Nach dem Schrumpfen. 20 Jahre sozialwissenschaftliche Debatte um schrumpfende Städte. Theorien, Befunde, Handlungsparadigmen

Nach dem Schrumpfen. 20 Jahre sozialwissenschaftliche Debatte um schrumpfende Städte. Theorien, Befunde, Handlungsparadigmen

Organisatoren
Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V.
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2008 - 23.02.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Ralph Richter, Sozialpolitik, Institut für Soziologie der Universität Leipzig

Am 22. und 23. Februar 2008 veranstaltete die Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V. im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig die wissenschaftliche Tagung „Nach dem Schrumpfen - 20 Jahre sozialwissenschaftliche Debatte um schrumpfende Städte – Theorien. Befunde. Handlungsparadigmen“. Die Tagung fand in Kooperation und mit Unterstützung des Instituts für Soziologie der Universität Leipzig, des Kommunalpolitischen Forums Sachsen e.V., der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig sowie der Stadt Leipzig statt.

Einführung

Seit einigen Jahren findet in den Sozialwissenschaften und in angrenzenden Disziplinen eine intensive Auseinandersetzung um schrumpfende Städte statt. Nach Jahrzehnten, in denen Städte als Entwicklungsmotoren der Moderne galten, verlieren viele von ihnen in drastischer Weise an Anziehungskraft und an Einwohnern. In unseren Gesellschaften, die von der „Logik der Akkumulation“ geprägt sind, sorgt dies für Irritationen. Ausgangspunkt der Tagung war die Feststellung, dass trotz der intensiven, fachübergreifenden Debatte Defizite sowohl in der Theoriebildung als auch bei der systematischen Erforschung von sozialen, psychischen und kulturellen Konsequenzen schrumpfender Städte bestehen. Einer intensiven Beschäftigung bedarf zudem die Frage, wie ein Paradigmenwechsel zu neuen Deutungsmustern vollzogen werden kann, wenn Schrumpfung unumkehrbar wird. Die Referentinnen und Referenten waren dazu eingeladen, durch die Präsentation neuer Forschungsergebnisse auf diese Fragen zu reagieren. Der Titel der Veranstaltung bezieht sich zum einen auf die Debatte selbst, die gegenwärtig an Intensität verliert. Vor diesem Hintergrund diente die Tagung dazu, ein Zwischenfazit zu ziehen und der weiteren Auseinandersetzung neue Impulse zu verleihen. Eine zweite Lesart deutet auf die sozialen Konsequenzen wie auch auf den politischen Umgang mit einem Phänomen, das als dauerhafte Erscheinung erkannt wird.

Nach der Begrüßung durch AXEL PHILIPPS, den Vorsitzenden der Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V., führte RALPH RICHTER inhaltlich in die Tagung ein. Er erinnerte an den Beginn der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema, für den der Aufsatz „Die schrumpfende Stadt und die Stadtsoziologie“ wegweisend gewesen sei. Dieser wurde 1988 von Hartmut Häußermann und Walter Siebel veröffentlicht und stelle innerhalb der Debatte bis heute eine besondere Leistung dar. In ihrem Aufsatz hätten Häußermann und Siebel die schrumpfende Stadt als neuen Gegenstand in die Stadtsoziologie eingeführt und ihn als dauerhafte Erscheinung der nachfordistischen Ära gekennzeichnet. Ein weiteres Verdienst sei es gewesen, das empirische Phänomen mit Hilfe klassischer stadtsoziologischer Ansätze zu beschreiben. Auf diesen ersten Versuch der theoretischen Auseinandersetzung seien aus Sicht des Referenten zu wenige weitere gefolgt. Weiterhin sei Häußermanns und Siebels Arbeit bereits von dem Motiv geprägt, Schrumpfung nicht als Verlust sondern als Chance für alternative Entwicklungen zu begreifen. Da andere Optionen, wie Änderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen oder Aufholprozesse für viele Städte aussichtslos oder gesellschaftspolitisch problematisch seien, müsse der steinige Weg eines Paradigmenwechsels gegangen werden. Zugleich wies der Referent darauf hin, dass die Suche nach Chancen im Schrumpfen den Blick für die negativen sozialen Konsequenzen verstellen kann. Viele Konsequenzen, wie das Auflösen sozialer Netzwerke, das Entstehen von Armutsmilieus oder der Rückzug ins Private seien aus Falluntersuchungen bekannt, jedoch selten systematisch untersucht worden. Die Soziologie halte eine Reihe theoretischer Erklärungen bereit, die am Beispiel schrumpfender Städte angewendet werden sollten. Die Ausführungen mündeten in drei Thesen, die als Anregung für Diskussionen und als inhaltliche Klammer der Tagung dienten:

1. In der Auseinandersetzung um schrumpfende Städte mangelt es an theoriegeleiteter Forschung.

2. Wachstumspolitik als Bewältigungsstrategie gegen Schrumpfung wird in einer insgesamt schrumpfenden Gesellschaft für viele Städte ein aussichtsloses Unterfangen bleiben. Gefordert ist deshalb ein Paradigmenwechsel, dessen Ziel es sein muss, Schrumpfung nicht als Verlust zu begreifen.

3. Bei der systematischen Untersuchung sozialer, psychischer und kultureller Wirkungen der Schrumpfung auf die Bewohner betroffener Städte gibt es Defizite. Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind wichtig, damit schrumpfende Städte nicht zu Orten der Reproduktion von Benachteiligungen werden.

Die Tagungsbeiträge wurden inhaltlich verschiedenen Panels zugeordnet. Das erste Panel enthält zwei Beiträge, die die Relevanz des Themas anhand internationaler Befunde aufzeigen und Vorschläge für den analytischen Umgang mit dem Schrumpfungsphänomen unterbreiten.

Internationale Befunde und Präzisierung des Begriffs

PHILIPP OSWALT, ursprünglich als Referent für den Eröffnungsbeitrag vorgesehen, musste bedingt durch Krankheit kurzfristig sein Kommen absagen. RALPH RICHTER übernahm diesen Vortrag. Entsprechend der Intention Oswalts wurde die Relevanz des Themas anhand historischer und internationaler Befunde deutlich gemacht und die wichtigsten Ursachen der Entwicklung benannt. Der Referent zeigte am Beispiel Deutschlands, dass die Anzahl schrumpfender Städte zwischen 2001 (345) und 2005 (580) kontinuierlich gestiegen ist. Damit betraf die Entwicklung im Jahr 2005 jede zweite deutsche Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern. Als wichtigste Ursachenkomplexe wurden der ökonomische Strukturwandel, Transformationsprozesse, Deurbanisierung und demografischer Wandel benannt. Angesichts des demografischen Wandels könne Schrumpfung, so der Referent in Anlehnung an frühere Arbeiten, als neues zivilisatorisches Muster gelten. Besonderen Wert legte Richter auf die analytische Trennung von Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen. Letztere könnten dazu führen, dass die Bewohner schrumpfender Städte auf verschiedenen Dimensionen (Arbeit, soziale Integration, psychisches Wohlbefinden, Daseinsvorsorge) von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen würden. Durch die soziale Selektivität von Wanderungen würde soziale Ungleichheit in den Raum übertragen. Schrumpfende Städte drohten dadurch zu räumlichen Manifestationen sozialer Ungleichheit zu werden, die sich durch weitere Prozesse, wie Sozialisation und soziales Lernen reproduzierten. In diesem Zusammenhang verwies der Referent auf den Grundgesetzartikel 72, der die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Gebieten der Bundesrepublik proklamiert. Dieses Normativ sei gefährdet, wenn Menschen in schrumpfenden Städten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gesellschaftlich anerkannte Ziele schlechter erreichen könnten als Menschen in anderen Städten und Regionen. Hierbei gehe es weniger um den Gleichheits- als vielmehr um den Gerechtigkeitsgrundsatz.

Der folgende Beitrag unter dem Titel „Schrumpfung definieren“ ist eine Gemeinschaftsarbeit von KATRIN GROßMANN, DIETER RINK und ANNEGRET HAASE und wurde von den beiden Erstgenannten präsentiert. Ziel des Vortrags war es, ein international tragfähiges und die Debatte versachlichendes Konzept urbaner Schrumpfung zu entwickeln. Dazu wurde zunächst der lange Zeit umstrittene Begriff des Schrumpfens in Auseinandersetzung mit englischsprachigen Begriffsbildungen wie „decline“ oder „decay“ eingeordnet. Im Vergleich zu diesen bewerten sie den Schrumpfungsbegriff als deutlich weniger stigmatisierend. Während im angloamerikanischen Kontext Schrumpfung problematisiert und Strategien zur Umkehrung des Prozesses erarbeitet würden, zeichne sich die deutsche Debatte durch die gleichzeitige Betonung der Chancen und eine Dramatisierung der Folgen aus.
Im Weiteren schlagen die Referenten vor, den Bevölkerungsrückgang als zentralen Indikator des Schrumpfungsbegriffs zu definieren und diesen von weiteren Merkmalen zu entkleiden, die ihrerseits als Ursachen oder Wirkungen des Bevölkerungsrückgangs beschrieben werden können. Ziel müsse eine Begriffsbestimmung sein, die international vergleichende Untersuchungen ermögliche. Den bereits vom Vorredner thematisierten Ursachenkomplex ergänzten sie um politische und umweltspezifische Ursachen von urbaner Schrumpfung. Dagegen ordneten sie Suburbanisierung und Fernwanderung zusammen mit dem Geburtenrückgang dem Indikator Bevölkerungsrückgang als drei zentrale Dimensionen zu, die von Ursachen auf der gesellschaftlichen Ebene ausgelöst werden. Den gesellschaftlichen Ursachen stellen sie die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf städtischer Ebene entgegen, geordnet nach verschiedenen Komplexen wie dem Wandel der Bevölkerungs- und Haushaltsstrukturen, einer Entdichtung der Stadt, einem Absinken des Arbeitsplatz- und ggf. Arbeitskräfteangebots sowie dem Finanzaufkommen und dem Auftreten von Unterauslastungen.
Als eine Anwendungsmöglichkeit des vorgestellten Konzepts urbaner Schrumpfung stellen Großmann, Rink und Haase schließlich am Schluss des Vortrags Möglichkeiten zur Erarbeitung einer qualitativen Typologie schrumpfender Städte vor. In Abgrenzung zu der von Mykhnenko und Turok (2007) vorgenommenen quantitativen Typisierung der Bevölkerungsentwicklung schlagen sie eine qualitative Typenbildung vor, die den Strukturen der Städte anhand der je spezifischen Ursachen und Wirkungen Rechnung trägt.

Paradigmenwechsel

Das zweite Panel beschäftigte sich mit verschiedenen Sichtweisen auf den vielfach geforderten Paradigmenwechsel. PETER DEISINGER ging es darum zu zeigen, dass die Großstädte der alten Industrieländer, die lange Zeit als Motoren und Taktgeber gesellschaftlicher Innovation galten, unzeitgemäß geworden seien. Hierfür findet er empirische wie auch theoretische Belege. Die nachlassende Anziehungskraft und Schrumpfung von Großstädten sei ebenso Beleg wie die Tendenz von Städten, sich zu Metropolregionen zusammenzuschließen statt eigenständig zu agieren. Deisinger erkennt darin Zeichen für das Verschwimmen der Grenzen zwischen urbanem und suburbanem Raum, das durch elektronische Vernetzung und Kommunikation noch verstärkt werde. Theoretisch stützt er sich auf die Netzwerktheorie Manuel Castells (1990) und auf Weiterentwicklungen der Theorie durch Smith und Timberlake (2002). Das Verschwimmen der Grenzen könne dann gelesen werden als die von Castells proklamierte Absorption des Raums der Orte durch den Raum der Ströme. Die Entwicklung, die die Großstädte als gesellschaftliche Innovatoren in Gang gesetzt haben, überholt diese oder, um in Deisingers Bild zu bleiben, Kronos, Vater des Zeus, frisst seine Kinder.

Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt KATRIN GROßMANN. Ziel ihres Beitrags, der auf den Ergebnissen ihrer Dissertation beruht, ist es, den Paradigmenwechsel, aufgefasst als Transformation von Deutungsmustern, in der Stadtentwicklung zu theoretisieren. Zentral ist die Frage, ob Schrumpfung dominante Denkkonzepte der Stadtentwicklung derart erschüttern kann, dass alternative Entwicklungskonzepte in den Fokus rücken. Dabei geht es ihr weniger um konkrete Maßnahmen als vielmehr darum, wie Akteure Stadtentwicklung vorbewusst konzipieren. Großmann beruft sich auf Theorien zur Transformation von Sinnstrukturen, wie sie u.a. von Geertz, Oevermann oder Sahlins entwickelt wurden und bezieht sich auf die Diskursanalyse mit und nach Foucault. Als empirisches Beispiel wählte sie die Stadt Chemnitz, wo sie den Diskurs über eineinhalb Jahre analysierte.
Als Ergebnis ihrer Arbeit präsentierte die Referentin fünf Deutungsmuster, wobei sie als hegemoniale Denkstruktur ein Kreislaufmodell ausmacht, in welchem das marktwirtschaftliche und gestalterische Deutungsmuster kombiniert werden. Hierbei handelt es sich um die Vorstellung, Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftliche Prosperität und Stadtgestaltung seien so miteinander verkoppelt, dass wirtschaftliches Wachstum und gute bauliche Gestaltung zu einer sich selbst antreibenden prosperierenden Entwicklung führen. Oder entgegengesetzt gelesen: negative wirtschaftliche Entwicklung setze eine Abwärtsspirale in Gang, die alle Bereiche der Stadt mitreißt. Großmann kann nun zeigen, wie dieses hegemoniale Modell unter der Bedingung eines bedeutenden Strukturbruchs, wie er sich in Chemnitz durch Schrumpfung vollzieht, an mehreren Stellen irritiert wird. Die Irritationen wiederum begünstigen integrative Denkmuster, in denen die Interdependenz unterschiedlicher Dimensionen und Teilbereiche städtischer Entwicklung die zentrale Logik von Stadtentwicklung bestimmen. Daraufhin formuliert Großmann die These, dass das Ereignis der Stadtschrumpfung einen Paradigmenwechsel hin zu einer integrativen Logik von Stadtentwicklung möglicherweise begünstigt. Die weitere Entwicklung sei abhängig von Richtungsentscheidungen deutungsmächtiger Akteure. Am ehesten sei eine Umorientierung bei der Diskursgemeinschaft der Planer zu erwarten.

STEFAN WEBER beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den Chancen eines Paradigmenwechsels vor dem Hintergrund des politischen Normativs der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Beginnend bei den gesetzlichen Quellen des Gleichwertigkeitsprinzips, denen er Beliebigkeit bescheinigte, zeigte er exemplarisch anhand von Bodenpreisen und Flugdestinationen das Fehlen von Gleichwertigkeit. Aus seiner Sicht konnte das jahrzehntelange Bemühen um gleichwertige Lebensverhältnisse bis heute diese nicht herstellen, mehr noch, die angewendeten Instrumente, wie Länderfinanzausgleich und Anschubfinanzierungen würden die falschen Anreize schaffen. Die Ergebnisse seien unter anderem Verschuldungen öffentlicher Haushalte, Kleinstaaterei und der Verantwortungsverlust bei der Verwendung von Fördermitteln, die oft in der Hoffnung eingesetzt würden, durch Investitionen Nachfrage zu erzeugen. Der Hoffnung auf Nachfrage und Wachstum stellte Weber im Folgenden die Verringerung der Nachfrager bzw. die Schrumpfung der Bevölkerung gegenüber. Als weitere Entwicklungen wies der Referent auf die kontinuierliche Verringerung von Ausgleichszahlungen und steigende Infrastrukturkosten im Zuge nachlassender Nutzung hin. Das führte Weber zu dem Schluss, dass das Bemühen um die Herstellung von Gleichwertigkeit durch Schrumpfung untergraben werde und den Glauben daran erschüttere. Aus Sicht des Referenten behindere das Gleichwertigkeitsprinzip mögliche Paradigmenwechsel. Stattdessen müssten Gleichzeitigkeiten akzeptiert werden. Hier sei eine neue Ehrlichkeit gefordert. Ein Paradigmenwechsel müsse die Abkehr vom Wachstumsdogma hin zum Nachhaltigkeitsprinzip beinhalten, so der Referent abschließend.
Der Vortrag von Stefan Weber wurde im Plenum mit großem Interesse aufgenommen und als Blick über den „akademischen Tellerrand“ empfunden. Letzteres erklärt sich aus Webers Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der Sächsischen Aufbaubank.

Dokumentarfilm Neuland

Im Rahmen der Tagung konnten wir den Berliner Filmemacher HOLGER LAUINGER dafür gewinnen, seinen (zusammen mit Daniel Kunle gedrehten) Dokumentarfilm „Neuland“ vorzustellen. In Ergänzung der wissenschaftlichen Debatte ergab sich somit die Möglichkeit zur künstlerischen Reflexion. Aufführungsort war das UT Connewitz, eines der ältesten noch bestehenden Kinos in Deutschland. Neben den Tagungsteilnehmern, von denen etwa die Hälfte den Weg in den Leipziger Stadtteil Connewitz antrat, waren unzählige Leipziger gekommen. Bald waren alle der etwa 120 Sitzplätze belegt, so dass einige Gäste auf dem Boden Platz nahmen.

Ausgangspunkt des 75-minütigen Dokumentarfilms war die Infragestellung des Gleichwertigkeitsprinzips durch verschiedene Politiker. Inhaltlich führte der Film damit die zuvor von Stefan Weber aufgeworfene Frage um das Gleichwertigkeitsprinzip weiter. In beeindruckenden Bildern zeigte der Film, wie sich Ungleichwertigkeit in verschiedenen Regionen manifestiert. Großflächiger Rückbau von Städten, weite, ihrer Nutzung entledigte Landstriche, Menschen, die auf T-Shirts den Schriftzug „Die Überflüssigen“ tragen. Der Film zeigt aber nicht nur die Folgen von Schrumpfung, sondern lässt Menschen zu Wort kommen, die sich der Situation entgegen stellen oder sie als Chance nutzen. Beispiele sind zwei Studienabsolventen, die auf nicht benötigten Flächen eine Schneckenzucht eröffnen, ein Bürgermeister, der in einer entleerten Region einen Aufruf an Kolonisten verfasst oder „Die Überflüssigen“, die entgegen dem Bild des sich gesellschaftlich zurückziehenden Arbeitslosen, ihre Situation in die Öffentlichkeit tragen. Keiner der Protagonisten, so eine Erkenntnis, die sich beim betrachten des Films einstellt, wartet auf staatliche Intervention. Vielmehr werden staatliche Akteure und gesetzliche Regelungen oft als Behinderung empfunden.

Im Anschluss an den Film erklärte HOLGER LAUINGER die Intentionen der Filmemacher und stellte sich den Fragen aus dem Publikum.

Politische und planerische Handlungsoptionen. Das Beispiel Leipzig

Der zweite Veranstaltungstag begann mit zwei Beiträgen, die sich den Handlungsoptionen und Akteurskonstellationen anhand des Fallbeispiels Leipzig widmeten. Bei BIRGIT GLOCK stand die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen lokale Akteure zu Lösungsansätzen bereit sind, die von den herkömmlichen, an Wachstumsprozessen ausgerichteten Instrumenten und Strategien abweichen. Mit ihrer Problemstellung greift die Referentin eine Annahme von Hartmut Häußermann und Walter Siebel aus einem 1985 in der Zeitung „Die Zeit“ erschienen Artikel auf, wonach auf Wachstum zielende Stadtentwicklungspolitik unter Schrumpfungsbedingungen negative Effekte zeitigen kann. Vergleichend zu Leipzig widmet sich die Referentin der Stadt Duisburg, die gleichfalls vom ökonomischen Strukturwandel und von Schrumpfung betroffen ist. Auf den ersten Blick glichen sich die Reaktionsmuster beider Städte. Hier wie dort sei mit Großprojekten klassische Wachstumspolitik betrieben worden. Darüber hinaus habe Leipzig aber innovative städtebauliche Maßnahmen entwickelt, um den Folgen des Schrumpfens zu begegnen. Beispiele seien die Aufwertung von Brachflächen sowie Selbstnutzerprogramme. Derartige Strategien im Umgang mit Schrumpfung habe es in Duisburg kaum gegeben. Wie die Referentin im Folgenden ausführte, seien spezifische Akteurskonstellationen und Handlungsorientierungen ausschlaggebend für die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien. Während Schrumpfung in Duisburg vor allem als zeitweiliges wirtschaftspolitisches Problem wahrgenommen und man damit der Tragweite kaum gerecht wurde, sei Schrumpfung in Leipzig als längerfristiger Zustand erkannt worden. Der innovativere Umgang in Leipzig sei durch einen höheren Problemdruck auf dem Immobilienmarkt und durch eine starke Konsensorientierung zwischen Verwaltung und Stadtpolitik erklärbar, so die Referentin weiter. In Duisburg habe Verwaltung und Politik demgegenüber stärkere Rücksicht auf die Industrie- und Handelskammer genommen. Offene Beziehungsstrukturen in Leipzig, ein exklusives „Erhaltungsregime“ in Duisburg, so fasst Glock die je unterschiedlichen Akteurskonstellationen zusammen. Am Ende des Vortrags stellte die Referentin fest, dass der Problemdruck allein nicht ausreiche, um neue Stadtentwicklungsstrategien zu institutionalisieren. Als Innovationsmotor sieht Glock die Verwaltung und weniger private Akteure oder Verbände.

KAROLIN PANNIKE vom Dezernat Stadtentwicklung und Bau der Stadt Leipzig hatte in ihrem nun folgenden Vortrag Gelegenheit, eine „Innensicht“ auf die Entwicklung Leipzigs zu präsentieren und die Darstellungen ihrer Vorrednerin um aktuelle empirische Befunde und Maßnahmen zu ergänzen. Einführend stellte die Referentin die Situation Leipzigs in den 1990er Jahren dar, die von einer Verringerung der Industriearbeitsplätze auf ein Zehntel, von starken Bevölkerungsverlusten und von wachsenden Wohnungsleerständen geprägt gewesen sei. Wie die Referentin weiter zeigte, hätten sich diese Entwicklungen etwa seit dem Jahr 2000 umgekehrt. Der städtischen Bevölkerungsprognose folgend, welche weitere positive Einwohnerentwicklungen bis 2020 vorausschätzt, könnte das Bild der schrumpfenden Stadt für Leipzig in den nächsten Jahren in Frage gestellt werden. Kleinräumig zeigt sich hingegen ein differenziertes Bild. Ob bezogen auf die Bevölkerungsdichte, auf den Altersdurchschnitt, auf Leerstände oder soziale Indikatoren – auf den unterschiedlichsten Dimensionen sei eine Polarisierung auf Ortsteilebene zu beobachten. Wie reagierte die Stadt Leipzig auf diese Entwicklungen? Pannike beantwortet diese Frage mit Verweis auf die so genannte strategische Stadtentwicklungsplanung. Der Ermittlung von Gebieten mit hoher Problemintensität folgten konkrete Erhaltungsmaßnahmen (Ausweisung von Sanierungsgebieten, Förderungen wie z.B. das Gebäudesicherungsprogramm, Unterstützung von Selbst- und Zwischennutzern) sowie Umbaumaßnahmen (Rückbau von Wohngebäuden, Aufwertung von Brachflächen, Gestaltung von Wasserläufen). Auffallend an den vorgestellten Projekten war der Wille zur Nachhaltigkeit, der sich in der räumlichen Konzentration auf das innere Stadtgebiet, im Nachfrageprinzip und in der angestrebten Evaluierung ausdrückt. Damit scheinen die Maßnahmen zu bestätigen, was bereits die Vorrednerin Birgit Glock unter dem Stichwort innovative Konzepte Leipzig attestierte. Abschließend ging Pannike auf zukünftige Herausforderungen ein, die sie weiterhin in der demografischen und baustrukturellen Polarisierung von Stadtteilen und in einem schwindenden Konsens gemeinsamer Stadtumbauziele sieht. Letzterem solle durch eine fachübergreifende Strategie für die gesamtstädtische Entwicklung vorgebeugt werden.

Schrumpfung als Resultat individueller Entscheidungen. Theorien und Befunde.

Das nun folgende Panel vollzog einen Perspektivenwechsel von der Beschäftigung mit Institutionen und ihren Akteuren hin zu Individuen. Nicht mehr das Handeln von Entscheidungsträgern stand nun im Vordergrund sondern dasjenige der Bewohner. Den Anfang machte PETER FRANZ, der sich im ersten Teil seines Vortrags mit der Frage beschäftigte, wie Schrumpfung in sozialökologischen, stadtsoziologischen und stadtökonomischen Ansätzen erklärt wird. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass sich Schrumpfung aus zwei Quellen speise, nämlich dem Sterbeüberschuss und dem Wanderungsdefizit. Da nahezu alle Großstädte einen Sterbeüberschuss aufwiesen, sei das Saldo aus Zu- und Abwanderung für die Ursachenforschung entscheidend. Zu wenig beachtet werde dabei, dass Schrumpfung immer auf den Entscheidungen Einzelner beruhe und Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Situationen im Lebenszyklus die wichtigsten Beweggründe für Wohnortwechsel seien. Häufig werde aber allein die ökonomische Lage als Erklärung herangezogen. Als Beispiel nennt Franz den Produkt-Lebenszyklus-Ansatz von Friedrichs (1994), in dem dieser eine kausale Verbindung zwischen der Alterung von Produkten und dem ökonomischen Niedergang einer Stadt sowie ihrem demografischem Niedergang herstellt. Die Tiebout-Hypothese, die der Referent im Folgenden vorstellte, gehe dem gegenüber von der Priorität des Politischen aus, denn entscheidend für Wanderungsentscheidungen sei hier die Ausstattung einer Stadt mit öffentlichen Gütern. Diese Annahme finde in Albert O. Hirschmans „Exit und Voice“-Ansatz seine Fortsetzung.
Der zweite Teil von Franz’ Beitrag ist programmatisch „Grenzen einer ‚Politik des Schrumpfens’“ überschrieben. Aus Sicht des Referenten sei eine Politik des Schrumpfens für Politiker auf Dauer unattraktiv, da sie sich mit schwer vermittelbaren Dingen, wie dem Rückbau von Infrastruktur beschäftigen müssten und es bei der „Anpassung“ sozialer Infrastruktur zu Verteilungsproblemen käme. Wie mit einer Politik der Schrumpfung urbane Qualitäten erhalten werden könnten, sei eine ungelöste Frage. Insbesondere aber beinhalte eine solche Politik die Gefahr, sich von vornherein als Verlierer im Standortwettbewerb zu positionieren. Aus Sicht des Referenten sind zentrumsnahe Aufwertungsmaßnahmen zur Steigerung der Attraktivität sowie Investitionen in Bildung geeignetere Maßnahmen. Das gelte gerade angesichts der Tatsache, dass Städte immer schon auf Zuwanderung von außen angewiesen gewesen seien. Abschließend vertrat der Referent noch einmal die Ansicht, dass der Abschied vom Wachstumsparadigma für größere Städte keine realistische Perspektive sei. Allenfalls in solchen ländlichen Regionen, in denen Erwerbstätigkeit weniger auf Einkommens- und Beschäftigungszuwächse ausgerichtet ist, sei dies eine realistische Option.
Die Thesen des Referenten wurden anschließend im Plenum kritisch beurteilt. Neben genereller Kritik an Franz’ Plädoyer für die Beibehaltung der Wachstumspolitik wurde auch die Frage aufgeworfen, aus welchen Quellen sich Städte mit einer Politik der Zuwanderung speisen sollten, wenn in einer insgesamt schrumpfenden Gesellschaft Wachstum nur auf Kosten anderer realisierbar sei. Der Referent verwies hierzu auf das mit der EU-Osterweiterung entstandene, bisher aber durch die arbeitsmarktbezogene Abschottungspolitik weitgehend gedrosselte Zuwanderungspotenzial.

RALPH RICHTER ging in seinem Beitrag der Frage nach, was Schrumpfung für die Bewohner betroffener Städte bedeutet und wie diese Entwicklung ihr Handeln beeinflusst. Ebenso wie sein Vorredner nahm Richter dabei eine handlungstheoretische Perspektive ein, wonach Schrumpfung das Ergebnis einer Vielzahl von Wanderungsentscheidungen sei. Aus Sicht des Referenten ist eine der naheliegendsten Fragen der Schrumpfungsdebatte, nämlich die, inwiefern Menschen das Schrumpfen ihrer Stadt überhaupt als problematisch empfinden, bisher kaum systematisch untersucht worden. Implizit werde zwar angenommen, dass die Entleerung des eigenen Wohnortes von Menschen als Verlust empfunden und deshalb als Problem wahrgenommen werde. Es sei aber auch denkbar, dass sich Abwanderung, so sie nicht nahe stehende Personen betrifft, jenseits des Wahrnehmungshorizontes von Bewohnern vollzieht. Eine dritte Möglichkeit bestünde in einer positiven Beurteilung, weil weniger Einwohner sinkende Mieten und mehr Ruhe bedeuten. Anhand der Ergebnisse einer Mehrebenenanalyse zeigte der Referent, dass Bewohner Wanderungsdefizite sehr genau wahrnehmen und diese auch als problematisch empfinden. Das betreffe in besonderem Maß die Bewohner von Städten zwischen 10.000 und 100.000 Einwohnern. Aber auch Großstadtbewohner würden Wanderungsdefizite registrieren und sich davon emotional betroffen fühlen, wenn auch in geringem Maß als Klein- und Mittelstädter. Wie der Referent im Weiteren zeigte, bestünden zudem große Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen. Während die Bewohner ostdeutscher Städte das Verhältnis von Ab- und Zuwanderung ausgesprochen gut einschätzen könnten und Schrumpfung als problematisch empfänden, seien diese Wahrnehmungen und Empfindungen bei Bewohnern westdeutscher Städte deutlich geringer ausgeprägt. Dies sei offenbar Ausdruck der Tatsache, dass Schrumpfung in der ostdeutschen Öffentlichkeit deutlich stärker thematisiert werde.
In einem weiteren Schritt überprüfte Richter anhand von Erhebungsdaten die Frage, inwiefern Wanderungsdefizite im Kontext weiterer Merkmale, wie der Lage auf dem Arbeitsmarkt oder der Zufriedenheit mit der Arbeit von Lokalpolitikern einen eigenständigen Erklärungsanteil an der Problemwahrnehmung besitzen. Für die Definition von Schrumpfung sei das eine entscheidende Frage, denn würde Abwanderung nur im Kontext einer schlechten Arbeitsmarktlage und bei Politikverdrossenheit wirken, dann wäre die Definition von Schrumpfung als rein demografischer Terminus zu hinterfragen. Anhand verschiedener statistischer Modelle zeigte der Referent, dass die emotionale Betroffenheit von Abwanderung auch unter Hinzufügung weiterer Determinanten einen eigenen Erklärungsanteil auf die Zufriedenheit mit den örtlichen Lebensbedingungen behält. Die Wahrnehmung wie viele Menschen dem eigenen Wohnort den Rücken kehren, sei für die Beurteilung der Lebensbedingungen am Wohnort zwar nicht alles entscheidend, beeinflusse aber unabhängig von der wirtschaftlichen Situation und weiteren Ursachen dieses Urteil.
Den dritten Teil seines Beitrags eröffnete der Referent mit verschiedenen Beispielen für Identitätspolitiken, wie dem Bau prestigeträchtiger Gebäude, Stadtfeste und Imagekampagnen. Der gemeinsame Nenner dieser so unterschiedlichen Maßnahmen sei der Versuch, unter den Bewohnern einer Stadt ein Gemeinschaftsgefühl und darüber vermittelt, ortsbezogenes Handeln zu erzeugen. Als Beleg dieser Interpretation führte der Referent kollektive Identitätstheorien ins Feld, die experimentell gezeigt hätten, wie gemeinsam geteilte Werte sowohl eine Gruppenidentität als auch gruppenkonformes Handeln erzeugten. Städte wären aus dieser Sicht Gruppen und ihre Bewohner Mitglieder dieser Gruppe. Die Frage sei nun, in welchem Maß kollektive Identität tatsächlich zu gruppenkonformem Verhalten, darunter Engagement für den Wohnort und die Entscheidung gegen Abwanderung, beiträgt. Wie, so der Referent weiter, ändere sich dieser Zusammenhang, wenn sich die Situation am Wohnort z.B. durch Schrumpfung verschlechtert? Zur Beantwortung dieser Fragen greift Richter auf Albert O. Hirschmans Theorie „Exit, Voice, and Loyalty“ (1970) zurück. Aus dieser wurden zwei zentrale Annahmen entwickelt, die sich anhand von Erhebungsdaten weitgehend bestätigten. Demnach führe Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen am Wohnort dazu, dass Menschen deutlich häufiger einen Fortzug in Betracht zögen. Weiterhin stehe eine solche negative Einschätzung in keiner Verbindung zur Bereitschaft für orts- bzw. gruppenbezogenes Engagement. Würde die Zufriedenheit aber in Interaktion mit lokaler Identifikation betrachtet, ändere sich das Bild. Wie Richter anhand statistischer Kennzahlen zeigte, würden Menschen, die sich stark mit ihrem Wohnort identifizieren trotz schlechter Lebensbedingungen eher zum Bleiben denn zur Abwanderung tendieren. Gleichzeitig bestünde bei hoher lokaler Identifikation eine Bereitschaft zu ortsbezogenem Engagement. Identitätspolitik, die zu einer Erhöhung lokaler Identifikation führe, könne deshalb trotz mancher Kritik ein wirksames Mittel sein, um Schrumpfung und ihren Folgen zu begegnen.

Handlungsoptionen aus stadtökologischer Perspektive

Nachdem die Tagung im vierten Panel stark theoretische Züge angenommen hatte, versprachen die beiden letzten Beiträge, die sich schrumpfenden Städten aus planerischer Perspektive näherten, größere Praxisnähe. RAINER WINKEL begann seinen Vortrag mit der Einordnung der jüngsten Schrumpfungsdebatte in eine Auseinandersetzung um das Thema, die bereits in den 1970er Jahren begann, unter anderem durch eine Forschergruppe um den Soziologen Rainer Mackensen. Im Gegensatz zur allgemeinen Skepsis gegenüber Prognosen seien viele der damals gemachten Vorhersagen mittlerweile eingetroffen. Hier seien Handlungschancen vertan worden, was sich vor allem dadurch erkläre, dass Schrumpfung ein politisch ungeliebtes Thema sei. Entwicklung werde in Deutschland irrtümlich immer mit Wachstum gleichgesetzt, Rückgang als Misserfolg wahrgenommen. Erst der unübersehbare Handlungsdruck in Ostdeutschland habe zu ernsthaften Maßnahmen geführt. Im Folgenden vertrat der Referent die Ansicht, dass Schrumpfung durchaus Chancen für qualitative Verbesserungen beinhalte, dass diese aber durch die schrumpfungsbedingte prekäre Finanzsituation der Kommunen nicht umgesetzt werden könnten. Hinzu käme die sich abzeichnende Verringerung von Mittelzuweisungen durch das Auslaufen des Solidarpakts und durch die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs. Statt qualitativer Verbesserungen seien Rückbau und Schließungen die Perspektiven, die für Politiker aber höchst unattraktiv seien. Die Analyse mündete in Winkels Plädoyer für ein aktives Handeln der Entscheidungsträger. Mit einer Reihe von Beispielen machte Winkel seine Forderung plastisch, wobei er auf seine langjährigen Erfahrungen in der Planungspraxis und Politikberatung verweisen konnte. Das Aufzeigen von Folgen allein reiche nicht, sondern müsse immer auch umsetzbare Lösungen zur Problembewältigung beinhalten. Dazu gehöre, dass Handeln immer im Zusammenhang mit dem Finanzbedarf diskutiert werden müsse. Hiermit beuge man zu erwartenden Protesten gegen Entscheidungen vor. Weiterhin könnten Politiker entlastet werden, indem das Problem im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang dargestellt werde. Generell sei Schrumpfung schwerer zu steuern als Neuplanung, was verschiedene Planungsvarianten und eine kontinuierliche Fortschreibung notwendig mache. Eine besondere Problemkonzentration ergäbe sich für periphere ländliche Räume, wo Einschnitte in verschiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge unübersehbar seien. Da solche Kommunen aber weder über ausreichend finanzielle noch planerische Ressourcen verfügten, seien interkommunale Kooperationen unerlässlich.

Mit Blick auf die Diskussion um das Gleichwertigkeitsprinzip plädiert Winkel nicht für eine Neuinterpretation oder gar Abschaffung, sondern für eine Hinterfragung des Weges, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Ganz oben auf der Agenda stand für den Referenten die Frage der Standards. Als Beispiel nannte er die mangelhafte Anbindung des ländlichen Raumes an den öffentlichen Verkehr. So koste die Neueinrichtung von Bushaltestellen inklusive der zu bauenden Haltebuchten 50.000 bis 60.000 Euro. Wenn stattdessen Busse überall halten dürften, könnte durch Kostenumschichtungen eine deutlich bessere Anbindung ermöglicht werden. Es müsse erlaubt sein, Standards zu hinterfragen, gerade weil sie nicht wertfrei seien und immer einen Kompromiss aus Fachanforderungen und Finanzierbarkeit darstellten.

Abschließend ging der Referent der Frage nach, wie im politischen Mehrebenensystem mit Schrumpfung umgegangen werden könne. Eine Option auf Bundesebene sei die Berücksichtigung einer Art „Dünnbesiedlungszulage“ im Länderfinanzausgleich, einer Maßnahme die in ähnlicher Form in Sachsen-Anhalt Anwendung finde. Weiterhin sei der Rückzug aus peripheren Räumen denkbar. Dieses Szenario finde praktisch schon statt und werfe Fragen nach Mindeststandards auf. Auf Länderebene bestehe das Problem, dass in Landesentwicklungsplänen Schrumpfung kein raumordnerisches Ziel darstelle, was dazu führe, dass kaum erreichbare Ziele definiert würden. Kommunen könnten hier realistischer planen, besäßen aber allein zu geringe Ressourcen. Eine stärkere Vernetzung zwischen Kommunen und Ländern wie auch Raumordnungspläne mit verschiedenen Entwicklungsvarianten auf Länderebene seien Lösungsmöglichkeiten.

Zusammenfassend stellte der Referent fest, dass Schrumpfung zwar eine große politische Herausforderung bedeute, aber für die meisten Fragen längst Antworten vorlägen. Das Dilemma sei für ihn, dass nicht gehandelt werde. Je später man tätig werde, desto geringer würden aber die Gestaltungsspielräume und desto höher die Kosten.

Einem bislang wenig beachteten Schrumpfungsraum widmet sich BETKA ZAKIROVA im abschließenden Vortrag, nämlich dem Stadtrand. Als konkretes Fallbeispiel betrachtet sie den brandenburgischen Teil des engeren Verflechtungsraums Berlin-Brandenburg mit insgesamt 63 Gemeinden. Für die Referentin standen zwei Fragestellungen im Mittelpunkt. Zum einen ginge es um die Frage, wie und in welcher Weise sich Schrumpfungsprozesse am Stadtrand vollziehen. Zum anderen interessiere sie, mit welchen politisch-planerischen Strategien mit Schrumpfung am Stadtrand umgegangen wird. Für die Definition von Schrumpfung favorisierte die Referentin eine über Bevölkerungsverluste hinausgehende Auslegung, wonach Schrumpfung ein mehrdimensionaler komplexer Prozess sei, zu dem auch der ökonomische und bauliche Niedergang zählten. In einem ersten Schritt analysierte Zakirova Strukturdaten der Bevölkerungsentwicklung und der Entwicklung sozialversicherungspflichtig Beschäftigter seit 1990 und übertrug die Ergebnisse in eine Karte. Anhand dieser konnte sie anschaulich darstellen, dass es im Berliner Umland ein Nebeneinander von Schrumpfung und Wachstum (= sog. Patchworkmuster) gibt. Ein besonderes Merkmal sei der Unterschied von Bevölkerungsentwicklung und Entwicklung der SV-Beschäftigten in einer Reihe von Gemeinden. Während zwischen 1992 und 2005 nur wenige dieser Gemeinden von Bevölkerungsabnahmen betroffen waren, sank die relative Anzahl der SV-Beschäftigten (1994-2005) in zwei Dritteln aller untersuchten Gemeinden. Anhand der Ergebnisse von 43 Leitfadeninterviews konnte die Referentin im Weiteren zeigen, dass neben selektiver Ab- und Zuwanderung und historischer Nutzung von Flächen vor allem weiche Standortfaktoren, wie ein schlechtes Image oder eine als nachteilig empfundene Lage für Schrumpfung verantwortlich gemacht werden. Ein interessantes Nebenergebnis ist, dass keine der untersuchten Gemeinden die Prozesse als Schrumpfung oder Stagnation wahrnehmen. Stattdessen werde von „Stadtumstrukturierung“, „Stadtumbau“ und „Sanierung“ gesprochen. Die untersuchten Gemeinden warten auf „bessere Zeiten“ – auf Wachstum als Teil der Entwicklungszyklen. Zakirova schloss ihren Vortrag mit der These, dass Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse offenbar miteinander zusammen hängen. Diese seien Teil desselben Problems, zwei Seiten einer Medaille, mit anderen Worten sie seien Ursache und Resultat der urbanen Zyklen (van den Berg et al. 1982), deren Ergebnis eine polyzentrische Entwicklung der urbanen Region ist.

Abschlussdiskussion

An welchem Punkt befindet sich die Debatte um schrumpfende Städte? Wie könnte ein Fazit der Tagung lauten? Wo besteht weiterer Forschungsbedarf? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt der Abschlussdiskussion, die von ANNETT FRITZSCHE und RALPH RICHTER moderiert wurde. Ans Plenum gerichtet, wurden zunächst die eingangs aufgeworfenen 3 Thesen (Theoriearmut, Paradigmenwechsel notwendig, Mangel an systematischer Erforschung der psychischen, sozialen und kulturellen Folgen) zur Diskussion gestellt.

Bezüglich der geforderten theoretischen Tiefe herrschte im Plenum Uneinigkeit. Während dieses Ziel für zwei Hörer, die sich zu Wort meldeten, nicht vordringlich war, vermisste ein weiterer Hörer aufgrund eigener Forschungserfahrungen geeignete Theorien. Dem pflichtete der Moderator bei, der für die Stadtsoziologie zwar keinen Mangel an Theorien, wohl aber an deren Anwendung am Gegenstand schrumpfender Städte erkannte. Die Debatte werde mittlerweile in so vielen Disziplinen geführt, dass sich die Theoriethese nicht einheitlich beantworten lasse, lautete schließlich das Fazit. Ein weiterer Hörer hielt ein umfassendes Plädoyer für eine fachübergreifende Auseinandersetzung mit Schrumpfung. Am meisten hätten ihn jene Beiträge inspiriert, die aus dem engen Fachkanon ausbrächen und verschiedene Seiten der Entwicklung betrachteten. Als Beispiel wurden die Beiträge von Stefan Weber und Rainer Winkel genannt. Wichtig sei aus seiner Sicht, sich mit den verschiedenen Akteuren zu beschäftigen und die Frage der ökonomischen Bedingungen nicht aus dem Auge zu verlieren. Dieser Hinweis wurde von einem weiteren Hörer aufgegriffen, der sich ebenfalls für eine stärkere Berücksichtigung ökonomischer Belange aussprach. Daneben gab es eine Wortmeldung, die sich auf den Dokumentarfilm „Neuland“ und den Beitrag von Rainer Winkel bezog. Als Problemschwerpunkt seien dort nicht nur Städte sondern vor allem ländliche Räume genannt worden. Der Hörer sah deshalb die Beschäftigung mit diesen Gebieten als vorrangig an. Weitgehende Einigkeit herrschte bei der Frage nach dem Paradigmenwechsel. Dieser wurde nicht zuletzt angesichts des demografischen Wandels als notwendig erachtet. Zur dritten These gab es keine expliziten Wortmeldungen aus dem Plenum. Die Tagung endete mit einem Dank an alle Beteiligten, die mit ihren Referaten, mit anregenden Diskussionsbeiträgen und mit der Organisation zum Gelingen beitrugen.

An dieser Stelle möchten wir als Veranstalter die Gelegenheit ergreifen, um aus eigener Sicht ein Fazit zu ziehen. Vielfach wurde die anhaltende Aktualität des Themas betont, so dass von einem Ende der Debatte, wie es der Tagungstitel suggeriert, nicht die Rede sein könne. Dieser Ansicht schließen wir uns gern an, auch wenn der Titel der Tagung mehr als den Hinweis auf die Debatte impliziert. Interessant war zu beobachten, dass auf die frühen Arbeiten von Häußermann und Siebel (1985, 1988) mehrfach Bezug genommen wurde (Glock, Großmann/Rink, Richter). Nachdem diese Texte lange Zeit kaum wahrgenommen wurden, könnten sie sich nun zu Klassikern der stadtsoziologischen Debatte entwickeln. Einigkeit herrschte unter einigen Referentinnen und Referenten hinsichtlich der Definition von Schrumpfung als demografischen Terminus (Franz, Großmann/Rink, Richter) und bezüglich der analytischen Trennung in Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen (Großmann/Rink, Richter).

Den nach wie vor größten Diskussionsbedarf scheint die Frage nach dem Paradigmenwechsel zu beinhalten. Die meisten Referentinnen und Referenten, die sich mit der Frage beschäftigten, sahen die Notwendigkeit eines Politikwechsels in betroffenen Kommunen hin zu Entwicklungszielen, die nicht auf Wachstum lauten (Glock, Großmann, Richter, Weber, Winkel). Einzig Peter Franz mochte diese Ansicht nicht teilen und warnte vor einer Politik des Schrumpfens, da sie betroffenen Städten eine Verliererposition im Standortwettbewerb zuweise. Uneinigkeit herrschte auch bei der Frage der Gleichwertigkeit, die sich an den geforderten Paradigmenwechsel anschließt. Für Stefan Weber ist die Hoffnung eine Illusion, man könne Gleichwertigkeit mit politischen Mitteln herstellen. Stattdessen behindere das Gleichwertigkeitsprinzip den nötigen Paradigmenwechsel, welcher für Weber in der Abkehr vom Wachstumsdogma hin zum Nachhaltigkeitsprinzip besteht. Rainer Winkel befürwortete demgegenüber die Beibehaltung des Gleichwertigkeitsprinzips. Es bedürfe auch keiner Neuinterpretation, sondern einer Anpassung der Standards, an denen sich Gleichwertigkeit orientiert.

Einen weiteren Aspekt der Paradigmendiskussion machte der Dokumentarfilm Neuland deutlich. Ob es sich um den Ruf des Bürgermeisters nach Kolonisten oder um die Schneckenzüchter handelt, im Kleinen werden Paradigmenwechsel, die Schrumpfung als Chance begreifen, längst vollzogen. Keiner wartet in den gezeigten Beispielen auf den Staat. Im Gegenteil, staatliche Interventionen werden oft als Behinderung erlebt. Dieses Motiv tauchte auch in mehreren Tagungsbeiträgen auf, so in Webers Gleichwertigkeitskritik oder in Winkels Hinterfragen der Standards. Es scheint, als würde gesellschaftlichen Akteuren im Kontext der Schrumpfungsdebatte eine zunehmende Bedeutung beigemessen. Von anderen Akteuren war indes (fast) nie die Rede, zum Beispiel von Wirtschaftsunternehmen. Diese werden offenbar nur als Ursache, nicht aber als Teil einer Lösung gesehen. Ob diese Zuschreibung ausreicht, ist eine interessante Fragestellung für die „Governance“-Forschung.
Ein letztes Wort betrifft die Zusammensetzung der Referentinnen und Referenten. Diese war sehr gemischt und reichte von Geografen und Stadtplanern über Soziologen, Politik- und Kulturwissenschaftler bis hin zu Ökonomen und Künstlern. Wir haben diese Mischung, die auch die vielen Facetten der Debatte widerspiegelt, als sehr fruchtbar erlebt. Das gilt für die Beiträge wie auch die Diskussionen. Lediglich die Erwartung in Richtung einer theoretischen Weiterentwicklung erfüllte sich unter diesem Vorzeichen nur zum Teil. In diese Richtung weist auch die nachträglich geäußerte Kritik eines Referenten, für den durch die Gleichwertigkeitsdiskussion zu viele Diskussionsfelder eröffnet wurden. Über die breite Resonanz auf Seiten der Hörerinnen und Hörer haben wir uns sehr gefreut. Neben Fachpublikum wurde auch die interessierte Öffentlichkeit angesprochen. Das gibt Grund zu der Hoffnung, dass die Tagung Anregungen und Einsichten auch jenen bot, die noch nicht zu den Experten auf dem Gebiet zählen.

Kurzübersicht:

Ralph Richter (Universität Leipzig): Schrumpfende Städte – Internationale Befunde, Ursachen und Wirkungen
Dr. Katrin Großmann, Prof. Dr. Dieter Rink, Annegret Haase: (Helmholtz Zentrum für Umweltforschung Leipzig): Schrumpfung definieren
Peter Deisinger (Universität Hamburg): Kronos frisst seine Kinder. Oder: Warum die Großstadt unzeitgemäß geworden ist
Dr. Katrin Großmann (Helmholtz Zentrum für Umweltforschung Leipzig): Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zur Transformation von Deutungsmustern. Der Fall Chemnitz
Stefan Weber (Sächsische Aufbaubank Dresden): Alles wertlos – die neue Gleichwertigkeit?
Holger Lauinger (Filmemacher und Fachjournalist, Berlin): Diskussion zum Dokumentarfilm „Neuland“
Dr. Birgit Glock (Humboldt Universität Berlin): Umgang mit Schrumpfung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde
Karolin Pannike (Stadt Leipzig, Dezernat Stadtentwicklung und Bau): Stadtentwicklung in Leipzig im Spannungsfeld demografischer Veränderungen
Dr. Peter Franz (Institut für Wirtschaftsforschung Halle): Implizite und explizite Konzepte des Schrumpfens in stadtsoziologischen und stadtökonomischen Ansätzen
Ralph Richter (Universität Leipzig): Identität und Identifikation in schrumpfenden Städten
Prof. Dr. habil. Rainer Winkel (Deutsches Institut für Stadt und Raum, TU Dresden Netzwerk Stadt + Region): Schrumpfung – Herausforderung für Politik in Stadt und Raum
Betka Zakirova (Freie Universität Berlin): Schrumpfungsprozesse am Stadtrand

Organisatorinnen und Organisatoren:

Jens Busse, Peter Deisinger, Constanze Derham, Annett Fritzsche, Dörte Hein, Andreas Höfelmayr, Axel Philipps, Ralph Richter, Hagen Schölzel, Ralf Steinle (alle Leipziger Forschungsgruppe Soziales e.V.)

An der Tagung nahmen insgesamt 86 Personen teil, darunter 11 Referentinnen und Referenten.

Kontakt

Ralph Richter

info@forschungsgruppe-soziales.de

www.forschungsgruppe-soziales.de
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