Lieschen Müller wird politisch: Partizipation von Frauen in Deutschland im 20. Jahrhundert

Lieschen Müller wird politisch: Partizipation von Frauen in Deutschland im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Workshop organisiert von Christine Hikel, Nicole Kramer und Elisabeth Zellmer
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.10.2007 - 17.10.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Reinhild Kreis, Universität München

„Nun wollen wir mal für das weibliche Wohl sorgen!“ Was ein kleiner Versprecher bei der Aufforderung zum Mittagessen war, fasste treffend einen erfolgreichen Workshop am Institut für Zeitgeschichte in München zusammen. Drei Nachwuchswissenschaftlerinnen (Christine Hikel, Nicole Kramer, Elisabeth Zellmer) hatten eingeladen, um über Partizipation von Frauen im 20. Jahrhundert zu diskutieren. Anders als Männer agierten Frauen nur selten in den klassischen Arenen von Partei und Parlament. Den Ansätzen der neuen Politikgeschichte folgend, sollten daher Frauen in den Blick genommen werden, die in „Institutionen, Organisationen und Bewegungen neben und unter dem Staat“ ihr Umfeld politisch aktiv gestalteten. Im Mittelpunkt standen der Prozess des Politisch-Werdens, die Räume und Situationen, in denen Frauen politisch tätig wurden sowie die ständig neu ausgehandelten Grenzen von Politischem und Unpolitischem.

In ihrem instruktiven Impulsreferat zeigte ELIZABETH HARVEY (Nottingham) auf, wie Partizipation und Nicht-Partizipation von Frauen unter verschiedenen Rahmenbedingungen als politisch oder unpolitisch wahrgenommen wurden. Unter der Leitfrage nach einer spezifisch weiblichen Typologie der Politisierung stellte Harvey vier Überlegungen zur Diskussion, die im Verlauf des Workshops immer wieder aufgegriffen wurden: 1. die wiederkehrenden Diskurse des 20. Jahrhunderts, in denen die politische Partizipation von Frauen an die „Not des Volkes / der Nation“ gekoppelt wurde und diese dann befördern oder hemmen konnten; 2. die Einbeziehung männlicher Akteure als Förderer oder Verhinderer weiblicher Partizipation; 3. die Frage nach den Räumen als Orte der Praxis politischer Partizipation von Frauen, aber auch als vorgestellte Räume der eigenen Spielräume und Möglichkeiten; 4. der Hinweis, nicht nur nach Mustern der Politisierung, sondern auch der Depolitisierung von Frauen zu fragen.

In der ersten Sektion zu „Frauen in Zeiten von Krieg und Verfolgung“ wurden zwei ganz unterschiedliche Formen weiblicher Partizipationsformen vorgestellt. SYLVIA ROGGE-GAU (Berlin) trug über Selbsthilfeorganisationen jüdischer Frauen zwischen 1933 und 1938 vor, die sich vor allem bei der Mädchen(aus)bildung und bei Auswanderungsfragen engagierten. Durch das NS-Regime anderer politischer Partizipationsrechte und -möglichkeiten beraubt, engagierten sich im Jüdischen Frauenbund auch viele Frauen, die schon während der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. Frauen sollten in die Lage versetzt werden, ihre schwierige Situation im NS-Staat aktiv zu meistern. Während das NS-Regime für einige Gruppen politische Partizipationsmöglichkeiten einschränkte und verhinderte, forderte er an anderen Stellen politisches Engagement geradezu ein. Am Beispiel der NS-Frauenschaft zeigte NICOLE KRAMER (München), wie das Regime Frauen aufforderte, sich im Rahmen der für sie vorgesehenen politischen Räume zu engagieren und dabei auch auf ein Partizipationsbegehren bei einem Teil der Frauen traf, die ihre neuen Möglichkeiten nutzten. In der NS-Ideologie waren Frauen nicht gleichberechtigt, sondern gleichwertig, das heißt ihnen wurden eigene Felder wie Haus und Familie zugewiesen, auf die ihr politisches Handeln bezogen bleiben sollte. Nur kriegsbedingt weiteten sich diese Bereiche aus, sodass Frauen z.B. im Luftschutz Aufgaben übernahmen, die zuvor als „männlich“ definiert worden waren.

Um „Frauen für Volk und Vaterland“ ging es in der zweiten Sektion, die CHRISTIANE STREUBEL (Bielefeld) mit einem Vortrag zum Ring Nationaler Frauen in der Weimarer Republik, dem Dachverband verschiedener nationalistischer und antidemokratischer Frauenorganisationen, eröffnete. Das Wahlrecht für Frauen 1918 eröffnete ganz neue Handlungsspielräume, und in der „Not des Vaterlandes“ nach dem Ersten Weltkrieg galt politische Enthaltsamkeit auch in konservativen Kreisen nicht mehr als Ideal. Am Beispiel politischer Journalistinnen des Rings Nationaler Frauen zeigte Streubel, wie politische Teilhabe von Frauen nicht etwa mit dem Gleichberechtigungsgedanken, sondern spezifischen (Not)Situationen, die besondere „weibliche“ Fähigkeiten verlangten, begründet wurde. Trotz der gestiegenen Partizipationsmöglichkeiten mussten sich Frauen ihren Raum erst erobern und erreichten kaum Gleichstellung. Ähnliches beobachtete CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg), der anhand politischer Feierlichkeiten weibliche Partizipationsformen im Nationalsozialismus untersuchte. Je höher die institutionelle Ebene, auf der solche Feiern stattfanden, desto weniger waren Frauen repräsentiert oder gar beteiligt. Auf lokaler Ebene war die Planung und Durchführung solcher Feste jedoch ohne Einbeziehung der Frauen kaum möglich. Hier war die Abweichung vom Ideal daher größer und der Partizipationsgrad von Frauen deutlich höher.

In der dritten Sektion rückte die Nachkriegszeit in den Mittelpunkt. Mit Inge Scholl stellte CHRISTINE HIKEL (Bielefeld) eine Protagonistin vor, die maßgeblich daran beteiligt war, dass mit Sophie Scholl eine politisch aktive Frau zu einer politischen Identifikations- und Abgrenzungsfigur wurde. Das über Inge Scholl vermittelte Bild ihrer Schwester prägte nicht nur die Erinnerung an die Weiße Rose, sondern auch ein Stück des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Inge Scholls Veröffentlichungen zur Weißen Rose wurden immer auch als politische Statements gesehen, und auch sie selbst war dabei stets von teilweise wechselnden politischen Intentionen geleitet. Eine wesentlich geringere Präsenz im öffentlichen Bewusstsein hatten die Kriegerwitwen in Westdeutschland nach 1945, über deren Partizipation ANNA SCHNÄDELBACH (Kassel) referierte. Diese Frauen blieben häufig im Schatten anderer Kriegsopfergruppen, machten aber durch Eingaben durchaus auf ihre Situation aufmerksam und forderten eine angemessene finanzielle Absicherung. Da sie unabhängig voneinander und nicht organisiert handelten, wurden an diesem Beispiel die Grenzen zwischen politischer Partizipation und individuellen Handlungsstrategien mit politischen Konsequenzen diskutiert.

Im Abendvortrag hatte MICHAEL SCHWARTZ (Berlin) bereits Schlaglichter auf die „Frauenpolitik im doppelten Deutschland“ in den 1970er-Jahren geworfen. ELISABETH ZELLLMER (München) zeigte zudem am Beispiel des Frauenforums München e.V., auf welche Weise Frauen in den frühen 1970er-Jahren die Öffentlichkeit suchten, um weiblichen Bedürfnissen einen angemessenen Platz zu sichern. An seine Grenzen stieß der Anspruch, dabei für alle Frauen zu sprechen, wenn ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Wege und Ziele der „Befreiung der Frau“ aufeinander prallten. Da der Vortrag von BEATE VON MIQUEL (Bochum) zur politischen Partizipation in evangelischen Frauenverbänden ausfallen musste, bildete das Referat von EVA SÄNGER (Frankfurt a.M.) den Abschluss. Sie zeigte für die DDR, welche Unrechtserfahrungen zum Auslöser der Frauenbewegung in den 1980er-Jahren wurden. Im SED-Regime blieben kirchliche, friedensbewegte oder lesbische Frauengruppen fragmentiert. In Nischen, konnten sie die informelle Sphäre aber teilweise auch durchbrechen. Im Zeitfenster von 1989/90 versuchte der neu gegründete Unabhängige Frauenverband, der sich dezidiert gegen das als konservativ empfundene Familien- und Frauenbild der Bundesrepublik richtete, Einfluss auf die Gestaltung der Wiedervereinigung zu nehmen.

Angeregt durch das Impulsreferat und vertieft in den Diskussionen zeigte sich immer wieder die besondere Bedeutung, die den Fragen nach den spezifischen Räumen, Ursachen und Formen der politischen Partizipation von Frauen zukommt. Die Wege und Ausprägungen dieser Partizipation konnten höchst unterschiedlich sein. Sie bildeten aber auch gewisse Konjunkturen aus, die in der Abschlussdiskussion unter den Begriffen einer ersten Frauenbewegung, deren Ziele eher in einer kollektiven Verbesserung der Frauenrechte lagen, und einer zweiten Bewegung, die das Individuum in den Mittelpunkt rückte, diskutiert wurden. Das Verdienst des Workshops ist es nicht nur, die Diskussion über Kategorien und Systematisierungsansätze über Formen politischer Partizipation generell angeregt und weitergebracht zu haben. Auch die weißen Flecken, die besonders bei der Untersuchung weiblicher Partizipationsforschung bestehen, haben an Kontur gewonnen und lassen gespannt erwarten, welche Ergebnisse weitere Forschungen auf diesem Gebiet erbringen.

Konferenzübersicht

Horst Möller: Begrüßung
Christine Hikel, Nicole Kramer, Elisabeth Zellmer (München): Einführung
Elizabeth Harvey (Nottingham): Was heißt „politisch werden“? Partizipationsformen und Partizipationsräume von Frauen in Deutschland im 20. Jahrhundert

Sektion 1: Mit Rat und Tat: Frauen In Zeiten von Krieg und Verfolgung
Moderation: Thomas Schlemmer (München)
Sylvia Rogge-Gau (Berlin): Jüdische Frauen in Selbsthilfeorganisationen 1933-1939
Nicole Kramer (München): Die NS-Frauenschaft an der „Heimatfront“: Zwischen Mobilisierung und Partizipation mit anschließender Diskussion

Michael Schwartz (Berlin):Frauenpolitik im doppelten Deutschland: Schlaglichter auf die Bundesrepublik und die DDR in den 1970er Jahren

Sektion 2: Ideen und Ideologien: Frauen Für Volk und Vaterland
Moderation: Edith Raim (München)
Christiane Streubel (Bielefeld): Antidemokratische Aktionen und Konzepte politischer Teilhabe. Der Ring Nationaler Frauen in der Weimarer Republik
Christoph Kühberger (Salzburg): Politische Feierlichkeiten und weibliche Partizipation im Nationalsozialismus mit anschließender Diskussion

Sektion 3: Vergangenes bewältigen, Neues beginnen: Frauen nach der ‚Stunde null’ Moderation: Sylvia Schraut (München)
Christine Hikel (Bielefeld): „Ein Mädchen – Symbol für Deutschland“: Inge Scholl und die Erinnerung an die Weiße Rose in der Bundesrepublik
Anna Schnädelbach (Kassel): „Haben Sie bedacht, Herr Minister, daß wir einen Menschen verloren haben?“ - Zur Partizipation von Kriegerwitwen in Westdeutschland nach 1945
mit anschließender Diskussion

Sektion 4: Mitsprache und Protest: Frauen auf dem Weg in die Zivilgesellschaft
Moderation: Christiane Kuller (München)
Beate von Miquel (Bochum): Aufbruch in die Demokratie. Politische Partizipation in evangelischen Frauenverbänden nach 1945 (entfallen)
Elisabeth Zellmer (München): „Danke für die Blumen – Rechte wären uns lieber“: Das Frauenforum München e.V. 1971 - 1975
Eva Sänger (Frankfurt/Main): Entwicklungsphasen der ostdeutschen Frauenbewegung in der DDR der 1980er Jahre mit anschließender Diskussion


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts