Avantgarden und Politik

Avantgarden und Politik

Organisatoren
DGS-Sektion Kultursoziologie
Ort
Hannover, Sprengel Museum
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.06.2007 - 02.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Manfred Bolte, Shih-Ping Jwo

Im Sprengel Museum Hannover fand am 01./02. Juni 2007 die Jahrestagung der Sektion Kultursoziologie zum Thema „Avantgarden und Politik“ statt. Die Tagung wurde von Lutz Hieber (Hannover) und Stephan Moebius (Konstanz) organisiert. Das Ziel der Tagung bestand drin, die bislang zu wenig beachteten Beziehungen von Avantgardebewegungen und Politik vor ihrem gesellschaftlichen Hintergrund sichtbar zu machen. Hierfür wurden sowohl die Avantgardebewegungen der Zwischenkriegszeit (z.B. Dadaismus, Surrealismus) als auch der unmittelbar von diesen beeinflusste US-Postmodernismus in den Blick genommen.

In der Einführung stellten Lutz Hieber und Stephan Moebius die Genese der historischen Avantgarde vor, die gegen politisch-gesellschaftlichen Konservatismus und bildungsbürgerlichen Kunstbetrieb am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Ihr Ziel war die Zurückführung der Kunst ins Leben durch neue künstlerische Ausdrucksformen. Allerdings würden die Bestrebungen der Dadaisten und Surrealisten von unseren Museen in ihrer Ausstellungspraxis verfälscht. Im Gegensatz dazu, so die These, lebt die (Neo-) Avantgarde im Postmodernismus in den USA weiter. Im Anschluss an den Vortrag wurde das Manifest „Gegen die feierliche Stille im Museumssaal“ vorgestellt.

Die Tagung war in drei Themenbereiche gegliedert: 1. Historische Avantgarde, 2. frühe Postmoderne und 3. jüngere Postmoderne.

Nach einer Gedenkminute für die im Januar verstorbene Kunsthistorikerin Jutta Held wurde das Tagungsprogramm fortgesetzt.

Den ersten Themenbereich der Tagung eröffnete Götz-Lothar Darsow (Hannover) mit dem Thema „Der wahre Modernismus – Kurt Schwitters, der Müll und die Avantgarde“. Bei seiner Suche nach neuen Gestaltungsprinzipien verwendete Kurt Schwitters kunstfremde Materialen, nämlich Abfall und Müll der Industriegesellschaft. Er nannte es Merz – abgleitet vom Begriff „Merzler“=Trödler. Mit seiner Merz-Kunst thematisierte er das charakteristische Moment der Moderne in seinem künstlerischen Verfahren.

Ines Katenhusen (Hannover) stellte in ihrem Beitrag Alexander Dorner vor, der Leiter des Provinzial-Museums in Hannover war. Die von ihm 1930 aufgebauten Installationen (das Abstrakte Kabinett von El Lissitzky und der Raum der Gegenwart von Laszlo Moholy-Nagy) führte zu einem neuen Raumverständnis der Moderne. Ziel war es für Dorner, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überwinden, die das bürgerliche Zeitalter charakterisierte: Die Museen und die Kulturinstitute der Zukunft sollen als Ratgeber und Helfer des täglichen Lebens Kraft und politisch-soziale Verantwortung für die Menschen bringen.

Den künstlerischen Tanz zwischen Avantgarde und klassischer Moderne behandelte Ulrike Wohler (Hannover) am Beispiel von Anita Berber und Mary Wigman. In einem Vergleich wurden Mary Wigmann und ihr expressionistisch-pathetischer Tanzstil der Avantgarde-Tänzerin Anita Berber gegenübergestellt. Mit ihren Nackttänzen rebellierte Anita Berber gegen Prüderie, Tradition und bürgerliche Moral und demontierte das damals vorherrschende Idealbild weiblicher Schönheit, mit dem Ziel, eine erotische Ausdruckstanzkunst zu kreieren und zu etablieren.

Hermann Pfütze (Berlin) thematisierte die „Rückwege der Avantgarde in die Gesellschaft“. Historisch unterschied er zwischen drei Avantgarden, deren erste er von Cezanne bis zum futuristischen Manifest 1909 datierte, die zweite in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die dritte, die Neo-Avantgarde, auf die Epoche nach 1954. Die Avantgarden des 20.Jhd. seien politisch gescheitert, während ihre ästhetischen Neuerungen populär wurden in Werbung und Design, im Kunst- und Musikunterricht und in den elektronischen Medien. Anforderungen an Avantgardeunternehmen seien Entwürfe und Konzepte zur sozialen und ästhetischen Gestaltung künftiger Wirklichkeiten. Als Aufgabe der Avantgarde heute bezeichnete er Arbeit gegen die verkehrte Welt erfahrungsloser Totalverdigitalisierung und geistige Beweglichkeit trotz globaler Totalisierung aller Erfahrungen.

Über die konstruktivistische Internationale der 1920er Jahre referierte Ulrich Krempel (Hannover). Die Utopien der Künstler der frühen 20er Jahre zielten auf die Überwindung der Isolation der Künstler in einer Gesellschaft, in der neue Technologien und Organisationsformen der Produktion die alten und die gewohnten Arbeitsformen überrollten. Die ersehnte Vereinigung aller geistig Schaffenden war das Ziel und die mögliche Antwort auf die Zersplittertheit des künstlerischen Arbeitens und der künstlerischen Arbeiter und gipfelte in der Forderung: „Künstler aller Länder vereinigt euch“. Diese Utopien der 1920er hätten sich allerdings nicht eingelöst.

Stephan Moebius (Konstanz) ging in seinem Vortrag „Im Rausch der Revolution: Politik und Mythos bei André Masson und den surrealistischen Gruppierungen Contre-Attaque und Acéphale“ auf die surrealistische Avantgarde ein. Er zeigte, dass sich das politische Engagement der surrealistischen Avantgarde weder auf eine antibürgerliche Haltung reduzieren lässt noch eine kurzzeitige, von der »wahren« ästhetischen Praxis und den Kunstwerken der Surrealisten völlig abtrennbare Verirrung darstellt, wie dies in der Kunstgeschichte oftmals dargestellt wird. Kritisch gegen solche oberflächlichen Beurteilungen gewandt, vertrat Moebius die These, dass die Surrealisten angesichts der realhistorischen Probleme eine eigenständige, über eine antibürgerliche Attitüde hinausgehende politische Linie zu konstituieren versucht haben. Diese sei in ihren Manifesten, Flugblättern, Zeitschriften, öffentlichen Veranstaltungen und nicht zuletzt in ihren Werken zum Ausdruck gekommen.

Zum Schluss des ersten Tagungsblocks sprach Jessica Nitsche (Frankfurt) zum Thema „Revolutionäre Gebrauchswerte der Medien und der Kunst. Walter Benjamins Blick auf Avantgarde und Politik“. Walter Benjamin kommt im Kontext des Tagungsthemas eine Schlüsselrolle zu. In seinen medientheoretischen Schriften fordere er einen Funktionswandel der Kunst, die in gesellschaftliche Prozesse eingreifen solle. Hierbei verändere sich die Rolle des Künstlers, der Bilder und der Medien. Benjamin fordert, dass Medienumbrüche auch Umbruchsbewegungen der Kunst zur Folge haben müssten. Er postuliere ein radikal politisiertes Bildverstehen, gepaart mit der Forderung nach einer Politisierung der Kunst.

Den zweiten Themenbereich der Tagung eröffnete Caroline Hartge (Hannover) mit einer Vorstellung der Beat-Dichterin Lenore Kandel. Ihr Gedichtband „The Love Book“ (1966) wurde in den USA im Jahre 1967 zunächst gerichtlich als obszön verboten; das Verbot wurde erst 1973 aufgehoben. Sowohl in ihrer künstlerischen Arbeit als auch in ihrer Lebensführung (z.B. als Mitgründerin der Aktivistengruppe der „Diggers“ in San Francisco im Jahre 1965) versuchte sie, alternative Lebenskonzepte umzusetzen. Im Anschluss des Vortrags wurde folgende Gedichte von Kandel von Caroline Hartge und Kersten Flenter zweisprachig vorgetragen: There is a hole in my heart, God/Love Poem, First they slaughtered the Angels I + V und A Place to Stand.

Die psychedelischen Plakate in der Counter Culture war Thema des Vortrags von Lutz Hieber (Hannover). Das psychedelische Plakat ist ein Produkt der Hippie-Kultur San Franciscos. Am Beispiel der Künstler Wes Wilson und Victor Moscoso stellte Hieber dar, dass die psychedelische Bewegung als direkte Weiterführung der historischen Avantgarde, die aus Europa in die USA emigrierte, verstanden werden kann. In diesen Zusammenhang betonte er, dass auch die psychedelischen Plakate funktional seien, indem sie auf erhöhte Aufmerksamkeit durch veränderte Lesgewohnheiten abzielten.

In ihrem Beitrag „Test the West – eine popkulturelle Transformation der Arbus-Ästhetik“ stellten Thomas Köhler und Kathrin Feldhaus (Hildesheim) ihren Versuch vor, anhand des Bourdieuschen Ansatzes kulturelle Produkte zu untersuchen. Die Soziologie Bourdieus strukturiert das Feld als Ort der Auseinandersetzung um „Positionen und Dispositionen“ sowie „Visionen und Divisionen“. Durch die Gegenüberstellung einer Photographie von Diane Arbus mit der „Test the West“-Werbekampagne der Agentur „Scholz & Friends“ wurde dargestellt, dass ein Vergleich kultureller Produkte, die zu einander offensichtlich keine direkte Beziehungen haben, ohne den Feldbegriff nur schwer vollziehbar sei.

Tasos Zembylas (Wien) stellte mit Fallbeispielen ein Segment der Kunstkonflikte dar, nämlich die öffentlichen Konflikte, in die der Rechtsstaat unmittelbar involviert ist. Besonders betroffen seien Werke mit kritischen religiösen, sexuellen, politischen Inhalten und solche, die die Privatsphäre oder das urheberrechtliche Interesse anderer Personen verletzen. Das Augenmerk des Vortrags auf juristischen Dimensionen sollte hervorheben, dass die aktuelle Rechtslage aus soziologischer Sicht organisierten Einfluss auf die Form der Konfliktaustragung ausübt.

Das Thema von Douglas Crimp (New York) lautete „Action around the Edges: Using De-Industrializing New York in the 1970s”. Einige Stadtteile von New York durchliefen in den 1970er Jahren eine Phase der De-Industrialisierung. Zwei Gruppen von Menschen, nämlich Künstler (Delay Delay und Gordon Matta-Clark) und schwule Männer, versuchten aus den verlassenen öffentlichen Räumen (z.B. Piers im Hafen der West Side von Manhattan), die sich gerade in der Übergangssituation befanden, Nutzen für sich zu ziehen. Douglas Crimp lieferte ein Portrait dieser Epoche.

Am Beispiel des Musikers Beck behandelte Udo Göttlich (Duisburg) die Entwicklung der Populärkultur an der Wende zum 21. Jahrhundert. Becks Werk, mit seiner Verbindung zu der Fluxus-Bewegung durch seinen Großvater Al Hansen, gehöre dem „Mainstream der Minderheiten“. Unter dem Gesichtspunkt des „Art & Crossover“ sei in der Metamorphose des Pop (Massenboheme, Avant-Pop) das Ende populärkultureller Dissidenz zu diagnostizieren.

Im dritten und letzten Tagungsbereich skizzierte Carrie Moyer (New York), Mitgründerin der lesbischen Aktivistengruppe “Dyke Action Machine”, die Gay Liberation der 1990er Jahre in New York. Zur Verdeutlichung wurden Beispiele aus Aktionen (z.B. das Dyke-Manifesto, Werbungen und Plakate) und Projekten (z.B. das Web-Projekt „the girlie network“) diskutiert, die DAM durchgeführt hat.

Daran anknüpfend diskutierte Joy Episalla (New York) anhand von Bild- und Filmdokumentationen sowohl eigene Arbeiten wie auch solche, die in den Aktivistengruppen ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power) und “Fierce Pussy” einem Kollektiv lesbischer Künstlerinnen) entstanden waren. Die Verbindung von Kunst mit politischem Aktivismus hatte, so ihre Ausführungen, einen Höhepunkt in den Jahren von 1990 bis 1994.

Im Rahmen der Tagung wurde das Verhältnis zwischen Avantgarde, Postmoderne und Politik untersucht. Somit lieferte die Tagung einen zentralen Beitrag für jene historisch fundierte und kultursoziologisch informierte Theorie der Postmoderne, die in den USA entstand und bislang in Europa kaum angemessen rezipiert wurde.


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