Europäische Wirtschaftseliten zwischen neuem Geist des Kapitalismus und Erosion des Staatssozialismus

Europäische Wirtschaftseliten zwischen neuem Geist des Kapitalismus und Erosion des Staatssozialismus

Organisatoren
Friederike Sattler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Christoph Boyer, Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte der Paris-Lodron-Universität Salzburg; Förderung: DFG
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.11.2007 - 02.11.2007
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Von
Peter Fäßler, TU Dresden

Eingerahmt von den turbulent-unterhaltsamen 1960er-Jahren und dem spektakulären Zusammenbruch fast aller sozialistischen Regime 1989/90, verbreiten die beiden dazwischen liegenden Dekaden auf den ersten Blick einen eher spröden Charme. Mag sein, dass aus diesem Grunde die Historikerzunft jener Periode nur zögerlich ihre Aufmerksamkeit schenkte. Mittlerweile aber hat sich diese stiefmütterliche Behandlung ins Gegenteil verkehrt, und dafür gibt es gute Argumente. Denn bei eingehender Betrachtung erweisen sich die 1970er- und 1980er-Jahre als eine tiefgreifende, für die Geschichtswissenschaft ausgesprochen erkenntnisträchtige Transformationsphase. Die seinerzeit zu beobachtenden Veränderungen von Handlungsräumen, von Machtstrukturen und institutionellen Arrangements stellten sowohl das demokratisch-marktwirtschaftliche als auch das sozialistisch-planwirtschaftliche Ordnungssystem vor erhebliche Probleme. Während Letzteres an den Herausforderungen scheiterte und am Ende den Offenbarungseid leisten musste, erwies sich Ersteres zwar als erfolgreicher – möglicherweise aber nur vorläufig. Denn ein „Ende der Geschichte“ mit dem alleingültigen Weltordnungskonzept „(Neo-)Liberalismus“ zeichnet sich ebenso wenig ab, wie eine dauerhafte Lösung jener sozio-ökonomischen Strukturprobleme, welche die westlichen Industrienationen seit nunmehr über dreißig Jahren belasten.

Diese Strukturprobleme integrierte CHRISTOPH BOYER in seinem Eingangsreferat sehr überzeugend zu einem gesamtwirtschaftlichen Krisenszenario, das spätestens Ende der 1970er-Jahren von einer breiteren Öffentlichkeit als solche wahrgenommen wurde. Um nur zwei Krisenelemente herauszugreifen: 1. Der schrittweise Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods (1971/73) läutete die Liberalisierung des Weltfinanzmarktes ein. Daraus resultierende Währungsschwankungen bereiteten Managern privater wie volkseigener Unternehmen gewaltiges Kopfzerbrechen. Zudem provozierten die entfesselten globalen Kapitalströme mehrfach regionale Wirtschaftskrisen, unter denen etliche Volkswirtschaften massiv litten. 2. Die beiden Ölkrisen (1973/78) würgten nicht nur die auslaufende Nachkriegskonjunktur endgültig ab, sondern führten den politischen und wirtschaftlichen Eliten eindrücklich vor Augen, wie sehr sich die globalen geopolitischen Machtverhältnisse bereits verschoben hatten.

Die sich ändernden Rahmenbedingungen zwangen die Wirtschaftseliten beider Ordnungssysteme zu neuen Lagebeurteilungen und Handlungsstrategien. In den westlichen Demokratien hinterließ das anfängliche, keynesianisch inspirierte Krisenmanagement angesichts von Stagflation, Massenarbeitslosigkeit und wachsender Staatsverschuldung vor allem Ratlosigkeit und eingeschränkte staatliche Handlungsspielräume. Daher vollzog sich während der Amtszeiten von Ronald Reagan (1981-1989) und Margaret Thatcher (1979-1990) im „neuen Geist des Kapitalismus“ ein Kurswechsel hin zur so genannten neoliberalen Ordnungspolitik. Trotz einiger Erfolge vermochte aber auch diese Politik die wesentlichen Strukturprobleme westlicher Volkswirtschaften bis heute nicht zu lösen. Demgegenüber registrierten die sozialistischen Wirtschaftsexperten besorgt den zunehmenden Rückstand gegenüber dem Westen hinsichtlich des technologischen Standards und der Arbeitsproduktivität. Der Systemwettbewerb drohte verloren zu gehen! Die daraus abzuleitenden Legitimationsdefizite des eigenen Herrschaftsmodells sollten mittels einer ausufernden Sozial- und Konsumpolitik kompensiert werden. Allerdings überforderte eine solche Strategie auf mittlere Sicht die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und beschleunigte letztlich den ökonomisch-politischen Zerfall des sowjetischen Machtbereiches.

Anknüpfend an das Boyersche Krisenszenario, lenkte FRIEDERIKE SATTLER den Blick auf das unterschiedliche Krisenmanagement in den sozialistischen Staaten DDR, Polen, Ungarn und Tschechoslowakei. Die vier genannten Länder durchliefen voneinander abweichende volkswirtschaftliche Entwicklungspfade, was angesichts des weitgehend übereinstimmenden Institutionenarrangements als überraschender Befund gewertet werden darf. Womöglich, so Sattler, müssten zusätzlich landesspezifische mentale Einstellungen und Verhaltensmuster bei Managern berücksichtigt werden, die gerade in Reformperioden solche Entwicklungsdivergenzen bedingten. Das Nebeneinander von Parallelentwicklungen (informelle Elitenabsprachen, Netzwerke der Improvisation, Reprivatisierung) und nationalen Divergenzen in den vier untersuchten Staaten lasse sich auf diese Weise zwanglos erklären. Übrigens bieten kulturwissenschaftliche ausgerichtete Wirtschaftstheorien seit geraumer Zeit ähnliche Modelle an.

Mit ihren einleitenden Bemerkungen steckten die beiden Tagungsinitiatoren das Erkenntnisziel in der wünschenswerten Klarheit ab. Von den nachfolgenden Vorträgen durfte – erstens – Auskunft darüber erwartet werden, wie die Wirtschaftseliten in den beiden antagonistischen Ordnungssystemen strukturiert waren. Zweitens stand auf der Agenda die Frage, wie sie auf die weitgehend identische Gemengelage neuer Herausforderungen reagierten, wobei den systembedingt unterschiedlich zugeschnittenen Handlungsspielräumen besondere Aufmerksamkeit zukommen dürfte. Und drittens: Welchen strukturellen Wandel durchliefen die Wirtschaftseliten angesichts einer Fahrt aufnehmenden Globalisierung nach 1990?

Dass es sich hierbei um eine gleichermaßen wichtige wie bislang – zumindest bezüglich osteuropäischer Eliten – unzureichend erschlossene Problematik handelt, belegte ÁGNES POGÁNY. So betonte sie die Desiderata der osteuropäischen Elitenforschung, exemplarisch illustriert am Fallbeispiel Ungarn. Zwar ließen sich die Kernmerkmale der ungarischen Wirtschaftselite – ökonomisches Potential, Sozialprestige und politischer Einfluss – präzise umreißen. Zudem habe die Geschichtswissenschaft in zahlreichen Studien die schwierigen, langwierigen Begleitumstände offen gelegt, unter denen solche Qualitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert erworben worden waren. Aber die Sozialstruktur von ungarischen Wirtschaftseliten unter kommunistischer Herrschaft, beispielsweise die Herausbildung von Kadermanagern und „roten Baronen“, sei bislang ebenso wenig erforscht wie die intergenerative Rekrutierungspraxis. Eindrücklich unterstrichen Ágnes Poganys Ausführungen die Notwendigkeit weiterführender Forschungen auf diesem Gebiet.

Das Themenfeld aus westlicher Sicht beleuchtend, betonte DIETER ZIEGLER, dass Elitenbildung im modernen Sinne eine Frage von fachlicher Qualität in Kombination mit entsprechenden Sozialfaktoren war und ist. Hatte im frühen 20. Jahrhundert das weitverbreitete Familienunternehmen einen hohen Grad an verwandtschaftlich begründeter Selbstrekrutierung von Wirtschaftseliten gewährleistet, musste mit dem Aufstieg von Managerunternehmen diese Praxis zwangsläufig an Bedeutung einbüßen. Damit aber öffnete sich keineswegs einer ungezügelten vertikalen Mobilität Tür und Tor. Schließlich griffen weitere Mechanismen, welche den Aufstieg in die Wirtschaftseliten regulieren und begrenzen. Ein Blick nach Frankreich, Großbritannien und – mit Abstrichen – in die USA verrät, wie der Zugang zu höchsten Positionen in der Wirtschaft nahezu ausschließlich an den erfolgreichen Besuch bestimmter Bildungseinrichtungen (z. B. grandes écoles, „Oxbridge“, Ivy-League) gekoppelt ist. Hierfür bedarf es allerdings erheblicher finanzieller Ressourcen, die trotz eines ausgebauten Stipendiensystems fast ausschließlich von begüterten Schichten aufgebracht werden können. Doch auch in Deutschland, wo derartige Hochschulen (noch) nicht existieren, blieb die hochgradig schichtengebundene Besetzung in Führungspositionen großer Unternehmen ungeachtet der zahlreichen politischen Zäsuren im 20. Jahrhundert einigermaßen unbeschadet. Gestützt auf die elitentheoretischen Studien des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann begründete Ziegler dieses Phänomen mit einem verinnerlichten Set sozialer „Geheimkenntnisse“ (Stil, Geschmack, Habitus etc.), welches kein Gegenstand allgemeiner (Hoch-)Schulbildung sei, und dessen Aneignung gesellschaftlichen Aufsteigern außerordentlich schwer falle.

Nach diesen vier Einführungsvorträgen war das Feld für quellengesättigte Fallstudien bestellt. Es ist ein großes Verdienst der Tagungsinitiatoren, den angekündigten und inhaltlich gebotenen europäisch-vergleichenden Zugriff auf Wirtschaftseliten tatsächlich im Tagungsprogramm umgesetzt zu haben. Sie vermochten 27 Referenten aus insgesamt elf Staaten zu gewinnen, deren Vorträge ein ungemein breites Themenspektrum abdeckten. Die regionale Ausgewogenheit der Fallstudien darf als besonders erfreulich vermerkt werden. Befassten sich die Referate der ersten beiden Sektionen mit Fragen der Sozialstruktur von Wirtschaftseliten, analysiert anhand jeweils national definierter Gruppen, setzten sich jene der beiden nachfolgenden Sektionen vornehmlich mit den Reaktionsmustern der Führungsgruppen auf sich ändernde Rahmenbedingungen auseinander.

Die von Ziegler nur angedeuteten Verhältnisse der Wirtschaftseliten Frankreichs bestätigte HERVÉ JOLY und führte sie weiter aus. Dabei präsentierte er folgenden überaus spannenden Befund: Obwohl den grandes écoles durch den Ausbau des französischen Hochschulsystems mannigfache Konkurrenz erwachsen ist, obwohl die etablierten Eliteschmieden viel zu lange vornehmlich traditionsreiche, aber im relativen Abstieg begriffene Branchen vertreten habe und obwohl die politischen Veränderungen von 1936 (Volksfront) und 1945 (Befreiung) die gesellschaftliche Spielregeln beeinflusst hätten, entstammten bis zum heutigen Tage fast alle Topmanager der großen französischen Unternehmen diesen grandes écoles. Den Absolventen anderer Hochschulen blieben subalterne Positionen vorbehalten. Immerhin scheint in jüngster Zeit etwas Bewegung in diese starren Strukturen zu kommen. So zeichne sich zumindest im Verhältnis von Top-Wirtschaftselite und ‚middle class’ eine wachsende vertikale Durchlässigkeit in Frankreich ab.

Einen anderen Akzent setzte FABIO LAVISTA für Italien. Er entwarf das Bild einer nationalen Wirtschaftselite, die aufgrund der kollektiv-traumatischen Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur darum bemüht gewesen wäre, beim demokratischen Neuanfang angemessene wirtschafts- und sozialpolitische Leitbilder zu befolgen. Tatsächlich könne man bezogen auf diese Visionen von einer beachtlichen Kohärenz innerhalb der italienischen Wirtschaftselite sprechen. Allerdings zerfiel mit wachsendem Wohlstand und volkswirtschaftlicher Branchendifferenzierung diese gemeinsame Basis, zumal jegliche zentrale, allgemein verbindliche Planungsinstanz im Nachkriegsitalien fehlte. In diesem Sinne spiegelt sich der zunehmende Differenzierungsgrad moderner Gesellschaften und Volkswirtschaften in der wachsenden Fragmentierung ihrer Leitbilder wider.

MANUEL LOFF diskutierte den interessanten Fall portugiesischer Elitenentwicklung in der Umbruchszeit der Nelkenrevolution von 1974. Er bestätigte den generellen Befund, dem zu Folge politische Zäsuren nur selten auch einen konsequenten Elitenaustausch bedingten. Am Beispiel der Marcelismo-Ära (1968-1974) und des politischen Rechtsrucks in den frühen 1980er-Jahren konnte Loff plausibel belegen, in welch hohem Umfange eine personelle Kontinuität insbesondere bei den Wirtschaftseliten gegeben war.

In ihrem sehr anregenden Vortrag präsentierten THOMAS DAVID, STÉPHANIE GINALSKI und FRÉDERIC REBMANN Ergebnisse bezüglich des inneren Zusammenhalts Schweizer Wirtschaftseliten. Dabei wurde deutlich, dass die existierenden Netzwerke zwischen den Führungsetagen großer Unternehmen im Untersuchungszeitraum 1980-2000 grobmaschiger wurden. Nachvollziehbare Gründe hierfür waren zum einen der Rückzug von Banken aus ihren Industriebeteiligungen, der wachsende Einfluss von Aktionären, veränderte Ausbildungswege von Wirtschaftseliten, sowie das Auftreten neuer Akteurstypen im Zuge der Internationalisierung.

Galten die bisherigen Reflexionen den Führungskreisen von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, so rückte ZSUZSANNA VARGA den Fokus auf die Agrarelite Ungarns während der Transformationsphase nach 1990. Angesichts umwälzender sozio-ökonomischer Verwerfungen auf dem Agrarsektor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – erinnert sei an die Bodenreform 1945, die Kollektivierungsschübe 1949/61 sowie die Privatisierung seit 1990 – begründete die Referentin, weshalb intergenerative Elitenkontinuität in der ungarischen Landwirtschaft besonders schwer zu etablieren war. Trotzdem kann von einer solchen gesprochen werden, da die erkennbaren Erfolge in der Agrarproduktion („Gulaschkommunismus“) den Akteuren einen gewissen Kredit bei der Parteielite einbrachte. Varga sprach gar von einer „special relationship“ beider Gruppen.

Das Modell des Harvard-Soziologen Robert Putnam legte GYÖRGY LENGYEL seinem Vortrag über ungarische Wirtschaftseliten zugrunde. In gründlichen Forschungen konnte er nachweisen, wie Bildungsstand, Geschlecht, soziale Herkunft und positiv konnotierte Vergangenheit (etwa Partisanenzugehörigkeit) in die Rekrutierungspraxis ungarischer Wirtschaftseliten einflossen. Vergleicht man Lengyels Schlussfolgerungen mit jenen Dieter Zieglers, bleibt als wesentliche Erkenntnis, dass die Elitenrekrutierung in unterschiedlichen Ordnungssystemen nach übereinstimmenden Mustern ablief.

Die schwierige ökonomische Entwicklung der neuen Bundesländer nahm MARCEL BOLDORF in den Blick. Als wichtigen Erklärungsfaktor erkannte er den erstaunlichen Grad an personeller Kontinuität innerhalb der betrieblichen Funktionseliten. Nach den von ihm präsentierten statistischen Angaben verloren zwar rund 70 Prozent der ostdeutschen Manager ihren ursprünglichen Posten, weil die entsprechenden Betriebe Insolvenz anmelden mussten. Allerdings besetzten die verbleibenden Unternehmen die Leitungspositionen zu 25 Prozent mit Personen aus den westlichen Bundesländern und zu 75 Prozent mit solchen aus den östlichen. Letztere tradierten Defizite hinsichtlich marktwirtschaftlicher Kenntnisse und einer entsprechenden Mentalität. In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass die statistische Datenbasis und ihrer Aufschlüsselung bezogen auf die Betriebsgrößen etliche Fragen aufwarf und weitere Forschungen daher zu interessanten Ergebnissen führen dürften.

LIBUSE MACÁKOVÁ konstruierte eine plausible Parallele zwischen der Stabilität autoritärer Regime und der Homogenität von Eliten. Während sie für eher totalitäre Phasen der Tschechoslowakei eine vergleichsweise monolithisch auftretende Wirtschaftselite ausmacht, sieht sie insbesondere in der Reform- und Transformationszeit seit Mitte der 1980er-Jahre eine der politischen Vielfalt entsprechende Fragmentierung der Wirtschaftselite.

In ebenso klaren wie überzeugenden Zügen stellte MANUEL SCHRAMM die strukturellen Beziehungen zwischen den Partialsystemen „Wissenschaft“ und „Wirtschaft“ in beiden deutschen Staaten einander gegenüber. Während in der DDR ein solcher vorteilhafter Konnex in den 1950er-Jahren ignoriert und erst unter dem Reformdruck Mitte der 1960er-Jahre zunehmend etabliert worden sei, zeichnete sich in der Bundesrepublik eine fast gegenläufige Entwicklung ab. Hier siedelten frühzeitig Unternehmen in der Nähe von Hochschulstandorten, um von einem angestrebten Humankapital- und Wissenstransfer zu profitieren. Als dann im Zuge der Globalisierungsschübe nach 1970 die multinational ausgerichteten Firmen ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ebenfalls nach globalen Gesichtpunkten positionierten, hatte sich der ursprünglich enge Kontakt zu deutschen Hochschulen erheblich gelockert.

Vor dem Hintergrund von Krisenwahrnehmung und angemessener Reaktion stellt der Niedergang des Flick-Imperiums während der Jahre 1965-1985 eine besonders aussagekräftige Fallstudie dar. KIM CHRISTIAN PRIEMEL sezierte in eindrücklicher Weise das ineffiziente Krisenmanagement Friedrich Karl Flicks, welches ihn im Gegensatz zu ähnlich strukturierten Familienkonzernen (Quandt, Haniel) dazu nötigte, Anfang der 1980er-Jahre seine Geschäfte aufzugeben. Flick hatte es eben nicht verstanden, sich rechtzeitig von vergleichsweise orthodoxen Industriebeteiligungen zu lösen und den Konzern zukunftsweisender aufzustellen. Dass der Konzernniedergang mit einem spektakulären Spendenskandal einherging, welcher das ohnehin seit geraumer Zeit ramponierte öffentliche Ansehen von Unternehmen zusätzlich schädigte und überdies das politische System diskreditierte, zählte zu den grandiosen Pointen in Priemels Ausführungen. Weitgehend offen blieb allerdings die Frage, in welchem Maße die am Beispiel Flick gewonnen Einsichten zu verallgemeinern sind.

Hatte sich schon bei den letztgenannten Vorträgen abgezeichnet, dass Wirtschaftseliten ihre Handlungsstrategien in engem Bezug zu politischen Akteuren konzipierten, befasste sich das nachfolgende Referat mit der Verquickung beider Partialsysteme in ein und derselben Person. Am Beispiel des früheren österreichischen Finanzministers Hannes Androsch, nachfolgend Vorstandsvorsitzender des öffentlich-rechtlichen „Creditanstalt-Bankvereins“ entwarf CHRISTIAN DIRNINGER ein theoretisches Modell für Funktionsträger, die wie Androsch genau an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft agieren. Mehrere nachfolgende Diskussionsbeiträge verwiesen auf weitere Persönlichkeiten, bei denen Dirningers Konzept überzeugend Anwendung finden könnte.

Zweifelsohne stellen Interaktionen zwischen Wirtschaftsakteuren und Politikern ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften dar. Insbesondere in Demokratien mit Marktwirtschaftsordnungen versuchen die privaten Unternehmen über Lobbying politische Entscheidungen in ihrem Sinne herbeizuführen oder zu beeinflussen. Auf einer umfassenden empirischen Basis über Wirtschaftseliten in Norwegen geht nun TRYGVE GULBRANDSEN (Oslo) der Frage nach, wie solche Interaktionen schärfer zu fassen sind. Konkret soll geklärt werden, in welchem Ausmaß Einfluss genommen wurde, wer wen wie oft und zu welchem Zwecke und mit welchem Erfolg kontaktiert hatte. Wenig überraschend: Lobbying als eine Form des rent seeking ist weit verbreitet. Vor allem Funktionäre von Arbeitgeber- und Industrieverbänden tun sich hierbei hervor. Leitende Manager von einzelnen Unternehmen treten insbesondere bei konkreten Vorhaben, die das eigene Unternehmen berühren, in Erscheinung. Interessant sind die Unterschiede bei Eigentümern und Managern. Während letztere sich vornehmlich an bürokratische Funktionsträger halten, kontaktieren Eigentümerunternehmer in höherem Maße Politiker und Parlamentarier. Offenkundig spiegeln sich in diesem Verhalten zwei variierende Vorstellungen von Politik (funktionalistisch – patriachalistisch) wider.

PETER HÜBNERs vergleichend angelegte Reflexion über sozialistische Manager und die von ihnen verfolgte betriebliche Sozialpolitik in der DDR und in Polen liest sich vor dem Hintergrund von Friederike Sattlers Überlegungen ausgesprochen bedenkenswert. Denn im Gegensatz zu Sattler sieht Hübner wenig Handlungsspielräume, die gemäß divergierender Wertebudgets zu unterschiedlichen Politiken hätten führen können. Katholische Dispositionen in Polen hätten eben keinen signifikanten Unterschied zu protestantischen oder gar agnostischen Einstellungen bewirkt, der sich in der betrieblichen Sozialpolitik niedergeschlagen hätte. Vielmehr müsste realisiert werden, dass die systemischen Determinanten letztlich den Handlungsrahmen hüben wie drüben sehr eng absteckten.

Einer geschichtswissenschaftlich schwer zu greifenden Sozialstruktur widmete ANNETTE SCHUHMANN ihre Ausführungen. Informelle Netzwerke in sozialistischen Planwirtschaften stellten ein geradezu allgegenwärtiges Phänomen dar, welches die systemischen Defizite durch tagtägliche Improvisation kompensierten – oder zumindest in ihren Auswirkungen linderten. Die Bedeutung der bislang unzulänglich erforschten Netzwerke in sozialistischen Volkswirtschaften sieht Schuhmann unter anderem in ihrer mittelfristig stabilisierenden Funktionalität. Quellenstudien zum Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) lieferten ein eindrückliches empirisches Fundament für diesen Vortrag.

Weitere Beiträge konzentrierten sich auf die Fremdwahrnehmung und Selbstdarstellung von Wirtschaftseliten in den postsozialistischen Gesellschaften. Während KRZYSZTOF GOLATA ein ungemein kritisches Bild über die ökonomisch erfolgreiche Schicht Polens zeichnete, fiel ASTA VONDERAUs Schilderung der litauischen Verhältnisse wesentlich milder aus. Ausgehend von der Überlegung, Wirtschaftselite als selbstreferenziellen Begriff aufzufassen, fragte Vonderau danach, wie Wirtschaftseliten ihre übergeordnete Position gegenüber subalternen Schichten unterstreichen.

Die Frage, wer denn eigentlich den „neuen Geist des Kapitalismus“ verinnerlicht habe, beantwortete MATTHIEU LEIMGRUBER mit einer Fallstudie über die in Genf beheimatete Association for the Study of Insurance Economics in Europe. Diese 1971 ins Leben gerufene Institution verstand sich als Elite, welche über Risikowirtschaft, Versicherungstheorie und Wandlungen im Verhältnis staatlicher und privater Provider forschte. Leimgruber zu Folge handelte es sich um Protagonisten neoliberaler Wirtschaftspraxis, die als pressure group die Deregulierungsmaßnahmen im Finanz- und Versicherungssektor während der vergangenen zwei Jahrzehnte maßgeblich vorangetrieben hätten.

Auch wenn sie es nicht expressiv verbis formulierten: Genau auf solche Gruppen zielten die beiden letzten Vorträge ab. Sowohl ELISE S. BREZSIS als auch LESLIE SKLAIR schlugen den Bogen von national definierten Wirtschaftseliten hin zu den globalen Akteursnetzwerken. Brezsis wies in ihrem Vortrag die Vorstellung einer Meritokratie im Zeitalter der Globalisierung zurück. Vielmehr erkennt sie eine globale Oligarchie am Werke, die sich durch eine relative homogene Erscheinung hinsichtlich Erziehung, Bildung, Wertekanon, Ethik und habituellem Auftreten auszeichne. Daran anknüpfend reflektierte Sklair über transnationale Kapitalistenklasse. Die beiden letzten, sehr dynamisch präsentierten Vorträge provozierten in der an- und zugleich abschließenden Diskussion mannigfachen Widerspruch. Die implizit mitschwingende Verschwörungstheorie gegen eine wie auch immer strukturierte globale Elitenoligarchie wie auch die holzschnittartig vertretene Homogenisierungsthese vermochten das Auditorium nicht recht zu überzeugen.

Die hervorragend vorbereitete und mit souveräner Hand geleitetet Konferenz erwies sich als überaus ertragreich. Sie führte elitenhistorische Studien unterschiedlichster Provenienz zusammen. Was aber noch höher zu bewerten ist: Es blieb nicht bei einer unvermittelt nebeneinander stehenden Zusammenschau interessanter Mosaiksteinchen. Dank der einleitenden Interpretationsmatrix und der immer wieder inhaltlich belastbare Querverweise konstruierenden Moderation entstand ein in hohem Maße verwobenes Netz neuer Einsichten. Es bleibt zu wünschen, dass die Ergebnisse dieser Tagung in absehbarere Zeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Konferenzübersicht:

Welcome Adress. Problems and State-of-Art
Steiner, André (Potsdam): Begrüßung
Sattler, Friederike (Potsdam); Boyer, Christoph (Universität Salzburg): Einführung
Ziegler, Dieter (Bochum): Business Elites in the 20th Century – Germany and its Western Neighbours
Pogány, Ágnes (Budapest): Business Elites in the 20th Century – State-of-the-Art from Eastern Perspective

Panel I: Formationen und Profile in Westeuropa: Zwischen Kohäsion und Fragmentierung
Joly, Hervé (Lyon): Die Kontinuität in der Rekrutierung der französischen wirtschaftlichen Elite von den 1950er bis zu den 1970er Jahren
Lavista, Fabio (Bologna): Business Elite in Italy since the Second World War: From Convergence to Fragmentation
Loff, Manuel (Porto): Rupture vs. Democratic Normalization: Revolution and Elite Renovation in Portugal, 1974-1995
David, Thomas; Ginalski, Stéphanie; Rebmann, Frédéric (Lausanne): Swiss Business Elites: Declining Cohesion and Changing Education Profile, 1980 -2000

Panel II: Formationen und Profile in Osteuropa: Zwischen Erosion und Transformation
Varga, Zsuzsanna (Budapest): The Agrarian Elite in Hungary before and after the Political Transition
Lengyel, György (Budapest): Social Factors Conditioning the Recruitment of the Hungarian Economic Elite at the End of the 1990s
Kutylowski, A. Jan (Oslo): Economic Elites in Poland under the Decline of Sovietism and During Systemic Change
Boldorf, Marcel (Bochum): Elitentausch? Die betrieblichen Führungskräfte Ostdeutschlands seit den achtziger Jahren
Macáková, Libuse (Prag): The Transformation of the Business Elite after the End of the Communist Regime in the Czech Republic

Panel III: Herausforderungen und Antworten: Strategien in der dritten industriellen Revolution
Schramm, Manuel (Chemnitz): Wirtschaftseliten und Wissenstransfer zwischen Hochschulen und Unternehmen in der DDR und Bundesrepublik Deutschland 1949-1990
Priemel, Kim Christian (Frankfurt/Oder): Beschränkte Flexibilität: Die Auflösung des Flick-Konzerns 1965-1985
Dirninger, Christian (Salzburg): Der politische Unternehmer – ein österreichisches Beispiel
Gulbrandsen, Trygve (Oslo): Private Business Lobbying in a Corporatist Society – The Case of Norway

Panel IV: Wandel von Werten, Deutungen und Legitimationen
Hübner, Peter (Potsdam): Sozialistische Manager und betriebliche Sozialpolitik – DDR und Polen im Vergleich
Schuhmann, Annette (Potsdam): Vernetzte Improvisationen. Betrieblich-lokale Elitennetzwerke und die wachsende Toleranz von Schattenwirtscahft in der DDR und Osteuropa
Golata, Krzysztof (Posen): The Image and Problems of Business Elites Reputation. The Example of Poland
Vonderau, Asta (Berlin): Enterprising self: Kulturelle Selbstdeutung der Wirtschaftseliten in Litauen

Panel V: Auf dem Weg zu einer transnationalen Wirtschaftselite?
Leimgruber, Matthieu (Amsterdam): Bringing Private Insurance back in. An International Insurance Think Tank for the Post Keynesian Decades: The Geneva Association (1971-2000s)
Brezis, Elise S. (Tel Aviv): Globalization and the Emergence of a Transnational Oligarchy
Sklair, Leslie (London): The Transnational Capitalist Class


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