Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980

Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980

Organisatoren
PD Dr. Dominik Geppert (FU Berlin), Dr. Jens Hacke (HU Berlin) In Kooperation mit dem SFB 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.10.2007 - 13.10.2007
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Von
Saskia Kühn, Humboldt-Universität zu Berlin Susanne Kirchhoff, Humboldt-Universität zu Berlin

Vom 11. bis zum 13. Oktober fand an der der Humboldt-Universität zu Berlin die Tagung „Streit um den Staat. Intellektuellen Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980“ statt, die von Dominik Geppert und Jens Hacke in Kooperation mit dem SFB 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“ unter Förderung der Fritz-Thyssen-Stiftung veranstaltet wurde. Im Mittelpunkt stand die zumeist kritische Wahrnehmung und Bewertung des westdeutschen Staates in Intellektuellen-Diskursen. Die sechs Sektionen behandelten in chronologischer Folge verschiedene Stationen der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Staat in der Bundesrepublik – etwa im Rahmen der Spiegelaffäre, der Studentenbewegung, der Reaktionen auf die Notstandsgesetze, des Linksterrorismus' oder der Nachrüstungsfrage.

DOMINIK GEPPERT (Berlin) beschrieb das Staatsverständnis Linksintellektueller in der Frühphase der Bundesrepublik anhand der „Gruppe 47“. Deren verbindendes Element sei eher politischer als literarischer Natur gewesen. Das Signum der Heimatlosigkeit, mit dem sich die Gruppe gern selbst charakterisierte, habe sich dabei zum einen auf die Fundamentalkritik am bestehenden Staat bezogen – nicht unbedingt auf die Staatsform der Republik, aber doch auf deren konkrete Ausformung als liberale, kapitalistische, parlamentarische Demokratie, als konservativer, autoritärer und katholisch-klerikaler „Adenauerstaat“. Zum anderen sei aber auch die innere Distanz zur politisch organisierten Arbeiterbewegung gemeint gewesen, sowohl in der revolutionären Spielart, der KPD, als auch in deren evolutionärer Variante, der SPD. Gerade die Haltung gegenüber der SPD, so Geppert, habe die Gruppe gespalten und schließlich entzweit; dies wiederum bestätige die These von ihrem politischen Selbstverständnis, das vor allem durch Hans-Werner Richter geprägt worden ist.

FRANK BÖSCH (Gießen) sprach über den Einsatz von Intellektuellen für die Pressefreiheit in den 1960er-Jahren. Protest gegen die verhältnismäßig weit reichende Zensurpraxis in der frühen Bundesrepublik regte sich relativ spät und entzündete sich vor allem an der Spiegelaffäre. Nach Bösch waren die Journalisten hier treibende Kraft des Protestes, weit wirksamer als etwa Schriftsteller oder Professoren. Abschließend verwies er auf die Tatsache, dass nicht so sehr der Staat als vielmehr die kommerziellen Medien, besonders angebliche Meinungsmonopole wie die Springer-Presse, und damit letztlich die Selbstzensur der Presse, im Mittelpunkt der Kritik standen. In der Diskussion wurde die Spiegelaffäre übereinstimmend als zentrales Moment des Engagements für Pressefreiheit bewertet. Allerdings wurde von Constantin Goschler (Bochum) und Daniel Morat (Berlin) auch hervorgehoben, dass man sich davor hüten müsse, das Eintreten für Pressefreiheit lediglich unter emanzipatorischen Aspekten zu betrachten; auch Rechtsintellektuelle konnten sich dafür einsetzen und profitierten von einer Liberalisierung.

Der Politikwissenschaftler HELMUT KÖNIG (Aachen) referierte über Hannah Arendts kritische Sicht auf die Bundesrepublik. Arendts düstere Perspektive gründete sich auf der Einschätzung, dass kein deutlicher Bruch mit der NS-Vergangenheit vollzogen worden sei, wie die Kontinuität der Eliten in Politik, Justiz und Verwaltung sowie die Defizite der juristischen Aufarbeitung der NS-Herrschaft belegten. Arendt kritisierte die mangelnde Aufmerksamkeit für die demokratische Ordnung und die politische Öffentlichkeit. Das Erbe der totalen Herrschaft, welche durch den Einheitszwang eine Komplizenschaft aller Bürger befördert hätte, habe einen eklatanten Mangel an politischer Urteilskraft hinterlassen. Die Haltung vieler westdeutscher Intellektueller bezeichnete die Philosophin als Eskapismus, als eine Flucht in Gefühle und Sentimentalitäten. In der Diskussion wurde Arendt vorgeworfen, die Bedeutung der Institutionen und die integrative Kraft des ökonomischen Aufschwungs vernachlässigt zu haben.

HOLGER NEHRING (Sheffield) thematisierte das Staatsverständnis der Anti-Atombewegung: Kritik an der Atomwaffe wurde nach Nehring erstens von den Naturwissenschaftlern in der Göttinger Erklärung 1957 und zweitens von liberalprotestantischen Kreisen innerhalb der Kirche geäußert, außerdem resümierte er drittens das Engagement des Philosophen Günther Anders. Nehring beschrieb diesen Protest staatskritischer Intellektueller als den Wunsch nach einer nachgeholten „Stunde Null“, die Bundesrepublik sollte sich neu und zwar von unten her gründen. Naturwissenschaftler und Intellektuelle leisteten gewissermaßen Widerstand ex post und kompensierten damit ihr Verhalten während der NS-Diktatur. Günther Anders stellte das freie Handeln des Menschen in den Mittelpunkt jedes Engagements. Ihm ging es um die Rettung des Humanen angesichts der Apokalypse, doch trat Anders dabei – nicht untypisch für die Intellektuellen der frühen Bundesrepublik – für ein bürgerlich-moralisches Engagement ohne Staat ein. In der Diskussion wurde herausgestellt, dass eine grundsätzliche Staatsskepsis zu dieser Zeit auch deshalb vorherrschte, weil dem Staat angesichts der atomaren Katastrophe keine Gewährleistung der Sicherheit zugetraut wurde.

JOACHIM SCHOLTYSECK (Bonn) beschrieb die intellektuellen Debatten in der Hochphase des Kalten Krieges. Die Kubakrise und mehr noch der Mauerbau bewogen viele Intellektuelle zu einer schärferen Kritik am „Adenauerstaat“ bzw. zur Forderung nach einer Neuformulierung der westdeutschen Außenpolitik. Scholtyseck stellte eine gewisse Realitätsfremdheit der intellektuellen Kritiker heraus, welche die Errungenschaften der Adenauer-Ära und die Spielräume deutscher Politik verkannt hätten. Gegen Scholtyseck wurde argumentiert, dass Schriftsteller und Intellektuelle eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen benötigten und als frei schwebende Intellektuelle ein Recht auf „weltfremde“ Perspektive besäßen. Allgemein wurde festgestellt, dass Kritik und Katastrophenprognosen nicht vorschnell aufgrund der tatsächlichen historischen Entwicklung abgewertet werden sollten, auch weil jede Epoche eigene Rationalitätshorizonte entwickle.

In der nächsten Sektion ging es um die 68er-Bewegung und die damit veränderten Erwartungen an den Staat. Feststellbar ist hier eine deutliche Hinwendung zur Gesellschaft als Bezugspunkt des Politischen. Zu universitätspolitischen Fragen referierten RICCARDO BAVAJ (St. Andrews) und DANIELA MÜNKEL (Hannover). In Bavajs Vortrag stand die Reaktion der liberalen Hochschullehrer auf die Studentenrevolte im Vordergrund. Viele von ihnen wurden in ihrem politischen Selbstverständnis erheblich verunsichert, hatten sie sich doch bis dato als progressiv verstanden, während sie sich nun Seite an Seite mit Konservativen fanden. Dieser Wandel wurde an den „Konsensliberalen“ Erwin Scheuch, Kurt Sontheimer und Karl Dietrich Bracher dargestellt. Nachdem sie vor der Studentenbewegung Kritik am Staat geübt und Reformen gefordert hatten, sahen sie nun die Bundesrepublik von links bedroht und gaben ihre vormals staatskritische Haltung auf, um sich für die Verteidigung des Status quo einzusetzen.

Münkel beschrieb die Demokratisierung des Hochschulwesens Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre. Die Studentenrevolte habe nicht nur eine politische Polarisierung an den Hochschulen, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit verursacht. Der konservativ geprägte „Bund Freiheit der Wissenschaft“ reagierte auf die veränderten gesellschaftlichen Forderungen mit dem Ruf nach einem starken Staat und lehnte das „Experiment“ der Gruppenuniversität ab. Münkel kam zu dem Schluss, dass die Polarisierung nicht zur Gefährdung der Bundesrepublik geführt hätte, sondern zu ihrer Festigung, da der Prozess der Demokratisierung und Liberalisierung notwendig mit Auseinandersetzungen um die Bedingungen und Grenzen liberaler Demokratie verknüpft sei. Im Anschluss daran verwies Herfried Münkler (Berlin) auf verschiedene Reformbegriffe, mit welchen der Unterschied zwischen den ehemals liberalen Hochschullehren und der Studentenrevolte verdeutlicht werden könne: erstere bezögen sich auf einen technokratischen, letztere auf einen republikanischen Reformbegriff, der einen gewissen Grad an Unbestimmtheit brauche.

Anschließend referierte WOLFGANG KRAUSHAAR (Hamburg) über die Reaktionen linker Intellektueller auf die Notstandsgesetzgebung. Mit den Positionen der SDS-Theoretiker Hans Jürgen Krahl und Johannes Agnoli ging Kraushaar hart ins Gericht, erwies sich die Furcht vor einem neuen Faschismus doch schnell als ein „Phantom der Apo“. Im Plenum wurde darauf hingewiesen, dass die überhitzte Debatte leichter nachvollziehbar sei, wenn man sie als „Pubertätskrise der Bundesrepublik“ (Münkler) zwei Jahrzehnte nach Kriegsende begreife. PAUL NOLTE (Berlin) hob die Schlüsselfrage hervor, warum der Protest seine Impulse nicht von bürgerlich-demokratischer, sondern von sozialistischer Seite bezogen habe. Das tiefe Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat als trügerischem Gehäuse hätte dazu geführt, so Helmut König, das „System“ dem Vorwurf der Heuchelei auszusetzen.

In der vierten Sektion zeigten sich divergierende Befunde in Bezug auf die Präsenz des Staatsbegriffs im politischen und sozialphilosophischen Diskurs. In den 1960er-Jahren, so GABRIELE METZLER in ihrem Vortrag, sei das Leitbild des aktiven planenden Staates sehr präsent gewesen. Die Hinwendung zur Idee der Planung habe sich schon seit dem Ende der 1950er-Jahre abgezeichnet. Hierbei hätten die Verbreitung des Industriegesellschaftsparadigmas, die zunehmenden Bedeutung eines Expertenregimes für politische Entscheidungsfindung und die gesteigerte Komplexität der technischen Nebenfolgenabschätzung eine besondere Rolle gespielt. Planung habe eine stärkere Effizienz und verbesserte Transparenz staatlichen Handelns ermöglichen sollen und sei – zumindest in der Ära Brandt – Ausdruck einer holistischen Demokratiekonzeption gewesen, um Lebensqualität und die Leitidee einer mündigen Gesellschaft durchzusetzen.
Zum Ende der Planung als Paradigma staatlichen Handelns hätten Überforderungserfahrungen hinsichtlich der finanziellen Mittel des Staates ebenso beigetragen wie die Komplexität der Problemfelder und Einsicht in die mangelnde politische Neutralität von Experten. Auch wenn die eigentliche Phase der Umsetzung der Planungsideen nur kurz währte, so hätte ihre Verbreitung doch zu einer irreversiblen Transformation des Staatsverständnisses in Bezug auf seine Gestaltbarkeit und die von ihm erwartbaren Leistungen geführt.

In der soziologischen Theoriebildung der 1960er-Jahre hingegen wurde der Begriff des Staates durch den Letztbegriff der Gesellschaft als zentrale Kategorie abgelöst, wie CLEMENS ALBRECHT herausarbeitete. War der Staat ehemals – hegelianisch verstanden – die Avantgarde der gesellschaftlichen Gestaltung, so setzte sich laut Albrecht nach und nach eine rein funktionale Sicht des Staates durch. Die Konzepte der Industriegesellschaft und des Spätkapitalismus hätten sich dabei als zwei lediglich unterschiedlich akzentuierte Formen des Staatsverschwindens in theoretischer Hinsicht erwiesen. Aus der Perspektive der Soziologie, aber erstaunlicherweise auch in der deutschen Staatsrechtslehre habe es bald keinen Streit mehr um den Staat gegeben, sondern nur noch um die Gesellschaft. Getrieben von einer allgemeinen „Euphorie des Sozialen“ begriff sich die Bundesrepublik laut Albrecht nur noch als Gesellschaft. Damit einher gingen eine Entpersonalisierung von Herrschaft und ein „entmoralisierte Auslieferung an das Tatsächliche“.

In der nächsten Sektion ging es um die konservative Wende in den 1970er-Jahren und ihre Ursachen. RÜDIGER GRAF (Bochum) fragte nach der Reaktion der konservativen Intellektuellen auf die ökologische Frage. Die westdeutschen Konservativen teilte er in vier Gruppen, die sich unterschiedlich dazu positionierten: Der Verweis auf das ökologische Argument hatte bei den „Tendenzwende-Konservativen“ eher instrumentellen Charakter, damit wurde eine vermeintlich progressive Politik kritisiert und zur Bewahrung des Bestehenden aufgerufen. Die „Öko-Konservativen“ hingegen forderten eine Widergewinnung der Einheit von Natur und Mensch. Diese wurden von den „Hardcore-Cons“ als Romantiker zurückgewiesen, Energiepolitik stand hier über Umweltpolitik. Bei den „Neokonservativen“ wiederum verzeichnete Graf eine gewisse Öffnung für die ökologische Problematik, plädierte jedoch abschließend für eine Relativierung der These des Stellenwertes des ökologischen Argumentes für die konservative Tendenzwende.

JENS HACKE (Berlin) nahm Krisengefühle unter Intellektuellen in den 1970er-Jahren auf linker wie konservativer Seite in den Blick. Auf der Linken diagnostizierten insbesondere Jürgen Habermas und Claus Offe eine Legitimationskrise des Staates, die sich in der zunehmenden Entkopplung von Staat und Gesellschaft bemerkbar machte. Konservative sahen die parlamentarische Demokratie ebenfalls gefährdet und sorgten sich um die abnehmende Rationalität und Effizienz politischer Entscheidungen. Ende der 1970er-Jahre verschwanden diese grundlegenden Bedrohungsszenarien aus der öffentlichen Debatte; das lege den Schluss nahe, so Hacke, dass es sich retrospektiv womöglich eher um eine Verständigung über die bundesrepublikanische Identität als um die Erörterung realer Sachprobleme gehandelt habe.

Das Thema der abschließenden Sektion war das Staatsverständnis der Linksintellektuellen. Die Bewertung von Gewalt und Terrorismus im Verhältnis zum Staat in den 1960er- und 1970er-Jahren bildete das Thema des Vortrags von JÖRG REQUATE (Bielefeld). Anhand von Gewalt- Darstellung in Filmen führte er exemplarisch den Übergang von einer surrealen Ästhetisierung von Gewalt (etwa in Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“ von 1969) zu trüberen Perspektiven vor, wie sie beispielsweise in Rainer Werner Fassbinders Beitrag zu dem Gemeinschaftswerk „Deutschland im Herbst“ von 1978 vorherrschten. Gleichzeitig versuchte eine kritische Linke, Terrorismus als Folge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu begreifen. Diese intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Terrorismus wurde von Konservativen mit dem Vorwurf des Sympathisantentums belegt. Doch schon ab etwa 1972 begann Requate zufolge eine Umorientierung in der Linken hin zu konkreten, thematisch begrenzten politischen Aktionsformen, die ihren Ausdruck in den Neuen Sozialen Bewegungen fanden. Weiterhin habe sich die Annäherung der zuvor streng staatskritischen Linken auch in einer neuen Wertschätzung bürgerlicher Freiheitsrechte durch die Verfassung gezeigt. Staatliche Maßnahmen wie der Radikalenerlass oder die Rasterfahndung bis hin zur Volkszählung seien nun Gegenstand einer neuen bürgerrechtlichen Debatte geworden.

Den Wandel des Staatsverständnisses linker Intellektueller in den 1980er-Jahren erörterte anschließend KLAUS NAUMANN (Hamburg) anhand der Nachrüstungsdebatte in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik". Dabei fand laut Naumann bei aller Systemkritik implizit eine Anerkennung des liberalen Rechtsstaates statt, indem Kritik als Inanspruchnahme bürgerlicher Freiheitsrechte geübt wurde, auch wenn diese Zeitschrift aus Mitteln der SED finanziert wurde. Das Staatsbild habe in Bezug auf die Handlungsmächtigkeit zwischen dem schwachen Staat als bloßer Agentur von Wirtschaftsinteressen und einem starken Staat geschwankt, dem z. B. in Bezug auf die Nachrüstung Souveränität zugeschrieben wurde.

Im Rückblick erscheinen manche Auswüchse der vehementen Staatskritik und die Untergangsszenarien der vergangenen intellektuellen Debatten überdramatisiert. Kritik am Staat ist Bestandteil eines jeden demokratischen Gemeinwesens, auffällig in der westdeutschen Geschichte ist jedoch die Radikalität der intellektuellen Debatten bis in die 1980er-Jahre. Berücksichtigt man jedoch den historischen Kontext, so finden sie durchaus ihre Begründung in der Furcht vor einem autoritären Staat aufgrund der sowohl ideologisch als auch personell mangelnden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die damalige größtenteils linke Fundamentalkritik an der Bundesrepublik scheint aber nicht nur verständlich, sondern möglicherweise auch notwendig für eine Stabilisierung wie Demokratisierung gewesen zu sein. Stefan Reinecke schlussfolgerte in seinem Konferenzbericht: „Die Selbstanerkennung der Bundesrepublik verlief auf dem Wege ihrer radikalen Infragestellung“.1

Die großen Hoffnungen, welche zugleich in die „Gesellschaft“ gesetzt wurden, verdeutlichen dabei die Distanz zur Bundesrepublik als Staat. In diesem Zusammenhang wären für eine genauere Analyse nicht nur eine Unterscheidung zwischen Wissenschaftsdiskursen und den Diskursen der politischen Praxis hilfreich gewesen, sondern auch die genauere Differenzierung linker Positionen (Intellektuelle, WissenschaftlerInnen, politisch Etablierte und soziale Bewegungen). Auf theoretisch-intellektueller Ebene stand der Begriff der Gesellschaft sicherlich im Mittelpunkt der Überlegungen, bei der konkreten politischen Handlungspraxis, z. B. der Neuen Sozialen Bewegungen, blieb der Staat jedoch eine wichtige Bezugsgröße. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei der Forderung von Seiten linker Politiker, Bewegungen und auch Intellektueller an den Staat, die Gesellschaft vor einer Übermacht der Ökonomie zu schützen. In einigen Tagungsbeiträgen zwar angesprochen, jedoch eher vernachlässigt wurde die Wechselwirkung konservativer und linker Kritik. Gelungen ist der Tagung ein breiter Überblick der unterschiedlichen kritischen Positionen, wodurch der Prozess der Selbstanerkennung der Bundesrepublik für weitere Debatten fruchtbar gemacht wurde.

Konferenzübersicht:
Dominik Geppert, Jens Hacke: Einführung

1.Sektion:
Dominik Geppert (Marburg/Berlin): Alternativen zum Adenauer-Staat. Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik
Helmut König (Aachen): Hannah Arendt, die NS-Vergangenheit und die Bundesrepublik
Frank Bösch (Marburg): Die Intellektuellen und die Pressefreiheit
Constantin Goschler (Bochum): Kommentar und Moderation

2. Sektion:
Holger Nehring (Sheffield): Die nachgeholte Stunde Null: Plädoyers für einen anderen Staat in der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ und in der Ostermarschbewegung, 1957-1964
Joachim Scholtyseck (Bonn): Mauerbau und Kubakrise. Die westdeutschen Intellektuellen und die geistig-politischen Auseinandersetzungen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges
Wolther von Kieseritzky (Berlin): Ostpolitik in der Debatte
Manfred Görtemaker (Potsdam): Kommentar und Moderation

3. Sektion:
Riccardo Bavaj (St. Andrews): Liberale Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967/68
Wolfgang Kraushaar (Hamburg): Das Gespenst von einem „neuen 33“. Linke Intellektuelle angesichts der Notstandsgesetzgebung
Daniela Münkel (Hannover): Debatten und Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschule in den sechziger und siebziger Jahren
Herfried Münkler (Berlin): Kommentar und Moderation

4. Sektion:
Clemens Albrecht (Koblenz): Spätkapitalismus und Industriegesellschaft. Vom Staats- zum Gesellschaftsglauben
Gabriele Metzler (Berlin): Planender Staat - demokratischer Staat?
Paul Nolte (Berlin): Kommentar und Moderation

5. Sektion:
Rüdiger Graf (Bochum): Die Grenzen des Wachstums und die Grenzen des Staates. Konservative und die ökologischen und energiepolitischen Bedrohungsszenarien der frühen 1970er Jahre
Jens Hacke (Berlin): Intellektuelle Bedrohungsszenarien. Der Staat zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit
Hans-Jörg Hennecke (Duisburg): Kommentar und Moderation

6. Sektion:
Jörg Requate (Bielefeld): Geistige Brandstifter? „Die Bölls“ und der Terrorismus
Klaus Naumann (Hamburg): Nachrüstung und Selbstanerkennung – Staatsfragen im politisch-intellektuellen Milieu der „Blätter für deutsche und internationale Politik“
Dominik Geppert (Berlin/Marburg): Kommentar und Moderation

Anmerkung:
1 Reinecke, Stefan, Der Weg zur Republik, in: die tageszeitung vom 16.10.2007, S.6

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Institut für Sozialwissenschaften
Lehrbereich Theorie der Politik
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