprach die Arbeit von H. Heppner („Reisen und Geschichte verstehen. Leitfaden für eine neue Weltsicht, Baumüller 2007“), sowie die ausgezeichnete Quellenstudie von L. L. Mádly („Vierhundertfünfzehn Tage in Wien. Das Tagebuch der Siebenbürgisch-Sächsischen Nationaldeputation 1850-1851, Presa Universitarǎ Clujeanǎ 2007). I. Bolovan übernahm die Vorstellung der Publikation von I. Bozac u. Th. Pavel („Die Reise Kaiser Josephs II. durch Siebenbürgen im Jahr 1773, Band 1, Cǎlǎtoria împǎratului Iosif al II-lea în Transilvania la 1773, vol. 1, Centrul de Studii Transilvane 2006).
Als besonders wichtig im Gesamtkontext der Veranstaltung ist wohl die aktive Teilnahme von Studenten der Babeş-Bolyai-Universität zu sehen, die durch ihr abschließendes Statement am Ende der Tagung gezeigt haben, dass eine ernstzunehmende, zukunftsgerichtete Diskussion des Kleinen wie Großen Lebensraumes Siebenbürgens im Speziellen, wie der Vergangenheit und Gegenwart dieses Raumes im Allgemeinen, gerade :durch und von der Einbindung der jüngeren Generation lebt und allein schon durch deren Hereinnahme ein notwendiges Korrektiv zu verkrusteten Traditionen bilden hilft.