Europa denken im 18. Jahrhundert/ Imagining Europe in the 18th century

Europa denken im 18. Jahrhundert/ Imagining Europe in the 18th century

Organisatoren
Forschungszentrum Europäische Aufklärung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2007 - 22.09.2007
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Von
Dominic Eggel, Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI), Genève

Das 18. Jahrhundert wird oft als Meilenstein in der allgemeinen Bewusstwerdung Europas und seiner endgültigen Ablösung von älteren Denkmustern wie Christenheit oder Okzident angesehen. Für Heinz Duchhardt etwa besteht "gar keine Frage, dass sich um 1700 auf breiter Front ein Europabewusstsein durchgesetzt hat".1 In der Renaissance wurde Europa noch fast ausschließlich auf ihr mythologisches Abenteuer als sidonische Prinzessin mit Zeus reduziert, in elitären Zirkeln als geographische Einheit diskutiert oder aber in künstlerischen Kreisen in allegorischer Form auf Karten und Bildnissen mit Füllhörnern, Tempeln, Kompassen und Büchern ausgestattet. Wenn im 16. Jahrhundert de Lery oder Botero das Christsein noch als das nec plus ultra betrachten konnten, war für Voltaire oder Helvetius ‚Christenheit’ nur noch ein Schimpfwort.

Die Langzeitwirkungen der Entdeckungen, der Renaissance, der Reformation und schließlich der Aufklärung trugen dazu bei, dass die "respublica christiana" im 18. Jahrhundert, und dies sogar im allgemeinen Sprachgebrauch, definitiv durch Europa verdrängt wurde. Da die Nation im 18. Jahrhundert – und noch viel weniger der Nationalstaat – ihren späteren quasi-hegemonialen Status als kollektive Identitäten noch nicht erreicht hatten, stellte Europa durch seine Plastizität und Unbestimmtheit eine äußerst attraktive und variable Projektionsfläche dar. Heinz Gollwitzer spricht diesbezüglich von einem "Spannungsbogen Europa" und von der "Vielgestaltigkeit des Europabegriffs im 18. Jahrhundert".2

Damals wie heute war Europa ein heiß umstrittenes Konstrukt kollektiver Identität und die aktuellen Kernfragen über Europas Inhalt, Grenzen und politische Konstitution wurden bereits vor zwei Jahrhunderten mit ähnlicher Dringlichkeit formuliert. Das Studium der Europabilder des 18. Jahrhunderts und der Sattelzeit sollte deshalb nicht zuletzt auch dazu beitragen, die aktuelle Thematisierung und Instrumentalisierung Europas auf zivilisatorischer Ebene (man denke an die Debatten über den "Krieg der Zivilisationen" oder den Türkeibeitritt) besser zu verstehen und zu kontextualisieren.

Der vom Forschungszentrum Europäische Aufklärung (FEA) in Potsdam vom 20. bis zum 22. September 2007 durchgeführte Workshop befasste sich mit dem Thema "Europa denken im 18. Jahrhundert/Imagining Europe in the 18th century". Das Ziel war es, die Europabilder und Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts und der Sattelzeit in ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Dimensionen zu erörtern. Der interdisziplinär angelegte und zweisprachig gehaltene Workshop erfreute sich einer großen Resonanz und brachte schließlich zwölf Doktoranden/innen und Postdoktoranten/innen zusammen, welche die vom FEA zur Verfügung gestellte Plattform nutzten, um ihre Projekte und Promotionsvorhaben vorzustellen. Der Workshop erwies sich als äußerst fruchtbar und die lebhaften und anregenden Diskussionen mündeten in zahlreiche neue Einblicke und Erkenntnisse für die Erforschung der Europaidee.

Nach der Begrüßung und den einleitenden Worten der Organisatoren, Professor BRUNHILDE WEHINGER, Stellvertretende Direktorin des FEA und DOMINIC EGGEL, Gastwissenschaftler am FEA und Doktorand am Institut für Internationale Beziehungen in Genf (HEI), legte Professor GÜNTHER LOTTES, Direktor des FEA, mit seinem einleitenden Referat über die Grenzen in und um Europa eine ausgezeichnete Ausgangslage und Diskussionsbasis für den Workshop insgesamt vor.

In einem weit angesetzten geschichtsphilosophischen Überblick untersuchte Lottes Europas Außen- und Binnengrenzen, ausgehend von den Thesen Pirennes und dem Mittelmeer als Gründungsraum europäischer Identität. Dabei verwies er immer wieder auf die Plastizität und den konstruierten Charakter der geographischen, kulturellen und politischen Grenzen Europas, sowie die orientalischen Einflüsse, wie etwa die christliche Religion, die eine grundlegende Rolle in der Bildung einer europäischen Wertegesellschaft gespielt haben. Lottes legte besonderen Wert darauf, dass nicht nur die oft erwähnte Ostgrenze Europas lange Zeit unscharf blieb, und es immer noch ist, sondern auch die geographischen und politischen Grenzen gegen Südosten sowie im maritimen Bereich. Besonderen Nachdruck wurde auf die sprachlich, konfessionell und politisch determinierten Binnengrenzen Europas gelegt. Hier kam es Lottes vor allem darauf an, dass Europas Binnengrenzen oft verschoben wurden, dass aber niemals ein hegemoniales Konstrukt, sei es auf sprachlicher, religiöser oder politischer Ebene sich durchzusetzen vermochte und damit die Pluralität Europas gewährleistet blieb. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, so Lottes, kam dem europäischen Staatensystem als Raumordnungsprinzip eine immer größere Bedeutung zu, da mit dem Fortschreiten der Säkularisierung und dem Zurückdrängen der ottomanischen Feind-und Fremdkultur sich der Horizont zu einer pragmatischen Raumverteilung für Europa öffnete. Diese Bewegung mündete schlussendlich in der grossen "Herrschaftsrevolution", welche die Ablösung der Fürstensouveränitat durch Volkssouveränitäten mit sich brachte.

Als Auftakt zur ersten Sektion, "Europäisches Staatensystem, Institutionen und Friedenspolitik", referierte FRIEDRICH BEIDERBECK (Potsdam/BBAW) vergleichend über Saint-Pierres und Leibniz' Auffassung des Heiligen Römischen Reiches und dessen Vorbildfunktion in der Bildung eines auf Frieden basierenden europäischen Staatensystems. Bei Saint-Pierre in erster Linie als Föderativmodell in einer rational-abstrakten Erklärungsfunktion, begründete Leibniz die deutschen Verfassungsstrukturen, besonders ihren ausgleichenden und friedensstiftenden Charakter, als relevant für den gegenwärtigen Zustand Gesamteuropas, das sich zu einer dem Rechts- und Gleichgewichtssystem des Reiches vergleichbaren Ordnung verhelfen solle. Aus Beiderbecks anspruchsvollem Vortrag ging deutlich hervor, wie wichtig nationale Diskurse für Europaprojekte und Friedenspläne sind. Ging es dem Franzosen Saint-Pierre auch darum, die Habsburgische Macht zu begrenzen und die Reichstände gegen den Kaiser auszuspielen, setzte sich Leibniz für die Konsolidierung des Reichs und eine zentrale Rolle des Kaisers als Anführer des Christentums ein.

THEODORE CHRISTOV (UCLA) verteidigte mit seinem Referat über den Einfluss des Republikanismus auf die Europaideen und Friedenspläne des 18. Jahrhunderts die Ansicht, dass Europa nur in einem globalen Kontext zu verstehen sei. Es dürfe nicht unterschätzt werden, wie viel an Europa fremdbestimmt sei, etwa durch orientalische Einflüsse oder die Rückwirkungen von Europas maritimer Öffnung auf die neue Welt. Weiter hob Christov hervor, dass sich im 18. Jahrhundert mit Autoren wie Ferguson, Robertson oder Mandeville ein kommerzieller Republikanismus verbreitete, der darauf abzielte, Kriege durch kommerzielle Beziehungen zu delegitimieren und schliesslich zu ersetzen. Le "doux commerce" sollte die Sitten mildern und die interstaatlichen Beziehungen auf ein friedliches Terrain führen. Zum Abschluss wagte Christov einen Blick in die Zukunft und wünschte sich ein offenes, zukunftorientiertes und republikanisches Europa, wie es etwa Kant in seinem Entwurf zum ewigen Frieden konzipiert habe.

Die zweite Sektion befasste sich mit Archiven, Militär- und Kunstgeschichte. JAN FERNHOUT (Berlin) ging es um die Frage, inwiefern es im 18. Jahrhundert eine europäische Archivliteratur gab. Am Beispiel des oranischen Archivs im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin stellte er den Aufbau dieser Bestände vor und konnte zeigen, wie repräsentativ sie im europäischen Kontext waren. Dabei erläuterte er methodologische Betrachtungen, wie etwa die Ordnungs- und Katalogisierungskriterien des Archivs, und stellte gleichzeitig hinsichtlich der Inhalte die europäische Dimension und Verankerung des Archivs dar.

Anhand eines reich illustrierten und spannenden Vortrages verwies VOLKER MENDE (Cottbus) auf die europäische Dimension des Festungsbaus im Barockgarten des 18. Jahrhunderts. Ausgehend von der Frage "Was tut ein Wehrbau in einem Garten?" demonstrierte er, wie die Modellierung und der Nachbau von Festungen in Gärten des 18. Jahrhundert mit der zunehmenden Sinnlosigkeit von Festungsbauten im realen Kriegsgeschehen einher ging. Wurden in Bayreuth etwa ganze Seeschlachten mit glücklichem Ausgang gegen fiktive Türken inszeniert, spielten in England pensionierte Offiziere die Kriegsstrategien ihrer aktiven Zeit in ihren Gartenbauten nach.

Anhand zweier Beispiele, Friedrich Leopold Brunn, Lehrer in Karlsruhe und Kolmar, sowie dem Reiseschriftsteller Johann Erich Biester, schilderte CEM SENGUEL (Berlin) als Auftakt der Nachmittagssektion "Ideengeschichtliche Perspektiven auf Europa" die Allgegenwart nationaler Stereotypen im Europa des 18. Jahrhunderts. In seinem bunten und oft zum Schmunzeln anregenden Vortrag verkörperten ungeheure Moscoviten, sklavische Ungarn, raffgierige Engländer, weltfremde Schweizer, listige Griechen, wollustige Italiener und verschwenderische Franzosen die Vielfalt und Diversität Europas. Senguel ging es vor allem darum aufzuzeigen, welche Bedeutung Europa in Abgrenzung zum Wettstreit Preußens mit anderen europäischen Ländern zugesprochen wurde und wie Europa damit als Vorwand zum patriotischen Narzissmus missbraucht wurde. Senguel konnte überzeugend darlegen, wie weit das von ihm dargestellte Europa der Nationalstereotypen noch von einem politischen Europa der Nationen oder Nationalstaaten entfernt war.

In einem umfassenden Gang durch Schillers Werke stellte DOMINIC EGGEL (FEA/HEI) Schillers europäische Dimension dar. Während sich der Dichter geographisch in einer im 18. Jahrhundert noch vorherrschenden Nord-Süd Dichotomie bewegte, habe er als Historiker die Vergeschichtlichung Europas und die entscheidende Rolle der Reformation antizipiert. Die französische Revolution als Zäsur in Schillers Europadenken voraussetzend, schilderte Eggel wie Schiller noch in seiner "Antrittsrede" von 1789, in einer Art mimetischem Optimismus, die kosmopolitischen Ansichten der Aufklärer und deren Glaube an Europas zivilisatorische Überlegenheit teilte. Sich selbst als Weltbürger positionierend, missverstand Schiller Europa oft als das Universelle und er bekundete Mühe, auf andere Zivilisationen einzugehen. Aber spätestens nach der Enttäuschung über die Auswüchse der Revolution entwickelte Schiller eine eigenständige Europaidee, basierend auf den beiden Pfeilern einer radikalen ästhetischen Bildungsutopie, die eine moralische Revolution zu bewirken habe, und einem Festhalten an der Pluralität des europäischen Mächte- und Gleichgewichtssystems.

In ihrer subtilen Interpretation der "Briefe eines russischen Reisenden" von Nicolai Karamzin betonte SONIA KOROLIOV (Halle) die Wichtigkeit von Reiseberichten sowie eines Blicks von außen, etwa aus Amerika oder Russland, für die Europaidee des 18. Jahrhunderts. Auf seiner "Grand Tour" durch das "moderne Europa der Aufklärung", welche sich für Karamzin vor allem als solipsistische Odyssee entwickelte, führt der spätere russische Reichshistoriograph durch ein "Europa der Zitate" und Sehenswürdigkeiten, die seine illustren Vorgänger wie Rousseau oder Pope formuliert hatten. Sich als Kosmopolit und Friedensbefürworter ausgebend, reflektierte Karamzin über das Verhältnis seines Vaterlandes zu Europa und entpuppte sich mit zunehmender Entfernung von seiner Heimat immer mehr als russischer, allerdings nicht slavophiler Patriot. Im zugleich kolonisierenden und kolonisierten Blick des Fremden eröffnet sich so ein Europa des Fortschritts und der Stagnation, der kulturellen Blüte und des Niedergangs.

Die vierte Sektion, "Französische Europabilder", wurde eingeleitet durch CHRISTIANE COESTER (Berlin), die zurzeit an einem Projekt über "Europavorstellungen in der Frühen Neuzeit" arbeitet. In ihrem Vortrag über Voltaires Europabild im "Essai sur les Moeurs", konzentrierte sich Coester auf Schlüsselbegriffe wie etwa "sauvage", "barbare", "liberté", "supersition" und "lois". Mit Blick für die narrativen Strategien des Textes beobachtete Coester ein ständiges Schwanken Voltaires zwischen anthropologisch-universellen Kriterien und orientalisierenden Ansätzen, die einen dynamischen und freiheitsorientierten Okzident einem reifizierten Orient gegenüberstellten, dem es an Geschmack und "délicatesse" fehle. Schließlich aber, so die These, überwiegt doch der universelle Ansatz, da Voltaires Geschichtsphilosophie vor allem den Kampf zwischen Zivilisation und Intoleranz thematisiert; eine Trennlinie, die auch mitten durch Europa gehe, wie es Voltaires heftige Kritik an Europas eigenen "Barbaren" veranschaulicht.

In seinem anregenden und unterhaltsamen Beitrag interpretierte ROLAND ISSLER (Bonn) die Ode "C’est la Reine des Lys, l’amante des Bourbons" des französischen Dichters Ponce Denis Écouchard Lebrun (1729-1807). Der Vortrag, der Teil eines Promotionsprojekts zum Mythos des "Raubs der Europa" in den romanischen Literaturen ist, machte auf überzeugende Weise die Indienstnahme des Mythos zugunsten der Bourbonen deutlich. Im Sinne der historisch-politischen Konstruktion eines französisch dominierten Europas wurde daher Europa in einer Reihe von anthropomorphen Bildern nicht nur als bürgerliche und verwestlichte Figur dargestellt, sondern auch als blonde, strahlende Mutter ("mère superbe") der französischen Könige. Europas Lieblingssohn und Beschützer, Frankreich, trägt gleichzeitig zum Glanz der europäischen Wissenschaften und Künste bei. Issler zeigte auf überzeugende Weise, dass es Lebrun nicht so sehr um die erotischen Aspekte des Mythos ging, sondern vielmehr darum, in einer linearen Geschichtsauffassung, und mit Hilfe der "translatio imperii et studii", eine Legitimierung der Machtansprüche Frankreichs durch eine genealogische Abstammung von den Trojanern abzuleiten.

Die fünfte Sektion war dem Thema "Europabilder der deutschen Romantik" vorbehalten. CHRISTOPH SCHNEIDER (Freiburg) untersuchte Novalis provokative Schrift "Die Christenheit oder Europa" mit einem erfrischend neuen Blick und verortete sie in Bezug auf die Stellungnahmen der europäischen Romantik zu Europa. Dabei verwies er wiederholt auf die Schwankungen in Novalis’ Europaschrift zwischen Elegie, Prophetie und nüchterner Zeitkritik. Obwohl Novalis den triadischen geschichtsphilosophischen Dreischritt der deutschen Klassik übernahm, stellte er das Goldene Zeitalter provokativ ins Mittelalter. Es wäre aber falsch, so Schneider, in Novalis Europabild bloß ein rückwärts gewandtes, nostalgisches Klagelied zu sehen, da es manches liberale und fortschrittliche Element in sich berge. Schneider plädierte dafür, Novalis Text als eine spielerische Rede zu verstehen, in welcher der Autor unterschiedlichste Positionen einnimmt und sich bewusst einem "persuasiven Rollenspiel" hingibt. Auch wenn Novalis Schrift eine "Absage an die Politik" bleibt – erklärt sie doch sowohl die zahlreichen Friedensprojekte des ausgehenden 18. Jahrhunderts als auch den interstaatlichen Interessensausgleich für illusorisch – verbirgt sich in ihr trotzdem Hoffnung auf eine europäische Palingenesis und Versöhnung durch eine unmittelbare Glaubensoffenbarung.

Ebenfalls einen genuinen Forschungsbeitrag zur vieldiskutierten Frage des Europabilds der deutschen Romantik trug LEONHARD HERRMANN (Leipzig) vor. Seine These lautet: die Europa-Konzeptionen bei Novalis und den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel sind Teil eines umfassenderen historiografischen Projektes. Europa diene den Frühromantikern als Deutungskategorie, die die Konstruktion und Interpretation von "Geschichte" steuert. In diesem Sinne stelle Europa eine Norm dar, nach der unterschiedliche Elemente der Vergangenheit beobachtet, selektiert, rekombiniert und zu übergreifenden Narrativen verbunden werden. Europa avanciere vor allem deshalb zum Gegenstand von Geschichtsschreibung, weil man gerade hier einer als partikularisiert wahrgenommenen empirischen Realität eine idealistische Einheitsvorstellung entgegenstellen konnte, deren Ermöglichungsbedingungen auf transzendentalphilosophischem Wege zu erörtern waren. In diesem Sinne stellen, so Herrmann, die Geschichtswerke der Romantik "transzendentale Historiografien" dar.

MONIKA GRUCZA (Berlin) untersuchte in ihrem abschließenden Vortrag Europas Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert mit der asiatischen Alterität. Grucza betrachtet Asien, was den Reichtum an Referenzen anbelangt, als einzigen ebenbürtigen Kontinent Europas, was unter anderem von der Verwandtschaft und den gegenseitigen Einflüssen der europäischen und asiatischen Zivilisationen abzuleiten sei. Ausgehend vom Konzept der "vertrauten Fremde" ging Grucza den Vorurteilen und kognitiven Prekonzeptionen nach, welche Asienreisende und Missionare mit sich auf den Weg nahmen. Diese Reisenden bewegten sich beständig in einem kognitiven Spektrum zwischen unkritischer Bewunderung und plumpem Überlegenheitsdenken. Von zentraler Wichtigkeit sei aber, so Grucza, dass mit dem Stufenmodell im Zeitalter der Aufklärung alle Kulturen noch als zivilisationsfähig angesehen wurden, währendessen man im ausgehenden 19. Jahrhundert dann zu einem exklusiveren und teilweise rassistischen Europazentrismus überging.

Am Ende eines dichten und spannenden Workshops kam es erneut zu einer sehr engagiert verlaufenden Diskussion, in der einige Leitlinien, kontroverse Felder, Sackgassen und Herausforderungen der Europaideeforschung nochmals überdacht wurden. Auf der epistemologischen und methodologischen Ebene wurde betont, wie wichtig es sei, sowohl bei der diachronen wie auch der synchronen Erfassung von Europaideen auf philologische Präzision zu achten, die Dialogizität der Texte wahrzunehmen und, wo immer möglich, vergleichend Prä- und Paralleltexte heranzuziehen. Die Historisierung und Historizität der Europabilder sowie die Frage nach dem adäquaten Kontext wurde von den meisten Teilnehmern/innen aber ebenfalls als wesentlich erachtet.

Die Frage ob Europabilder des 18. Jahrhunderts hermeneutisch angegangen werden sollen, oder gar zu unserem eigenen Europaverständnis beitragen können, war heftig umstritten. Verfechter kontextualisierender oder textimmanenter Strategien warnten vor der Gefahr des Anachronismus, wo Verteidiger hermeneutischer Methoden einen fruchtbaren Dialog zwischen dem konzeptuellen Arsenal der Gegenwart und dem 18. Jahrhundert sahen. Auch der Identitätsbegriff war umstritten, da seine Wirksamkeit bezweifelt wurde und sich ihm gegenüber, wie auch sonst im akademischen Umfeld, eine gewisse Müdigkeit breit machte.

Einen Konsens gab es darüber, dass der Begriff Europa immer in seinem entsprechenden semantischen Netzwerk studiert werden sollte. Neben- oder Parallelbegriffe, wie etwa "Abendland", "Christenheit", "Okzident", "Christenheit", "Kosmopolitismus", "Reich", "Nation" oder "Patriotismus" spielen dabei eine wichtige Rolle. Brüche und Kontinuitäten im Europadiskurs des 18. Jahrhunderts auszumachen wurde ebenfalls als unentbehrlich angesehen. Diesbezüglich wurden mehrere Eckdaten wie etwa 1713, 1756, 1789, 1806, 1813 und 1815 vorgeschlagen und diskutiert. Ganz allgemein wurde die Wichtigkeit nationaler Traditionen im Bezug auf den Europadiskurs hervorgehoben und festgestellt, dass es im Bereich des transnationalen Vergleichs von Europaideen noch viel zu tun gibt.

Die von der neueren Historiographie vorgeschlagenen Methoden zur Erforschung von Europaideen, wie etwa Quentin Skinners Ansatz, Ideen als Argumente ideologischer Debatten zu betrachten, oder von einem Europa als Erfahrungs-oder Kommunikationsraum auszugehen, wurden als in der Theorie fruchtbar, in der Praxis aber als schwer umsetzbar bewertet. Schließlich wurde erkannt, wie wichtig es sei sowohl auf verschiedene geographische Verdichtungen Europas einzugehen als auch weiterhin die internen und externen Grenzen Europas als schwer festzumachende, aber aufschlussreiche politisch-historische Konstrukte zu hinterfragen. Geplant ist die Veröffentlichung der Beiträge in einem Sammelband der Reihe Aufklärung und Moderne beim Wehrhahn-Verlag in 2008.

Konferenzübersicht:

Europa denken im 18. Jahrhundert/ Imagining Europe in the 18th century

Begrüßung : Brunhilde WEHINGER, FEA
Eröffnung des Workshops: Dominic EGGEL, FEA/HEI

Eröffnungsvortrag :
Prof. Dr. Günther LOTTES, FEA: Die Grenzen in und um Europa

1. Sektion: Europäisches Staatensystem, Institutionen und Friedensprojekte

Friedrich BEIDERBECK, Potsdam : Leibniz und Saint-Pierre: Modelle europäischer Koexistenz und die Funktion des römisch-deutschen Reiches

Theodore CHRISTOV, UCLA : Beyond the rights of war and peace: the idea of Europe in the eighteenth century

2. Sektion: Diplomatie- und Militärgeschichte

Jan FERNHOUT, Berlin : Das oranische Archiv im geheimen Staatsarchiv preussischer Kulturbesitz Berlin – ein europäisches Archiv

Volker MENDE, Potsdam : Festung und Krieg im Barockgarten

3. Sektion: Ideengeschichtliche Perspektiven auf Europa

Cem Senguel, Berlin: «Der preußische Staat, der Glücklichste unter allen in Europa.»
Preußische Intellektuelle und ihr Blick nach Europa

Dominic EGGEL, FEA/HEI : Schiller: conceptualizing Europe at the threshold of modernity

Sonja KOROLIOV, Halle : Verlorene Größe und das Streben nach Glück: Europabilder in Nikolaj Karamzins «Briefen eines russischen Reisenden»

4. Sektion: Französische Europabilder

Christiane COESTER, Berlin : Der Europagedanke in Voltaires « Essai sur les mœurs »

Roland ISSLER, Bonn : « C’est la Reine des Lys, l’amante des Bourbons ». Das französische Europa des 18. Jahrhunderts und die translatio imperii et studii in einer Ode Ponce D. Écouchard Lebruns

5. Sektion: Europabilder der deutschen Romantik

Christoph SCHNEIDER, Freiburg: Europa als einheitlich-christlicher Kulturraum. Novalis’ Schrift «Die Christenheit oder Europa» von 1799

Leonhard HERRMANN, Leipzig : «Es waren schöne glänzende Zeiten...» Europa als historisches Deutungsmuster in der Frühromantik

6. Sektion: Europas Alteritäten

Monika GRUCZA, Berlin : Das Fremde als Herausforderung: Zur europäischen Asien-Rezeption an der Wende zum 19. Jahrhundert

Anmerkungen:
1 Duchhardt, Heinz, Europabewusstsein und politisches Europa – Entwicklungen und Ansätze im frühen 18. Jahrhundert am Beispiel des Deutschen Reiches", in: Buck, August (Hrsg.), Der Europa-Gedanke, Tübingen 1992, S. 120-131 hier S. 121.
2 Gollwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke: Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, hier S. 7f.

Kontakt

Forschungszentrum Europäische Aufklärung Potsdam, Am Neuen Markt 9d, 14467 Potsdam, Telefon: (0331) 2781 100; Fax: (0331) 2781 201, E-Mail: wehinger@rz.uni-potsdam.de


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