Genealogische Praktiken: Transdisziplinäre Kartographie eines Denkstils

Genealogische Praktiken: Transdisziplinäre Kartographie eines Denkstils

Organisatoren
Michi Knecht; Sonja Palfner; Martina Schlünder; Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“; Forschungsprojekt "Verwandtschaftskulturen“ im SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.12.2007 - 15.12.2007
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Von
Harald Kliems, Berlin

Ein Verein von Hobbygenealog/-innen im Norden von England, der Ursprung des Begriffs "Klon" und ein digitales Archiv des Wissens einer indigenen Bevölkerungsgruppe haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Dennoch sind alle drei Bereich durch etwas verbunden, was die Organisatorinnen eines Workshops an der Berliner Humboldt-Universität als "Genealogische Praktiken" beschreiben. Solche Praktiken finden sich heute in einer Vielzahl von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Kontexten, und der vom Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ und dem Forschungsprojekt "Verwandtschaftskulturen“ im SFB 640 organisierte zweitägige Workshop hatte sich das Ziel gesetzt, "Genealogie" als Konzept und vor allem Praxis genauer zu untersuchen. Die Struktur des Workshops spiegelte den inter- und transdisziplinären Anspruch der Organisatorinnen MICHI KNECHT, SONJA PALFNER und MARTINA SCHLÜNDER wider: die beiden Vortragenden in den Panels kamen aus jeweils unterschiedlichen Disziplinen (meist Wissenschaftsgeschichte und Anthropologie/Ethnologie), was ebenso für die beiden Kommentare zu den Vorträgen galt.

Den Auftakt des Workshops bildete der Eröffnungsvortrag von GEOFFREY BOWKER. Der Sozialwissenschaftler sprach über "Memory and forgetting practices of genealogy, archives and origins". Bowker verwendete eine Vielzahl visueller und literarischer Quellen, um seine Hauptthese zu entwickeln: wenn man das Bild von Geschichte als Fluss ernst nimmt, erscheint dieser in erster Linie als ein einheitlicher Strom, gespeist von einer Vielzahl von Zuflüssen, die sich alle nach und nach in den Hauptstrom einreihen. Wenn man allerdings zurück bis zur Quelle des Flusses geht, verändert sich das Bild: vor dem Ursprung als Strom liegt ein Gebilde aus Millionen von Kapillaren, das mehr einem Deleuze'schen Rhizom als dem genealogischen Baummodell entspricht – "multiple Vergangenheiten werden möglich". Allerdings sei heute der Baum weithin das dominante Modell, und entsprechende Gedächtnispraktiken würden letztlich alle dazu neigen, eine lineare, starre und reduktionistische Form der Vergangenheit zu erschaffen und die Gegenwart in dieser Vergangenheit gefangen zu halten. Notwendig sei jedoch anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von Typen des Erinnerns und des Vergessens gäbe – etwa das unwillkürliche Gedächtnis bei Proust oder das Erinnern einer Wegroute, während man sie entlanggeht – die auf spezifischen Praktiken basierten.

Die Tendenz zur Linearisierung der Vergangenheit und dem Ignorieren institutioneller Kontexte finde sich auch in dem Bereich, mit dem sich Bowker in seiner Forschung vor allem beschäftigt hat, Archiven und Datenbanken. Man könnte im ersten Moment vermuten, dass im "Zeitalter der Datenbank", in dem riesige Bestände von Informationen angehäuft werden, auch ein dichtes Bild von Vergangenheit möglich wird. Bowker widersprach dem aber deutlich und wies auf die Geschichts- und Kontextlosigkeit von Datenbanken hin. Die Zielsetzung einer Datenbank sei es gerade, über Klassifizierung und das Schaffen einheitlicher Ontologien Information aus ihren Kontexten zu lösen und damit eine "hohle Geschichte" zu erschaffen – etwa wenn im Bereich der Biodiversität dafür argumentiert werde, dass man nicht die eigentlichen Spezies einschließlich ihrer Lebensumwelt bewahren müsse, sondern es ausreiche, deren genetische Information in einer Datenbank zu speichern. Ein nach dem Baummodell organisiertes Archiv limitiere die Denkmöglichkeiten. Bowker beendete seinen Vortrag mit einem Beispiel, das als alternatives Modell zu den von ihm beschriebenen Gedächtnispraktiken dienen könnte: der japanische Ise-Schrein, der seit dem 7. Jahrhundert besteht – aber nicht, weil er wie ein Denkmal über all die Zeit unverändert erhalten geblieben wäre, sondern weil er alle 20 Jahre zerstört und unter Verwendung der tradierten Techniken wieder neu errichtet wird. Auf einer allgemeineren Ebene bedeute dies, dass es darum gehe, mit neuen Mustern zu spielen; das Framing von Geschichte(n) als Mittel der Unterbrechung zu verändern; und, Michel Serres folgend, Räume zwischen den Disziplinen offen zu halten.

STEFAN BECK und STAFFAN MÜLLER-WILLE griffen am folgenden Vormittag in ihren Kommentaren noch einmal einige Punkte aus Bowkers Vortrag heraus und verknüpften diese mit konkreten Beispielen aus Wissenschaftsgeschichte und Ethnologie. Müller-Wille stellte verschiedene Formen der visuellen Darstellung von Genealogien – Stammbäume aus der frühen Moderne, in denen nur die Väter und Söhne aufgeführt waren; Linnaeus' Karte der Verwandtschaft von Pflanzen; Darwins Baum des Lebens, dem ein singulärer Ursprung fehlt; und schließlich eine Tabelle des Anthropologen Lewis H. Morgan zur Übersetzung von Verwandtschaftsgraden, der jeglicher Baumcharakter fehle. Obwohl die verschiedenen Darstellungsformen zeitlich aufeinander folgten, sei darin jedoch keine einfache Fortschrittsgeschichte vom Baum zum Netzwerk zu sehen, sondern Veränderungen in genealogischen Praktiken hätten sich oft spontan und unerwartet vollzogen. Letztlich gehe es darum, Bowkers Argument von der Rekonstruktion und Legitimierung von Vergangenheit durch genealogische Praktiken zu erweitern und das Augenmerk auch auf deren politische Funktion in der Formung der Gegenwart zu analysieren.

Stefan Beck griff Heinz von Foersters Unterscheidung von trivialen und nicht-trivialen Maschinen auf und übertrug sie auf Archive: ein Landregister etwa könne man erst einmal als triviales Archiv betrachten, das sich in der Regel durch seine Nutzung nicht verändere. Ein Archiv wie Google (ob man Google selbst als Archiv oder nicht eher als eine Form des Zugriffs auf andere Archive betrachten sollte, blieb eine offene Frage) hingegen reagiere auf und verändere sich durch seine Nutzung – und sei damit ein nicht-triviales Archiv. Als Gegenstand der Forschung seien letztlich diejenigen Fälle die interessanteren, in denen ein Archiv anders als entsprechend seines ursprünglichen Ziels genutzt wird – zum Beispiel, wenn ein Landregister plötzlich nicht-trivial wird, sondern ein umkämpftes Instrument in einer Auseinandersetzung um Landbesitzrechte indigener Bevölkerungsgruppen.

Das erste reguläre Panel am Freitag wurde durch die Vorträge von CHRISTINA BRANDT und STEFAN SPERLING eingeleitet. Brandt ging in einer – später im Kommentar von ERIC J. ENGSTROM als begriffsgeschichtlich kritisierten – historischen Perspektive auf den Ursprung des Klonkonzepts am Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Ihre These war, dass sich der Klonbegriff in einem Spannungsfeld zwischen Identität und Genealogie bewege. Aus heutiger Perspektive werde ein Klon oft als ein Phänomen betrachtet, dass das Baummodell und die lineare Zeitstruktur der Genealogie durch Identität und Simultaneität unterbreche. Historisch betrachtet sei dies aber nicht immer so gewesen – vielmehr habe in den ersten Formulierungen des Klonkonzepts in der Pflanzenzuchtforschung des frühen 20. Jahrhunderts eine genealogische Sichtweise vorgeherrscht: "Klon" wurde definiert als genealogischer Begriff der asexuellen Reproduktion, der sich auf eine einzige Zygote zurückführen ließe. Ein Klon trage also letztlich immer mehrere Bedeutungsdimensionen in sich – Reinheit, Zurückführbarkeit auf einen gemeinsamen Ursprung, Serialität und Identität, Unsterblichkeit.

Auf ein anderes Spannungsfeld ging im Anschluss Stefan Sperling ein – das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik/Gesetzgebung im Bereich der Stammzellenforschung. Aus Perspektive der Politik stelle sich diese Spannung so dar, dass es einerseits das Bedürfnis gebe, die entsprechende Forschung möglichst frühzeitig – im Prinzip also schon bevor die eigentliche Forschung stattfindet – juristisch-politisch zu regulieren, dass es aber andererseits aber auch den Wunsch gebe, von den Ergebnissen der Forschung im internationalen Wettbewerb zu profitieren und Regulierung hierbei als Hindernis betrachtet werde. Sperling beschrieb, wie in den von ihm untersuchten bioethischen Kommissionen einem dichotomen Modell folgende Vorstellungen sowohl von Wissenschaft wie auch von Ethik, Recht und Politik vertreten und produziert würden: Die Seite der Forschung sei durch Instabilität, Dynamik und Erklärungsbedürftigkeit für den Laien oder die Laiin charakterisiert, während Politik, Recht und Bioethik als stabile, transparente Felder erschienen. Eine solche Dichotomie hält Sperling für hoch problematisch. Gerade die Arbeit der von ihm untersuchten bioethischen Gremien zeige, dass auch das Feld der Bioethik nicht von stabilen Entitäten ausgehe und stetiger Veränderung unterzogen sei. Genau wie aufseiten der Wissenschaft seien Prozesse der Ko-Produktion und Ko-Konstitution am Werk, die auch als solche untersucht werden müssten.

Das zweite Panel des Tages beschäftigte sich mehr einem herkömmlichen Verständnis von Genealogie in Form von Familienstammbäumen. Der Wissenschaftshistoriker BERND GAUSEMEIER sprach über die Psychiatrie als "wichtigsten Fall der genealogischen Forschung des 19. Jahrhunderts", und die Ethnologin Elisabeth Timm stellte die im Wien des späten 19. Jahrhunderts gegründete "Heraldisch-Genealogische Gesellschaft 'Adler'" vor. Wie die Kommentatorin MAREN KLOTZ anmerkte, war die beiden Vorträgen gemeinsame Frage die nach der historischen Situierung unterschiedlicher und sich manchmal widersprechender genealogischer Praktiken an den Kreuzungspunkten von Wissenschaft und Lai/-innengemeinschaften. Genealogische Praktiken erschienen dann oft als kontingent und unbestimmt, könnten aber zugleich – oder gerade deswegen – als "boundary object" dienen. An diesem Punkt zeigte sich allerdings, dass die Vielgestaltigkeit der Praktiken durchaus ein Problem für die Forschung ist und auch unter den Teilnehmenden des Workshops keine Einigkeit über bestimmte Begrifflichkeiten bestand. ELVIRA SCHEICH ging in ihrem Kommentar auf einen Aspekt von Genealogie ein, der bisher noch nicht angesprochen worden war, was sie als durchaus typisch betrachtete: die Frage von Geschlecht. Obwohl Geschlecht offensichtlich ein zentrales Organisationsprinzip der meisten genealogischen Praktiken ist, bleibe dies oft unausgesprochen, und man müsse fragen, wer Genealogie über wen betreibt.

Zum Auftakt des zweiten Konferenztages beschäftigte sich ELIZABETH A. POVINELLI mit den "Genealogien des Liberalismus", der Frage also, wie liberale Formen der Governance und der Geschichtsschreibung die Bedingungen dafür liefern, wie andere genealogische Praktiken verstanden werden können und wie der Liberalismus seine eigene Geschichte schreibt. Im Zentrum dieser "Meta-Genealogie liberaler Gesellschaften" sieht Povinelli das Selbst, das sich aus seiner Determiniertheit durch den Kontext und seiner Herkunft befreit hat und Teil einer Öffentlichkeit geworden ist. Das Vorhandensein sozialer Determiniertheit wird zwar anerkannt, es dient aber eben nur als Unterteilungskriterium und als "der Alptraum liberaler Gesellschaften". Dieses auch schon von Bowker angesprochene Unsichtbarwerden – oder vielmehr: Unsichtbarmachen des Kontexts stellte dann den für sie entscheidenden Aspekt des Feldes dar, anhand dessen Povinelli ihre recht abstrakten Überlegungen konkretisierte: postkoloniale digitale Archive.

Ausgangspunkt der "Explosion" dieser Archive in den vergangenen Jahren sei die auf Foucault zurückgehende Erkenntnis, dass Archive niemals nur Orte des Wissensabrufs seien, sondern immer auch Orte der Wissensproduktion. Ziel postkolonialer Archive sei dann, auf selbstreflexive Weise diese Wissensproduktion zu verändern und soziale Kontexte wieder in ein Archiv hinein zu bekommen. Anhand des Beispiels eines digitalen Archivs der Kultur der in Zentralaustralien lebenden Bevölkerungsgruppe der Warumungu 1 zeigte sie allerdings, dass diese Versuche immer noch Beschränkungen unterworfen sind. Die Materialität der digitalen Datenbank selbst, etwa ihre Boole'schen Logik, verunmögliche, sich gänzlich von der liberalen Entortung und Dekontextualisierung von Wissen zu befreien und bestimmte Formen von Kontext, wie etwa Affekte oder Lokalität, weiterhin außen vor blieben.

Auf eine andere Form des Zusammenhangs von Verwandtschaft und Politik ging EVA JOHACH in ihrem Beitrag über die Staatenbildung bei Menschen und Insekten ein. Sie zeigte, wie im Zeitalter der Entstehung der westlichen Nationalstaaten Insekten relevante Objekte bei der Suche nach der Grundlage von Gesellschaftlichkeit wurden. Es bildete sich eine "doppelte Genealogie" in Kulturgeschichte und Biologie heraus, verknüpft zumeist über das Modell der Evolution. Johachs These ist, dass eine "Geschichtsschreibung sozialer Insekten" eng verwoben war mit Versuchen, angenommene Unterschiede (etwa zwischen den Rassen oder den Geschlechtern) in der menschlichen Gesellschaft zu interpretieren und zu verändern. Die "Wahlverwandtschaften" mit Insekten führten dabei allerdings oft zu Unsicherheit und widerstreitenden Ideen darüber, wie gesellschaftliche Stabilität am besten zu erreichen wäre. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass man Johachs Untersuchungen in zwei Richtungen erweitern könne: einerseits lassen sich Analogiebildungen zwischen Mensch und Tier bis in die griechische Antike zurückverfolgen, andererseits sind diese auch heute noch weit verbreitet, etwa in der Figur des Modellorganismus oder in der Soziobiologie.

Zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Themen waren Thema des folgenden Panels. JEANETTE EDWARDS stellte ihre langjährige Forschungsarbeit über einen Verein von Hobbygenealoginnen und -genealogen in einer Gemeinde im Norden Englands vor, und OHAD S. PARNES sprach über den Zusammenhang von Genealogie und dem seit einigen Jahren boomenden Feld der Epigenetik. Parnes' Ausgangsfrage war die nach dem Verhältnis von Genealogie und biologischer Erblichkeit. Er machte dabei eine Unterscheidung in drei verschiedene Modelle, die historisch aufeinander folgten: Erblichkeit, Genetik und Epigenetik. In den beiden Konzepten der Erblichkeit und der Genetik gehe es beide Male um die Übertragung von Merkmalen. In der Epigenetik hingegen, also dem Feld, das sich damit beschäftigt, wie die molekulare Umgebung des DNA-Strang auf dessen Aktivität einwirkt, zeige sich eine völlig neue Form der Genealogie. Das alte Stammbaummodell ergebe keinen Sinn mehr; Generationen erscheinen nicht mehr als aufeinander folgend, sondern existieren gleichzeitig; und aus einer Entwicklungsperspektive werde gar davon gesprochen, dass "das Kind der Vater des Mannes" sei. Aus der Perspektive der Epigenetik sei es also notwendig, "Genealogie neu zu denken" – auch wenn, wie in der Diskussion angemerkt wurde, die Versprechungen der Epigenetik durchaus kritisch zu hinterfragen seien.

Im letzten regulären Vortrag des Workshops stand das zweite im Konferenztitel gegebene Stichwort, die Kartographie, im Zentrum. STEFAN HESPERS stellte – zum Nachteil der internationalen Workshopteilnehmenden auf deutsch – Felix Guattaris Arbeiten zur Kartographie vor. Auch wenn es schon im 18. Jahrhundert die Tradition der "Carte de tendre", der Karte der Gefühle, oder später die "ambulante Geographie" gab, spiele die Kartografie in der Philosophie erst seit den Arbeiten von Deleuze und Guattari eine Rolle. Hespers zeigte die Einflüsse auf "Deleuzes peinlichen Bruder" auf, die zu dessen Interesse an der Kartografie und letztlich zu seinem Werk "Cartographie Schyzoanalytique" führten: meist konzentriere man sich vor allem auf die Rolle der Psychoanalyse und ignoriere den wichtigen Einfluss von Ethnologie und Kybernetik. Guatarri verband Batesons Arbeiten zur "Ökologie des Geistes" und Konzepte wie Autopoiesis und emergente Ordnung mit einer Praxis der "dissidenten Pädagogik" und der ambulanten Psychiatrie, in der – offenbar sehr erfolgreich – Karten als Hilfsmittel zum Verstehen von jugendlichen Patientinnen und Patienten angewandt wurden. Eine Karte sei dabei stets Teil der Ökologie, und ihr Ziel sei nicht die Abbildung von Wirklichkeit, sondern die Suche nach "Virtualitätsfeldern". In diesem Sinne sei das Projekt der Kartografie auch heute noch wichtig – auch wenn in der Diskussion klar wurde, dass unklar ist, wie ein solches Projekt aussehen könnte, und ob nicht Guattaris Ideen eine Menge problematischer Vorannahmen enthalten.

Vor der abschließenden Diskussion kam noch eine Besonderheit des Workshops zum Tragen: bereits zu dessen Beginn hatten die Organisatorinnen an alle Teilnehmenden bunte Kärtchen verteilt. Auf diesen sollten während der gesamten Tagung Begriffe oder Verben festgehalten werden, möglichst in Verbindung mit dem Kontext, in dem sie aufgetreten waren, und am Ende der Sessions sollte die Karten in eine Sammelbox geworfen werden. Sonja Palfner und Martina Schlünder hatten die Karten dann im Laufe des Workshops gesichtet, auf einer großen Pinwand angeordnet und nutzten sie, um noch einmal über den Workshop zu reflektieren und nicht zuletzt "die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Disziplinen zu dokumentieren." Man kann sich die Frage stellen, für wen diese Dokumentation geleistet wurde und ob sich jenseits des Dokumentarischen ein Nutzen aus der verwendeten Technik ergeben kann. Sicherlich boten die Kärtchen einen guten Ausgangspunkt für die folgende Abschlussdiskussion, da sie einige der zentralen Diskussionspunkte – was sind Alternativen zur Genealogie? Gibt es ein "Außen" der Genealogie? Welche Rolle spielt Materialität? Welche Aufgabe haben Ethnologie und Geschichtswissenschaft? Wo finden sich Ansatzpunkte zur Intervention in genealogische Praktiken? – noch einmal ins Gedächtnis riefen.

Abgesehen vom oft ungenügenden Zeitmanagement und den in der Mehrzahl abgelesenen Vorträgen empfand ich die Organisation und das Format des Workshops als sehr angenehm und nachahmenswert. Durch die jeweils zwei Kommentare auf die Vorträge war es möglich, den Raum für die Diskussion weit aufzuspannen und bei Bedarf zugleich auch in die Tiefe gehen zu können. Inwieweit der transdisziplinäre Anspruch der Konferenz eingelöst werden konnte, ist ein offene Frage. Die oben angesprochenen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Disziplinen – die mit Wissenschaftsgeschichte und Ethnologie ja nicht einmal furchtbar weit voneinander entfernt lagen – waren offensichtlich. Aber wenn man den Sinn von Transdisziplinarität im von Bowker eingangs erwähnten Offenhalten von Lücken zwischen den Disziplinen betrachtet, konnte der Workshop hierzu sicherlich beitragen. Zum Abschluss will ich noch eine für mich recht erstaunliche Lücke erwähnen. Der Titel und die Beschreibung des Workshops hatten bei mir die Erwartung geweckt, dass Genealogie als philosophische Methode einen wichtigen Platz einnehmen würden. Zu meiner Überraschung tauchte aber Foucaults Konzept der Genealogie nur kurz am Rande auf, obwohl es meines Erachtens eine wertvolle Bereicherung eines interessanten Workshops hätte sein können.

Konferenzübersicht:

Genealogische Praktiken: Transdisziplinäre Kartographie eines Denkstils

Eröffnungsvortrag: Geoffrey C. Bowker: Memory and Forgetting Practices in Social and Natural Science
Einführung in das Thema: Kartographische Koordinaten. Martina Schlünder, Sonja Palfner, Michi Knecht
Diskussion des Eröffnungsvortrages. Staffan Müller-Wille, Stefan Beck

Genealogische Praktiken I
Christina Brandt: Between 'genealogy' and 'identity': Historical perspectives on the clone concept
Stefan Sperling: Genealogies of the future: Law, science, and the making of potential persons

Genealogische Praktiken II
Bernd Gausemeier: Don't miss the forest for the family tree: Genealogy as representative model and technical mode
Elisabeth Timm: Finds and fictions. The quest for ancestors in Austria between noble reign, bourgeois associations, fascist policy, and individualized practice

Kartographische Übung I: Open space for the presentation and circulation of visual material and artefacts

Genealogische Praktiken III
Elizabeth A. Povinelli: The Genealogies of Liberalism
Eva Johach: Human and animal forms of nation building. Elective affinities between men and insects in the 19th century

Genealogische Praktiken IV
Jeanette Edwards: Of family history, ancestors and pedigrees: Genealogical research in the north of England
Ohad S. Parnes: Epigenetic genealogies

Kartographische Übung II: Wie könnte eine interdisziplinäre Kartographie funktionieren?
Stefan Hesper: Karte oder Genealogie? -– Anmerkungen zur Genealogie der Kartographie bei Deleuze und Guattari und Ausblicke
Michi Knecht, Martina Schlünder, Sonja Palfner

Kartographische Übung III
Plenumsdiskussion: "What makes the 're' in the re-making of genealogies?": Emergent patterns, transdisciplinary perspectives

Anmerkung:
1 <http://www.vectorsjournal.org/issues/03_issue/digitaldynamics/> (24.01.2008)


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