Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel

Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel

Organisatoren
Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (ESSA); Erdmute Alber, Universität Bayreuth; Julia Eckert, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle; Patrick Neveling, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2007 - 02.10.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Sung-Joon Park, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg; Patrick Neveling, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg

„Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie verfügen über zahlreiche Termini, mittels derer Veränderungen beschrieben werden sollen. (…) Diese Konzeptionen stehen jedoch nicht nur für unterschiedliche Perspektiven auf Phänomene ähnlicher epistemischer Ordnung. Sie kommen aufgrund (impliziter) Teleologien zu unterschiedlichen Analysen und Bewertungen von Veränderungsprozessen.“1 Mit diesem Zitat aus dem Call for Papers zur Herbsttagung der Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie (ESSA) in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sind Anspruch und Fragestellung der genannten zweitägigen Veranstaltung recht gut umrissen. Sieben Vortragende waren dem Aufruf der VeranstalterInnen ERDMUTE ALBER (Fakultät für Kulturwissenschaften/Facheinheit Ethnologie, Universität Bayreuth), JULIA ECKERT (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle) und PATRICK NEVELING (Institut für Ethnologie, Universität Halle) gefolgt. Parallel zu dieser von der Graduiertenschule Afrika und Asien in globalen Bezugssystemen (GSAA, Universität Halle) unterstützten Veranstaltung im Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, fand ebenfalls in Halle die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde unter dem Motto „Streitfragen - Zum Verhältnis von empirischer Forschung und ethnologischer Theoriebildung am Anfang des 21. Jahrhunderts“ statt.

Es waren also grundlegende Fragen der Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie, die an jenen ersten Oktobertagen in Halle auf den Tisch kamen. Entsprechend begann Patrick Neveling im Einführungsvortrag mit einer vergleichenden Bestandsaufnahme der theoretischen Behandlung von Konzepten wie Modernisierung, Postkolonialismus und Globalisierung in den beiden Disziplinen. Bereits die Wahl des Tagungstitels Wissen um Veränderung sollte zweierlei Zweck erfüllen: Sie sollte auf die normative Aufladung wissenschaftlicher Konzepte von Veränderung verweisen, zudem aber mit der Betonung des Wissens eine Schnittmenge zwischen mondänem und wissenschaftlichem Diskurs in den Fokus rücken. In den 1980er- und 1990er-Jahren hätten sich Entwicklungssoziologie wie Ethnologie auf die Arbeit an Theorien mittlerer Reichweite zurückgezogen. So sei die eigentlich ad acta gelegte Theorie der Modernisierung zurück in die Entwicklungssoziologie und die Untersuchung von Veränderungsprozessen in ehemals sozialistische Staaten gelangt. Ebenso habe das teleologisch aufgeladene Metanarrativ Globalisierung in der Ethnologie Urstände feiern können, weil aufgrund der Beschränkung auf Theorien mittlerer Reichweite keine kritischen analytischen Überprüfungen dieser Kategorie vorgenommen werden konnten. In Folge dessen seien zu oft auch konkrete Veränderungen von Ressourcenallokationen, individueller wie kollektiver Handlungskompetenz und nicht zuletzt Prozesse von Ausschluss und Verherrschaftlichung aus dem Blick geraten. Zahlreiche neuere Arbeiten ließen jedoch Wege aus der Krise erkennen. So sei es eventuell sinnvoller, das Modernisierungsparadigma nicht mehr als einen theoretischen Ansatz zu diskutieren, sondern vielmehr als globale Volkserzählung zu verstehen und nach seinen unterschiedlichen Auslegungen und Abwandlungen zu suchen. Ebenso biete sich die Möglichkeit, ethnologische Arbeiten der 1990er-Jahre als Quellen zu verstehen, in denen die Facetten einer Archäologie der Globalisierung aufzuscheinen beginnen.

Im ersten Beitrag lieferte RICHARD ROTTENBURG (Institut für Ethnologie, Universität Halle) eine engagierte Antwort auf den Skeptizismus von Entwicklungssoziologie und Ethnologie gegenüber großen Antworten auf große Fragen. Seine Skizze einer - nicht nur politisch begründeten - Unverzichtbarkeit des antizipativen Wissens wurde untermauert von einem eindringlichen Vergleich zweier Forschungsaufenthalte im Sudan der späten 1970er-Jahre und im frühen 21. Jahrhundert. Aufgrund der Zunahme gewalttätiger Auseinandersetzungen in der Forschungsregion stelle sich die Frage nach der Figur der (humanitären, internationalen) Intervention, deren Operationalisierbarkeit nach Rottenburg vom antizipativen Wissen um ihre Folgen abhängt. Dabei beschränkte sich der Vortrag nicht auf die (humanitäre) Intervention als legitimierte Ausübung zwischen- und innerstaatlicher Gewalt, sondern befasste sich mit einem Flüchtlingslager im Südsudan als der veralltäglichten Erfahrungsform einer außeralltäglichen Intervention. Das Lager stelle ein Phänomen dar, das durch konventionelle entwicklungstheoretische Kategorien von Staat und Recht nicht gedeckt sei. Mit Bezug auf Giorgio Agambens Konzeption vom Lager als Nomos der Moderne, schlug Rottenburg alternativ eine Erweiterung von Webers Machttheorie um die Analyse des Ausnahmezustandes vor. Genau diese Erweiterung der Weberschen Unterscheidung von charismatischer und bürokratischer Herrschaft um den Ausnahmezustand als außeralltägliche Erscheinung des bürokratischen Apparates wurde anschließend kritisch diskutiert: Ist ein Vier-Felder Schema entlang der horizontalen Achse Charismatisch/Bürokratisch und der vertikalen Achse Alltäglich/Außeralltäglich zulässig? Erlaubt das Modell der Intervention die Verwendung der Klassifikation bürokratische Herrschaft? Müsste nicht vielmehr eine Leerstelle in der Schnittmenge Bürokratisch/Außeralltäglich belassen werden, da es letztere Herrschaftsform im Gegensatz zur charismatischen eben auszeichne, dass sie auf der Omnipräsenz des Alltäglichen beruhe?

GUDRUN LACHENMANN (Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld) hingegen forderte eine Wiederbelebung von Theorieentwürfen mittlerer Reichweite im Sinne von Burawoys Modell einer global ethnography. Unter dem Titel Wissenssoziologie und Geschlechterforschung: Ansätze mittlerer theoretischer Reichweite im Globalisierungskontext entwarf sie ein von Handlungstheorie und der geschlechtsspezifischen Analyse sozialer Räume geleitetes Konzept, das ermögliche, Globalisierungstheorien von Seiten der Entwicklungssoziologie empirisch zu füllen. Gerade aufgrund der Interaktion von Wissenssystemen in einer global vernetzten Welt seien ethnomethodologische Ansätze der 1960er- und 1970er-Jahre geeignet, um eben ein besseres Verständnis der neuen Aufschichtung lebensweltlicher Entwürfe einzelner Akteursgruppen und damit einhergehende Restrukturierungen von Motivations- und Handlungsrelevanzen in verschiedenen Arenen zu ermöglichen. Somit hätte sich eine vergleichende Diskussion der Entwürfe zur Erklärung außeralltäglicher, die Lebenswelten der Akteure nicht nur relativ sondern grundsätzlich in Frage stellender Ereignisse wie sie im Vortrag von Rottenburg aufgezeigt wurden angeboten. Möglicherweise stand jedoch die Hervorhebung von Theorien mittlerer Reichweite im Vortragstitel diesem naheliegenden Vergleich im Wege.

Der Nachmittagsblock unter dem Obertitel Zur Ambivalenz des Konzeptes Modernisierung thematisierte mit den osteuropäischen Staaten und dem indischen Subkontinent zwei Regionen, die zu sehr unterschiedlichen Zeiten mit dem Modernisierungsparadigma konfrontiert wurden. TATJANA THELEN (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle) begann ihren Vortrag Können postsozialistische Staaten modern werden? Oder: Vom Scheitern der Antizipation sozialen Wandels zunächst mit der Suche nach den Gründen für die Abwesenheit übergreifender Theorieansätze, die sich aus Schlüsselthemen der Entwicklung postsozialistischer Staaten (z.B. Person, Eigentum) hätten ergeben können. In der Auseinandersetzung mit einflussreichen Arbeiten der postsozialistischen Transformationsliteratur zeigte sie, auch anhand eigener Forschungsarbeiten in Ungarn und Ostdeutschland, wie die sozialwissenschaftliche Debatte hinter theoretische Standards (unter anderem ethnologische Theorien zu Verwandtschaftsbeziehungen, sozialer Sicherung und Arbeit) weit zurückfiel, sobald es um den ehemaligen Ostblock ging. Vielfach wurde der so genannte Transformationsprozess als eine Abweichung vom westlichen Entwicklungsstand oder als defizitäre Modernisierung gelesen. Bestimmend ist nach Thelen eine historische Entwicklung in den Sozialwissenschaften gewesen, die zunächst Fortschritt in sozialistischen Staaten annahm. Nachdem diese Annahme enttäuscht wurde, fand „erstaunlicherweise“ nach 1989 eine Neuauflage derselben Idee von Fortschritt Eingang in die Arbeit anderer AutorInnen. Normativ aufgeladene Konzepte wie Transformation, sozialer Wandel und wirtschaftliche Entwicklung haben nach Thelen den Blick für Veränderungen versperrt, die sich jenseits des Scheiterns der sozialwissenschaftlichen Antizipation von sozialem Wandel vollzogen haben. Gerade diese von Thelen geleistete kritische wissenschaftshistorische Aufarbeitung des Forschungsfeldes Postsozialismus wurde von den TeilnehmerInnen in der abschließenden Diskussion einhellig begrüßt.

SHALINI RANDERIAs (Ethnologisches Seminar, Universität Zürich) Beitrag Entangled Histories of Uneven Modernities - Nature-Making and State-Making in Post-colonial India nahm ebenfalls Bezug auf die Figur der Intervention. Anders als bei Rotenburg ging es im Beispiel der Interventionen britischer Kolonialbehörden und der Umweltbehörden des unabhängigen Indien nicht um Fragen der militärischen Auseinandersetzung. Bereits die koloniale Forstwirtschaft arbeitete auf der Grundlage eines Verständnisses von Umweltschutz, das bestehende Nutzungs- und Zugangsrechte lokaler Gruppen beispielsweise im indischen Bundesstaat Gujarat mit der Deklarierung von Naturschutzgebieten einschränkte. Diese bis hin zu Zwangsumsiedlungen reichenden Maßnahmen zeigten, wie im Namen einer wissenschaftlich gestützten Vorstellung von Natur und deren Schutzbedürftigkeit für „zukünftige“ Generationen der moderne (koloniale) Staat eine ökologische Gouvernmentalität vorantrieb. Anders als von der postkolonialen Theorie angenommen, versäumte der postkoloniale indische Staat eine Dekolonisierung der Umweltpolitik. In Indien würden nach wie vor über Naturschutzgebiete Beziehungen zwischen lokaler Bevölkerung und globalen Umweltschutzbestrebungen wenig anders als vormals zwischen Metropole und Kolonie gestaltet. Die Konstruktion von Natur in den peripheren Zonen des Staates biete somit Einblicke in die Kontinuitäten (post)kolonialer Staatenbildung. Wie bereits in der kolonialen Rationalisierung von Natur und Staat ließen sich auch die Konflikte zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, staatlichen Institutionen und internationalen Umweltschutzorganisationen im gegenwärtigen Indien als Prozesse beschreiben, in denen Bezüge auf lokales, staatliche und internationales Recht wie Organisationen Räume widerstreitender Rechtsauffassungen kreierten. Zu fassen seien diese jedoch nicht als lineare Entwicklungspfade, wie es beispielsweise Becks Auffassung der Kosmopolitisierung impliziere. Vielmehr erfordere die vorgetragene Fallstudie zur indischen Forstwirtschaft die Anwendung des Konzeptes der entangled histories of uneven modernities. Im Gegensatz zur gängigen Trennung von "Entwicklungen" in Zentrum und Peripherie handele es sich um einander von Beginn an wechselseitig bedingende Prozesse. Unbestritten blieb in der anschließenden Diskussion die Konzeption der miteinander verwobenen, ungleichen Modernen. Inwiefern die Veränderung oder Nicht-Veränderung des indischen Umweltrechtes jedoch, wie Randeria konstatierte, ein Gegenbeispiel zur These der Homogenisierung des internationalen Rechts in Folge der US-amerikanischen Hegemonie sei, wurde kritisch hinterfragt.

JUDITH BEYER (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle) plädierte in Rhetoric of ‚Transformation’: The Case of the Kyrgyz Constitutional Reform für eine stärkere Beachtung der rhetorischen Komponente des Konzeptes „Transformation“. Wie auf viele andere postsozialistische Staaten sei der Begriff auch für das unabhängige Kirgisistan als ein analytischer angewandt worden. Die empirisch nachweisbaren Veränderungen nach der Unabhängigkeit hätten aber entgegen den Erwartungen nicht zu einer politischen Liberalisierung, wirtschaftlichen Stabilisierung und rechtsstaatlichen Umstrukturierung geführt. Daher sei auch innerhalb der Transformation Studies der Transformationsbegriff als analytisches Konzept fragwürdig geworden. Beyer veranschaulichte ihre eigene Position in einer interessanten biographischen Randbemerkung: Anders als ihre Vorrednerin Tatjana Thelen habe sie zu einer Generation von EthnologInnen gehört, deren Forschungsfragen, obwohl nur wenige Jahre später beginnend, bereits von der Erfolglosigkeit des Transformationskonzeptes ausgingen. Wie Thelen auch, verstehe sie den Erfolg des Begriffes in den westlichen Sozialwissenschaften der Vorstellung eines historischen Automatismus geschuldet, der postsozialistische Staaten via sozialem Wandel zwingend transformiere. Stattdessen schlug Beyer eine Analyse der allumfassenden Medienpräsenz des Tranformationsbegriffes in ihrer Untersuchungsregion Kirgistan vor. Dieser Begriff sei in Kirgistan in jeder der zahlreichen Verfassungsreformen immer wieder erfolgreich verwendet worden. Wie sie anhand einer Analyse von Reden des kirgisischen Präsidenten Akajew deutlich machte, unterscheidet sich Akajews Verwendung jedoch nicht gravierend von marxistisch-leninistischen Rhetoriken. Indem dieser Begriff an Rhetoriken der Transformation und die Informationspolitik der sowjetischen Zeit anknüpfe, sei ein Konglomerat verschiedener Vorstellungen von Veränderung entstanden, das in einem einzigen innenpolitisch aufgeladenen Schlüsselbegriff, der transformasi kulminiere. Das Beispiel Kirgistan zeige, dass eine zeitgemäße Perspektive das Phänomen „Transformation“ als ein rhetorisches verstehen und auf Kontinuitäten wie Diskontinuitäten in der Transformationsrhetorik hin untersuchen müsse.

Patrick Nevelings Beitrag Zur Relationalität emischer und etischer Kategorien von Veränderung anlässlich einer Krise der mauritischen Nationalökonomie befasste sich mit Erklärungsmustern für den vergleichsweise rapiden Aufstieg und Niedergang der mauritischen Textilindustrie. Das Land war seit der Abschaffung präferentieller Handelsquoten mit Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 in eine profunde Krise geraten. Entsprechend drehten sich die gesellschaftlichen Ereignisse, die für den Vortrag ausgewählt worden waren - eine Demonstration gegen das Treffen der WTO in Cancun im Jahr 2003 sowie eine Rede des Generaldirektors der WTO anlässlich des mauritischen Nationalfeiertag im Jahr 2004 – um unterschiedliche Auffassungen vom Zusammenhang zwischen Nationalökonomie, Weltwirtschaft und Krise. Während die Demonstranten ein klares Bewusstsein für die „Verflechtung der wirtschaftlichen Geschicke der Insel“ mit der Weltwirtschaft äußerten, warf der WTO-Generaldirektor in seiner Rede Grundannahmen des Modernisierungsparadigmas über Bord. Er sah den Aufstieg der mauritischen Wirtschaft allein in der Entschlossenheit der mauritischen Bevölkerung begründet. In den zwei Begebenheiten, so Neveling, äußerten sich grundverschiedene Vorstellungen von Veränderung aus denen unterschiedliche Handlungsoptionen für die mauritische Zukunft folgten. Einmal gegen eine Liberalisierung des Marktes und für die Einlösung des Versprechens der Modernisierung. Im anderen Fall erschiene der Weltmarkt als irrationales Glücksspiel mit Gewinnern und Verlierern. Aus dieser Gegenüberstellung zog Neveling Schlussfolgerungen für eine Ethnologie der kapitalistischen Weltwirtschaft: Die beschriebenen Ereignisse zeigten, dass Modernisierungstheorie, Dependenztheorie und Postkolonialismus zu universalen Kategorien geworden seien, die aus „emischer Sicht“ in die Formulierung von Handlungsoptionen einfließen. Ethnologische Perspektiven auf das „Lokale“ würden sich, somit als überholt und unnötig partikularisierend erweisen. Auch sei, anders als in der Konzeption der multi-sited ethnography gefordert, kein universal präsenter Forscher von Nöten, der anhand verschiedener Forschungen auf dem Globus eine weltweite Vernetzung offen lege, sobald diese von den Akteuren selbst thematisiert werde.

Indische Forstwirtschaft, kirgisische Verfassungsreformen und mauritische Wirtschaftskrise hingen in unterschiedlicher Intensität mit dem Engagement internationaler Institutionen zusammen. CHRISTOPH BRUMANNS (Institut für Völkerkunde, Universität Köln) Vortrag Die Dynamisierung des UNESCO-Welterbes: Zur Karriere einer erfolgreichen globalen Institution stellte eine ebensolche internationale Organisation ins Zentrum. Anhand eines Überblicks über die historische Veränderung der Vergabe von Weltkulturerbesiegeln zeigte Brumann den Weg von einem ethnozentristisch-westlichen zu einem kulturrelativistisch-dynamischen Kulturbegriff. Kurzum, nachdem sich die UNESCO Welterbekommission von einer Fixierung auf „eherne“ Denkmäler gelöst habe, umfasse das Repertoire nun auch die Kategorie des „immateriellen Welterbes“. Die klassische Dichotomie von Tradition und Moderne werde somit durch eine Akzeptanz und Förderung von kulturellen Praktiken und "indigenem Wissen" in einer globalen Ordnung abgelöst. Diese Ethnologisierung der Auswahlkriterien habe auch zu einer statistisch wahrnehmbaren Auszeichnung nicht-westlicher Regionen mit dem für das nationale Bewusstsein wie den Zustrom von Touristen attraktiven "Gütesiegel" geführt. Während die anfängliche Dominanz europäischer und nordamerikanischer Staaten auch Ausdruck weltweiter Machtverteilungen gewesen sei, seien in den letzten Jahren mehr und mehr Welterbestätten in Asien, Australien und Südamerika ausgezeichnet worden. Dennoch bleibe die UNESCO Welterbekommission ein Beispiel für die politische Einflussnahme in internationalen Gremien. So seien laut Brumann afrikanische Staaten nach wie vor unterrepräsentiert. Zudem lasse sich ein neues Muster erkennen: Je weiter eine Region von der westlichen Welt entfernt sei, desto eher werde sie mit einer Stätte immateriellen Welterbes ausgezeichnet.

Als letzter Sprecher eröffnete WOLFGANG GABBERT (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität Hannover) mit einem Kommentar zu den verschiedenen Beiträgen eine Diskussion über weiterführende Fragestellungen zu „Wissen um Veränderung“. Entsprechend dem Thema hatten sich die Beiträge mit verschiedenen Forschungsparadigmen und Konzeptionen zu Veränderung auseinandergesetzt. Aber welche alternativen Forschungsparadigmen oder -richtungen konnten den Beiträgen entnommen werden? Welche Rolle nehme bei der reflexiven Auseinandersetzung „mit impliziten Modellen von Veränderungen“2 das Konzept der Ethnografie ein, das in keinem der Beiträge explizit angesprochen wurde? Inwieweit verschließe man sich mit einer derart reflexiven Debatte ethnografisch fundierten und/oder anwendungsorientierten Auseinandersetzungen mit Veränderungen? So stelle sich im Anschluss an Christoph Brumanns Vortrag die Frage, wie die Verschränkung von Auswahlkriterien und deren konkreter Anwendung bei der Vergabe von Weltkulturerbesiegeln methodisch in ihrer Prozessualität untersucht werden könne. Wie ließe sich das Verhältnis von Entscheidungsverfahren internationaler Organisationen und daraus folgenden Veränderungen mit dem bekannten ethnologischen Methodenspektrum erfassen? Patrick Neveling hatte ausgehend von seiner Diskussion der problematischen Dichotomisierung des „Lokalen“ und des „Globalen“ den populären Ansatz der multi-sited ethnography kritisiert. Es stelle sich jedoch, so Gabbert, damit auch bei seinem Vortrag die Frage, inwiefern dieses Verhältnis einer theoretisch informierten Methode zugänglich wäre.

In einem ähnlich problematischen Feld, der Anthropology of Public Policy, schreiben Wedel, Shore und Feldmann, dass die Analyse einer „policy“ ein Umdenken in der methodischen und theoretischen Konzeption des ethnografischen „Feldes“ erfordere.3 Sie könne nicht mehr in Form einer stationären Feldforschung untersucht werden. Die Autoren plädieren für Formen des „studying-through“, um stationärer Umsetzungen einer „policy“ auf ihren Entstehungszusammenhang in internationalen Diskursen zurückzuführen. Ethnologie befasse sich mit der scheinbaren Neutralität einer „policy“ als einem „legal-rational way of getting things done“.4 Sie lege durch die Analyse die impliziten und heterogenen Modelle offen, die am Anfang einer „policy“ stehen, bevor sie an einem bestimmten Ort, mit dem Etikett neutral versehen, umgesetzt werden.
Die Vortragenden würden vermutlich einem rigiden Begriff des „studying-through“ nicht zustimmen. Insbesondere weil „policy“-geleitete Veränderungen nicht im Mittelpunkt der Beiträge standen. Aber die Vortragenden teilten die Feststellung, dass eine Analyse von Konzeptionen von Veränderungen raumzeitlich begrenzte lokale Räume überschreiten muss. So ist z.B. Neveling in seiner Feldforschung auf Rat eines Informanten den ersten „emischen“ Wirtschaftsdiagnosen der mauritischen Nationalökonomie in ein Archiv in London gefolgt. Und Brumann wird wahrscheinlich bei der Fortführung seines Forschungsprojektes der Vergabepraxis des Weltkulturerbes in den Entscheidungsgremien folgen. Randeria hingegen verfolgte systematisch die Geschichte der indischen Forstwirtschaftsprogramme. Sie erschloss auf diesem Weg die entanglements in der Formulierung kolonialer und postkolonialer Umweltpolitik in Indien ebenso wie die Kontinuität in den Auseinandersetzungen zwischen lokalen, staatlichen und internationalen Rechtsauffassungen.

Diese Anleihen aus Towards an Anthropology of Public Policy sollen aber auch eine weitere gemeinsame Stoßrichtung in den Beiträgen explizit machen. Wie eine „policy“ sind Konzeptionen von Veränderung keineswegs neutrale Beschreibungen der Wirklichkeit sondern verbergen in ihrer objektiven Zweck-Mittel Formulierung vielfältige politische Konsequenzen.5 Jeder Beitrag erinnerte daran, dass Forschung zu „Wissen um Veränderung“ eine politische und eine ethische Dimension hat. Die Frage der Diskutanten nach dem Platz der Ethnografie ließe sich in diesem Sinne auch als eine Forderung nach einer ständigen Vergewisserung über die Position der Wissenschaft innerhalb dieses Spannungsfeldes verstehen. Nicht nur die Unterscheidung zwischen „Wissen um Veränderung“ und empirisch beobachtbaren Veränderungen gibt Auskunft über diese Dimensionen. Vielmehr stand und steht die ethnografische Praxis als Forschungsmethode im Vordergrund, durch die das „Wissen der Anderen“ um Veränderungen - um eine Redewendung von Thelen aufzugreifen - in ihrer politischen und ethischen Bedeutung thematisiert werden können. Und in diesem Sinne bietet es sich auch an, die Tagung zu „Wissen um Veränderungen“ mit einer weiteren Tagung zum Thema „Veränderungen“ fortzusetzen.

Konferenzübersicht

ERDMUTE ALBER (Fakultät für Kulturwissenschaften/Facheinheit Ethnologie, Universität
Bayreuth): Begrüßung
PATRICK NEVELING (Institut für Ethnologie, Universität Halle): Einführungsvortrag „Wissen um Veränderung“

Sektion 1: Theoretische Überlegungen zu Wissen um Veränderung
RICHARD ROTTENBURG (Institut für Ethnologie, Universität Halle): Von der politischen Unverzichtbarkeit antizipativen Wissens
GUDRUN LACHENMANN (Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld): Wissenssoziologie und Geschlechterforschung: Ansätze mittlerer theoretischer Reichweite im Globalisierungskontext

Sektion 2: Zur Ambivalenz des Konzeptes Modernisierung
TATJANA THELEN (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle): Können postsozialistische Staaten modern werden? Oder: Vom Scheitern der Antizipation sozialen Wandels
SHALINI RANDERIA (Ethnologisches Seminar, Universität Zürich): Entangled Histories of Uneven Modernities: Nature-Making and State-Making in Post-colonial India

Sektion 3: Zur Teleologie und Rhetorik der Globalisierung
JUDITH BEYER (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle): Rhetoric of ‘Transformation’: The Case of the Kyrgyz Constitutional Reform
PATRICK NEVELING (Institut für Ethnologie, Universität Halle): Zur Relationalität emischer und etischer Vorstellungen von Veränderung anlässlich einer Krise der mauritischen Nationalökonomie im frühen 21. Jahrhundert
CHRISTOPH BRUMANN (Institut für Völkerkunde, Universität Köln): Die Dynamisierung des UNESCO-Welterbes: Zur Karriere einer erfolgreichen globalen Institution

Abschlussdiskussion
WOLFGANG GABBERT (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität Hannover): Abschlussdiskussion zu Wissen um Veränderung

Anmerkungen:
1 Erdmute Alber; Julia Eckert; Patrick Neveling, Call for Papers (ESSA-Herbsttagung 2007), Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel. <http://www.soziologie.de/sektionen/e01/index.htm>, 31.1.2008.
2 ebd.
3 Wedel, Janine; Shore, Cris; Feldman, Gregory, Toward an Anthropology of Public Policy, in: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 600, 1 (2005), S. 30-51.
4 ebd., S. 37
5 ebd., S. 37.