Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert)

Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert)

Organisatoren
Nordost-Institut Lüneburg
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2007 - 06.10.2007
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Von
Detlef Henning, Nordost-Institut Lüneburg

Das Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. in Lüneburg, kurz Nordost-Institut, versucht seit 2003 im Rahmen regelmäßiger Jahrestagungen der Frage nachzugehen, inwieweit für die Geschichte West- und Mitteleuropas grundlegende historische Grundbegriffe auch für Nordosteuropa eine prägende Bedeutung besitzen.

Standen 2003 zunächst die Begriffe der „Fremdherrschaft und Kollaboration“ im Vordergrund und beschäftigten sich die Tagungen in den Jahren 2004 bis 2006 mit „Revolution“, „Nation und Sprache“ sowie „Kirche und Religion“, so setzte sich die diesjährige Veranstaltung mit dem Thema „Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert“ auseinander.

Im Anschluss an die Begrüßung der Tagungsteilnehmer durch den Direktor des Nordost-Instituts ANDREAS LAWATY und die Tagungsleiterin ANJA WILHELMI, führte zunächst WENDELIN SROKA (Berlin) mit einem Impulsreferat über „Theorie und Praxis schulischer Bildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts“ in die Thematik ein und wies auf die beiden wesentlichen Konzepte der philantropischen Erziehung auf der einen und der humanistischen Pädagogik auf der anderen Seite hin. Im Anschluss übertrug JAN KUSBER (Mainz) die Fragestellung in die nordosteuropäische Region des 19. Jahrhunderts, also die nordwestliche Peripherie des Russischen Zarenreiches (Finnland, Baltikum und Polen) mit den beiden russsischen Metropolen St. Petersburg und Moskau und fragte nach dem Stand der Historiographie zu Bildungskonzepten und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa.

In die Details des Schulalltages einer Eliteschule im Russischen Reich führte der Vortrag von VERA DUBINA (Frankfurt a.M./Samara), die anhand des St. Petersburger Internats für Rechtswesen Aufnahmeprozeduren, Alltagsrealität, Sprachenfragen, Lehrbücher und vor allem unterschiedliche „Erwartungshorizonte“ deutscher und russischer Eleven und zukünftiger Spitzenbeamten beschrieb. TRUDE MAURER (Göttingen) erweiterte in ihrem Beitrag „Universität und Stadt im Russischen Reich“ das gängig bekannte Gegenüber von Staat und Universität in Russland anhand der drei Universitäten Dorpat, St. Petersburg und Kazan zu einem Beziehungsdreieck, indem sie die besondere Rolle der Stadt und des städtischen Raumes für die Hochschulentwicklung betonte und die Beziehungen zwischen den Stadtverwaltungen und den jeweiligen Universitäten untersuchte.

Nachdem HARTMUT PETER (Halle a.d.S.) unter dem Motto „Migration als Strategie“ noch einmal eindrucksvoll den Strom russländischer Studenten an deutsche Hochschulen vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben hatte, arbeitete VIJA DAUKŠTE (Valmiera, Lettland) den engen Zusammenhang zwischen Bildungskonzepten und Agrarfrage bzw. Bauernbefreiung in den russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland heraus. Immerhin wiesen die Ostseeprovinzen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits eine Alphabetisierungsrate auf, die derjenigen Westeuropas entsprach und sich deutlich vom Inneren Russlands unterschied. MICHAEL GARLEFF (Oldenburg) skizzierte die Bildungsgeschichte der baltischen Ostseeprovinzen im Gymnasial- und Realschulbereich, wo man sich in erster Linie am deutschen klassischen Bildungsideal orientierte, sowie die Diskussionen um die Mädchenbildung, aber auch die Bildung der aufstrebenden estnischen und lettischen Bauernsöhne. Eine deutliche Zäsur bildeten die Jahre der sog. „Russifizierung“ der Ostseeprovinzen zwischen den 1880er Jahren und 1905. Erste Impulse zu einer umfassenden Schulbildung für estnische und lettische Bauern rühren zwar aus der Zeit der schwedischen Herrschaft im Baltikum, wie GVIDO STRAUBE (Riga, Lettland) in seinem Vortrag „Die kirchlichen Institutionen und die Bildung der Bauern“ ausführte, jedoch ist die Bildungsarbeit der Herrnhuter Brüdergemeinen im 18. Jahrhundert bedeutender, da sie auch die lutherische Amtskirche zwang, sich intensiver mit der Volksbildung auseinanderzusetzen.

DARIUS STALIŪNAS (Vilnius, Litauen) erläuterte die Auswirkungen der „Russification of the Primary Education in Lithuania and Belarus“ und die unterschiedliche Behandlung verschiedener nationaler Gruppen durch die russische Zentralregierung. So erfolgte der Übergang zur russischen Sprache an lutherischen Schulen im Unterschied zu den überwiegend von Litauern besuchten katholischen Schulen später, da letztere im Zusammenhang mit 1863 als „polnisch“ galten. In ihrem Vortrag „Bildungssystem – elementares Schulwesen – Zensur im Kongresspolen im 19. Jahrhundert“ wies EWA SKORUPA (Kraków, Polen) auf den Umstand hin, dass sich die polnische Muttersprache trotz Erziehung in russischer Sprache und Kultur nach 1863 als eine Art ideales Territorium erhalten habe, und die Polen die russischen Bemühungen um Integration mit verstärkter Bildungsarbeit beantworteten. Die dritte Teilung Polens 1795 behinderte zwar die dynamische Weiterentwicklung eines höheren polnischen Schulwesens, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der Nationalen Erziehungskommission begonnen worden war, trotzdem galt das Schulwesen in Polen, mit Unterbrechungen auch in polnischer Sprache, bis zu den 60er Jahre des 19. Jahrhunderts im Vergleich zum übrigen Russischen Reich als gut. Eine besondere Rolle spielten hierbei, wie ARKADIUSZ JANICKI (Gdynia, Polen) ausführte, die Universitäten von Wilna und Warschau („Polish Initiatives, Opinions and Needs for Development of Academic Education in Area of Western Guberniyas and Kingdom of Poland in the 19th Century“).

Die „Bildungsinitiativen des Rigaer Letten Vereines im Kontext seines nationalen Programms“ standen im Mittelpunkt des Vortrags von KRISTINE WOHLFART (Mainz). Der Verein bildete ab 1868 das Zentrum der lettischen Nationalbewegung, hatte zwischen 800 und 1.000 Mitgliedern und verfolgte insbesondere das Ziel, über Bildungsarbeit eine lettische Hochkultur als Bedingung nationaler Emanzipation zu entwickeln. BEATE FIESELER (Bochum) referierte die Entstehung eines mittleren Mädchenbildungswesens im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts, deren Anfänge bis in die Zeit Katahrinas II. reichen. Einerseits trat die eigentümliche Mischung aus Rückständigkeit und Fortschritt Russlands im Bereich der Mädchen- und Frauenbildung mit besonderer Schärfe hervor, andererseits übertraf die Zahl der Schülerinnen an Gymnasien im Jahre 1913 bereits die Zahl der Schüler deutlich und verdeutlichte den Erfolg zahlloser Privatinitiativen zur Hebung der Bildung des weiblichen Geschlechts. In Finnland war der Anteil der Frauen am Nationalbildungsprozess unübersehbar mit der Gleichstellung verknüpft und führte im europäischen Vergleich frühzeitig zu einer Stellung der Frau in der Gesellschaft, die in Europa als vorbildlich gilt. RALF MÜLLER (Hamburg) zeichnete diese Entwicklung von der ersten Mädchenschule in Wiburg/Viipuri bis zur ersten finnischen Hochschullehrerin nach („Aspekte der Frauen- und Mädchenbildung im Finnland des 19. Jahrhunderts“).

Der Verlauf der Tagung machte deutlich, dass auch Bildungsbegriff und Bildungskonzepte im Russland des 19. Jahrhunderts die Ambivalenz zwischen Beharren und Moderne widerspiegeln. Zusätzlich führten an Russlands multinationaler Peripherie nationale Gegensätze und westliche Einflüsse zu Eigenwegen auch in der Beantwortung bildungspolitischer Fragen, die später in die jeweiligen Bildungssysteme nationaler Staaten münden sollten.

Konferenzübersicht:

Programm:
Donnerstag:
Eröffnung der Tagung
Begrüßung: Andreas Lawaty und Anja Wilhelmi

Wendelin Sroka (Berlin): „Zur Theorie und Praxis schulischer Bildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts – eine Skizze“

Jan Kusber (Mainz): „Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen im Nordosteuropa des 19. Jahrhunderts. Historiografie und offene Fragen“

Bildungskonzepte und -initiativen in Russland
Vera Doubina (Frankfurt a.M./Samara): „Bildungskonzepte für eine ‚neue‘ Generation von Bürokraten: das St. Petersburger Internat für Rechtswesen als deutsch-russischer Kommunikationsraum“

Trude Maurer (Göttingen): „Universität und Stadt im Russischen Reich“

Hartmut Peter (Halle): „Migration als Strategie: Russländische Studenten an deutschen Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg“

Kommentar und Moderation: Jan Kusber (Mainz)

Freitag:
Bildungskonzepte und -initiativen in den Ostseeprovinzen des Russischen Reichs
Vija Daukšte (Valmiera): „Was sollte ein tüchtiger Bauer wissen? Diskussionen über Volksschulbildung in der Presse der 1930er und 1960er Jahre in Lettland und Estland“

Michael Garleff (Oldenburg): „Höhere Bildung in den Ostseeprovinzen. Aspekte der deutschbaltischen Bildungsdiskussion im 19. Jahrhundert“

Gvido Straube (Rīga): „Die kirchlichen Institutionen und die Bauernbildung in Liv- und Kurland“

Kommentar und Moderation: Ralph Tuchtenhagen (Hamburg)

Bildungskonzepte und -initiativen in Litauen und Polen
Darius Staliūnas (Vilnius): „Russification“ of the primary education in Lithuania and Belarus after 1863”

Ewa Skorupa (Kraków): „Bildungssystem – Elementares Schulwesen – Zensur im Kongresspolen des 19. Jahrhunderts“

Arkadiusz Janicki (Gdynia): „Polish initiatives, opinions and needs for development of academic education (university and technical) in area of Western Guberniyas and Kingdom of Poland in the 19th century“

Kristine Wohlfart (Kahl a.M.): „Die Bildungsinitiativen des Rigaer Letten Vereins im Kontext seines nationalen Programms“

Kommentar und Moderation: Wojciech Kunicki (Wrocław)

Sonnabend:
Mädchenbildungskonzepte und -initiativen
Beate Fieseler (Düsseldorf): „Spezifika des mittleren Mädchenbildungswesens im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts“

Ralf Müller (Hamburg): „Aspekte der Frauen- und Mädchenbildung im Finnland des 19. Jahrhunderts“

Kommentar und Moderation: Elke Kleinau (Köln)

Schlussdiskussion: Hans Hecker (Düsseldorf)


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