Kirche und Krankenpflege sind eng miteinander verbunden – dafür stehen die Dienste der Diakonie. Mit der „Diakonisse“ bot der verbandlich verfasste Protestantismus, anders als im Rahmen der Landeskirchen, jungen Frauen seit dem 19. Jahrhundert erstmals die Möglichkeit, einen anerkannten Beruf zu erlernen. Doch die so genannte Mutterhausdiakonie als Lebens-, Dienst- und Glaubensgemeinschaft ist im Verschwinden begriffen. Die Krankenpflege wurde seit der Nachkriegszeit immer mehr von einem christlich motivierten „Liebesdienst" zu einem modernen Beruf umgestaltet, der zunehmend auch von Männern ausgeübt wird.
Die von Rajah Scheepers und Susanne Kreutzer vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover im dortigen Henriettenstift, einer Einrichtung der evangelischen Mutterhausdiakonie ausgerichtete Tagung „Krankenpflege und religiöse Gemeinschaft – Transformationen vom 19. bis 21. Jahrhundert“ erfasste den Wandel der Diakonie aus kirchen- und allgemeinhistorischer, sozial- und pflegewissenschaftlicher Perspektive. Forschungsprojekt und Tagung wurden im Rahmen des inzwischen beendeten „Tandem-Programms“ der VolkswagenStiftung gefördert, das die fachübergreifende Zusammenarbeit von Postdoktoranden zum Ziel hatte.
Die erste, von MONIKA HABERMANN (Bremen) und BARBARA DUDEN (Hannover) moderierte Sektion untersuchte den Wandel der Pflegepraxis vom christlichen Liebesdienst zum modernen Beruf und die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Pflegenden und Patienten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. GUNNAR STOLLBERG (Bielefeld) beleuchtete den sozialen Wandel in der Krankenversorgung vom 19. bis zum 20. Jahrhundert mit Hilfe der Systemtheorie Niklas Luhmanns, wobei er die Ebenen der Interaktion, der sozialen Bewegung, der Organisation und der Gesellschaft unterschied. Für die Ebene der Interaktion konstatierte er eine Entwicklung von der bürgerlichen Devise der Selbstmedikation hin zu einem patriarchalischen Laien-Experten-Verhältnis, das seit den 1960er-Jahren zunehmend in die Kritik geraten sei; mittlerweile sei unter den Schlagworten des „informed consent“ bzw. „shared decision making“ eine stärkere Beteiligung des Patienten an der Entscheidungsfindung gefordert und teilweise verwirklicht worden. Auf der Ebene der sozialen Bewegung hätten seit 1900 erst die Naturheil-, später die Selbsthilfebewegung die Schulmedizin in Frage gestellt. Auf der Ebene der Organisation habe sich um 1800 zunächst das allgemeine Krankenhaus herausgebildet, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend differenziert habe. Parallel dazu sei es zu einer Professionalisierung von Ärzten und Pflegenden gekommen. Gesellschaftlich sei seit dem 19. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung des sozialen Funktionssystems der Krankenpflege, eine zunehmende Trennung von der Religion, gegenwärtig schließlich die Entwicklung eines neuen, durch das Postulat der Machbarkeit gekennzeichneten Gesundheitsbewusstseins zu beobachten.
Konnte Stolberg längerfristige Tendenzen im Wandel der Krankenfürsorge aufzeigen, so ging er doch auf grundlegende Interessensschwerpunkte der Tagung nicht ein; vor allem die zentrale Funktion der Religion für die Krankenpflege noch im 19. Jahrhundert konnte er nicht befriedigend erklären. Wesentlich erhellender waren hier die Ausführungen KAREN NOLTES (Würzburg), die in ihrem Vortrag auf Grundlage der Briefe Kaiserswerther Pflegediakonissen die Frage untersuchte, inwiefern Ärzte und Krankenschwestern im 19. Jahrhundert einen unterschiedlichen Umgang hinsichtlich der Konfrontation Sterbender mit ihrem Zustand vertraten. Schien Diakonissen aus religiösen Gründen eine vollständige Aufklärung des Kranken erforderlich, um ein seliges Sterben zu gewährleisten, so wandten sich Ärzte aus medizinischen Gründen tendenziell dagegen, den Patienten von der Ernsthaftigkeit seiner Erkrankung in Kenntnis zu setzen, da dies eine immer noch mögliche Genesung verhindern konnte. Stand für Ärzte der Aspekt der körperlichen Heilung im Vordergrund, so sahen sich die Schwestern dem Gedanken einer stärker auf das Jenseits denn auf das Diesseits ausgerichteten Pflege verpflichtet, die der „Seelenpflege“ eine größere Bedeutung beimaß als jener des Leibes. Aus ihrer Gehorsamspflicht gegenüber den Ärzten einerseits und ihrem diakonischen Selbstverständnis andererseits musste für sie ein fundamentaler Konflikt resultieren.
Auch in den Überlegungen SUSANNE KREUTZERs (Hannover) stand das Verhältnis zwischen Schwestern und Pflegenden im Vordergrund, wobei sie dieses für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nahm. Sei Krankenpflege noch in den 1950er-Jahren auch als christlicher Liebesdienst begriffen worden, so habe sie sich durch neue arbeits- und tarifrechtliche Bestimmungen, den Ausbau der theoretischen Ausbildung und die Entwicklung hin zu einer tätigkeitsbezogenen Arbeitsteilung zunehmend zu einem modernen, rein säkularen Frauenberuf gewandelt. Mit dem Abschied von der Ganzheitspflege, der Entwertung des Erfahrungswissens und dem Wegfall der eigenständigen religiösen Kompetenz sei die Krankenschwester, einst die leiblich-geistliche Betreuerin der Patienten, zur bloßen Gehilfin des Arztes geworden. Mit dem Vortrag Kreutzers schloss der historisch-soziologische Teil der Sektion, die sich nun aktuellen pflegewissenschaftlichen Problemen zuwandte. Verbunden waren beide Teile der Sektion insofern, als auch im zweiten Teil die Auswirkungen der Operationalisierung und Optimierung des Pflegewesens auf das Verhältnis zwischen Personal und Patienten, die pflegerische Praxis und das Berufsethos der Pflegenden untersucht wurden.
Einleitend stellte SABINE BARTHOLOMEYCZIK (Witten-Herdecke) Überlegungen zum Professionalitätsbegriff in der Pflege an, wobei sie – anders als dies zuvor Nolte und Kreutzer gezeigt hatten –, nicht von einem eigenständigen Handeln Pflegender ausging. Aufgrund des im 19. Jahrhundert gängigen Verständnisses von Pflege als Dienen und Dienst sei Professionalisierung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als Annäherung an das ärztliche Handeln verstanden worden. Daher hätten Pflegende ihre eigene Entscheidungsverantwortung lange nicht erkannt, womit eine durchgreifende Professionalisierung verhindert worden sei. Erst die Pflegeversicherung habe die Frage der Eigenverantwortlichkeit Pflegender ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt, gehe jedoch von der Norm der pflegenden Angehörigen aus und fördere so ihrerseits kaum Professionalisierung. Ein Verständnis von Pflege als handwerklich richtigem Handeln und praxisfern etablierte Qualitätsstandards verhinderten zusätzlich problemorientiertes Denken. Erst eine Vernetzung zwischen Theorie und Praxis schaffe Voraussetzungen für eine angemessene Professionalisierung im Sinne einer Anerkennung von Pflege als eigenständiger therapeutischer Praxis, die jedoch durch den aktuellen ökonomischen Druck erneut gefährdet werde.
MANFRED HÜLSKEN-GIESLER (Osnabrück) beschrieb aus pflegewissenschaftlicher Perspektive die Professionalisierung der Pflege als Resultat systemischer Rationalisierungsprozesse, in deren Zentrum die informationstechnische Aufarbeitung stehe. Zu beobachten sei dabei ein Prozess der äußeren wie inneren Maschinisierung, eine Entwicklung von der Sorge um die Seele hin zu jener um die zur Datenkommunikation bestimmen Apparate, eine Technisierung der Wahrnehmung und Entwertung von Erfahrungswissen, eine Transformation der pflegerischen Praxis von einer bedarfsgerechten Versorgung des Patienten hin zu einem allein an den Erfordernissen der Institution ausgerichteten Handeln.
MARIANNE TOLAR und INA WAGNER (Wien) untersuchten die konkreten Auswirkungen der Operationalisierung auf die alltägliche Arbeitsroutine in Krankenhäusern. Sowohl die Vorbereitungsarbeiten für den Einsatz technischer Geräte als auch die Eingabe von Daten verursachten zusätzliche Arbeit, die oftmals vom Pflegepersonal übernommen werde. Neue Geräte veränderten die räumliche Situation im Krankenhaus. Außerdem erforderten ihre Entwicklung, Wartung und Anpassung den Einsatz zusätzlichen Personals. Durch Computersysteme würden bestimmte Arbeitsroutinen festgeschrieben. Moderne Kommunikationsmedien wie zum Beispiel Videoübertragungen führten zu einem Kontrollverlust der unmittelbar Beteiligten. Schließlich reflektierten die in einem Computersystem abgebildeten Arbeitsabläufe Machtstrukturen und trügen zu einer Ökonomisierung von Pflege bei.
ALEXANDRA MANZEI (Berlin) problematisierte in ihren Ausführungen zur Digitalisierung der Intensivmedizin die Ökonomisierung der Pflege auf noch grundlegendere Weise. Durch Digitalisierungstechniken komme es zu einer Restrukturierung des Entscheidungsverhaltens: Informationssysteme wie zum Beispiel die so genannten „scoring systems“ (Punktwertsysteme), ursprünglich zur Messung der Morbidität einer Krankheit entwickelt, ermöglichten auch eine Kosten-Nutzen-Analyse der Pflege zum Zweck der Personalplanung. Ärzte seien somit, oftmals im Widerspruch zu ihrem Berufsethos, gezwungen, ökonomische Logiken zu berücksichtigen. Einerseits müsse ein möglichst hoher Arbeitsaufwand dokumentiert werden, um Stellenkürzungen zu verhindern; andererseits führe allein die Dateneingabe zu einem gestiegenen Arbeits- und Zeitaufwand, wodurch sich die Betreuung der Patienten verschlechtere. Je mehr die Kontrolle auf den Arbeitszusammenhang zunehme, desto weniger bilde die Dokumentation die tatsächliche pflegerische Praxis ab.
Auch ULLRICH BAUER und LUKAS SLOTALA (Bielefeld) thematisierten das Spannungsverhältnis zwischen Berufsethos und Ökonomisierungsdruck. Die betriebswirtschaftliche Optimierung verringere die Autonomie von Pflegekräften. Systematische Rationierung von Pflegeleistungen und die daraus resultierende Arbeitsverdichtung führten zu berufsethischen Konflikten, aber auch zu normativen Anpassungsprozessen und damit zu einer von Ambivalenz und Verunsicherung gekennzeichneten Reaktion auf die neuen ökonomischen Anforderungen. Insgesamt lasse sich von einer Erosion der Bedarfsgerechtigkeit sprechen.
Die zweite, von GISELA MUSCHIOL (Bonn) und RAJAH SCHEEPERS (Hannover) moderierte Sektion beleuchtete den Wandel des Selbstverständnisses der Diakonie als religiöser Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Umbrüche in Kirche und Staat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einführend erinnerte Scheepers an die zentralen Aspekte der Diakoniegeschichte nach 1945: die Strukturprobleme der Mutterhausdiakonie durch den immer stärkeren Rückgang der Neueintritte; allmähliche Reformen, die parallel zu einer Modernisierung der Berufausbildung den Aspekt der spirituellen Gemeinschaft gegenüber jenem der Demut und Unterordnung hervorgehoben hätten; die ungeachtet aller Erschütterungen weiterhin große gesellschaftliche Bedeutung der Diakonie – neben der Caritas die größte wohltätige Organisation in Deutschland –, deren Profil jedoch durch den steigenden Ökonomisierungsbedarf gefährdet worden sei; schließlich die aus der Emanzipation der Frau in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft resultierenden Herausforderungen für die Kirche, denen sich die Diakonie nur zögernd gestellt habe, womit Lebensform, Selbstverständnis und auch Erscheinungsbild der Schwester als zunehmend rückwärtsgewandt erschienen seien.
HANS OTTE (Hannover) gab einen Überblick über die Entwicklung der Hannoverschen Landeskirche nach 1945. Otte stellte am Beispiel der größten evangelischen Landeskirche die Rolle der konfessionellen Ausrichtung der Landeskirche für die sich in ihren Grenzen befindlichen diakonischen Einrichtungen dar. Für die Zeit nach 1945 betraf das in erster Linie das schwierige Nebeneinander von Evangelischem Hilfswerk und Diakonie. Weiterhin skizzierte er die Bedeutung dieser Kirche mit Hinblick auf andere Landeskirchen als so genannte „intakte Kirche“.
HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) skizzierte den Neubeginn des Sozialstaats nach 1945 und die daraus resultierenden Folgen für die Diakonie. Der bundesrepublikanische Sozialstaat, errichtet in einer Phase wirtschaftlicher Hochkonjunktur, habe sich von jeher durch einen konservativen Charakter ausgezeichnet, was Reformen weitgehend verhindert habe. Seit den 1970er-Jahren habe er sozialpolitische Steuerungsinstrumente zunehmend gemäß einer Logik des Versorgungsstaates eingesetzt, woraus sich Fehlallokationen, eine Steigerung der Sozialquote und eine Entmündigung der „Objekte“ der Sozialpolitik ergeben hätten. Auch die Tatsache, dass sich die Pluralität der Träger des Sozialstaats, darunter Diakonie und Caritas, erhalten habe, sei durch seinen konservativen Charakter zu erklären. Diese aber hätten die problematischen Tendenzen des sozialen Sicherungssystems nicht klar erkannt und ihre Gründerväter zu Wegbereitern einer dem Versorgungsprinzip verpflichteten Sozialstaatlichkeit stilisiert, was Schmuhl zu Recht als ahistorisch kritisierte.
NORBERT FRIEDRICH (Kaiserswerth) stellte die internationale und ökumenische Entwicklung der weiblichen Diakonie nach 1945 am Beispiel des 1947 ins Leben gerufenen „Diakonia“-Weltverbandes dar, der sich, obwohl ihm bald deutsche Mutterhäuser beitraten, infolge der Nähe der deutschen Diakonie zum NS-Regime bewusst von deutschen theologischen Positionen und von der seit jeher von Deutschland geprägten Kaiserswerther Generalkonferenz distanzierte und sich explizit in der ökumenischen Bewegung positionierte. Auch wenn keineswegs alle mit der Gründung der „Diakonia“ verfolgten Ziele hätten umgesetzt werden können, so habe diese doch als internationales Begegnungsnetzwerk für Diakonissen eine nicht unwesentliche Bedeutung erlangt und so zu einer allmählichen Öffnung der Diakonie gegenüber anderen theologischen Positionen und dem gesellschaftlichen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie zu einem Wiederaufleben der religiösen Gemeinschaft beigetragen.
Auch UWE KAMINSKY (Bochum) thematisierte die internationale Dimension der Diakonie. Er illustrierte das Engagement der Kaiserswerther Diakonie auf den Arbeitsfeldern vor allem im Orient, bei dem es sich – so seine These – um „Innere Mission im Ausland“ gehandelt habe. Politisch deutete er es als Agent preußisch-deutscher Bemühungen zur Bildung kultureller Infrastrukturen im Ausland, religiös als Versuch der Evangelisation vor allem christlicher Glaubensgemeinschaften, nicht aber der Mission nichtchristlicher Konfessionen. Zu fragen wäre allerdings, ob die Tätigkeit der Diakonissen in diesem Zeitraum nicht differenzierter zu sehen ist. Die aus dem Ersten Weltkrieg resultierenden Machtverschiebungen hätten auch für die Kaiserswerther Auslandsdiakonie eine Zäsur bedeutet. Mit der Rückgabe der Einrichtungen sei es zu einer gewissen Nachblüte der Arbeit gekommen, der jedoch der zunehmende Mangel an einheimischem Nachwuchs ein Ende gesetzt habe. Bis in die 1950er-Jahre hinein seien die auswärtigen Arbeitsfelder, deren Aufgabe vor dem Hintergrund der allgemeinen Krise der Diakonie zu sehen sei, dennoch von zentraler symbolischer Bedeutung für Kaiserswerth gewesen.
Um die gesellschaftliche Bedeutung der Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert adäquat einschätzen zu können, waren die Ausführungen RELINDE MEIWES’ (Berlin) zur Relevanz katholischer Frauenkongregationen für die Krankenpflege aufschlussreich. Diese hätten in vielfacher Weise modellbildend für das Modell der Mutterhausdiakonie gewirkt. Auch infolge des Kulturkampfes sei ihre zentrale Stellung keineswegs erschüttert, sondern eher noch verstärkt worden. Katholische Frauenkongregationen wirkten laut Meiwes als Vorreiter auf den Gebieten der ambulanten Pflege und der Sozialarbeit. Frauen hätten sie eine spirituell erfüllende Tätigkeit und gleichzeitig Bildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten geboten, die ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft verwehrt gewesen seien. Damit hätten sie der Diakonie näher gestanden, als es der von beiden Seiten beschworene konfessionelle Antagonismus vermuten ließe. Indem Meiwes auf die Parallelen zwischen Kongregationen und Mutterhausdiakonie verwies und die Vorreiterrolle katholischer Organisationen betonte, zeigte sie anschaulich, welchen Erkenntnisgewinn eine in der Forschung noch immer viel zu selten eingebrachte konfessionsvergleichende Perspektive verspricht.
MICHAEL HÄUSLER (Berlin), der das Verhältnis von männlicher und weiblicher Diakonie untersuchte, wandte hiermit geschlechtergeschichtliche Perspektiven auch auf die tendenziell weniger stark erforschte männliche Diakonie an. Die dem diakonischen System eigene geschlechtsspezifische Trennung von Pflegenden und Gepflegten habe auf der Vorstellung unterschiedlicher Begabungen von Männern und Frauen beruht, die erst infolge des gesellschaftlichen Wandels in der Zwischenkriegszeit problematisiert worden sei. Sowohl durch die aggressive nationalsozialistische Konzeption von Männlichkeit als auch durch das von der ersten Frauenbewegung mit wachsendem Erfolg propagierte Prinzip der geistigen Mütterlichkeit, mit Hilfe dessen Sozialarbeit als ausschließlich weibliche Domäne reklamiert worden sei, sei die männliche Diakonie in eine Position der Defensive geraten.
UTE GAUSE (Bochum) betonte in ihren Ausführungen, dass die Diakonie Frauen durchaus Handlungsmöglichkeiten jenseits traditioneller Weiblichkeitsklischees geboten habe, ein Umstand, der bis in neueste Zeit durch die herkömmliche Diakoniegeschichtsschreibung ausgeblendet worden sei. Am Beispiel Wilhelm Löhes, Amalie Sievekings und Eva von Tiele-Wincklers verdeutlichte sie, dass jenes der Diakonie zugrunde liegende Ideal der Demut und Unterordnung bereits im 19. Jahrhundert sowohl von Frauen als auch von Männern konterkariert worden sei. Für das 20. Jahrhundert hätten Zeitzeugeninterviews gezeigt, dass sich Diakonissen ebenfalls weniger über bestimmte Weiblichkeitsideale als vielmehr über ihre Berufung durch Gott definiert hätten. Während die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Diakonie aus ihrer bewussten Anpassung an gängige Weiblichkeitsentwürfe erwachsen sei, ließen Selbstzeugnisse von Diakonissen also erkennen, dass für ihre eigene Motivation eine existentielle Frömmigkeit und der Aspekt der religiösen Gemeinschaft von weit größerer Bedeutung gewesen seien.
Den Abschluss der Tagung bildeten die Kommentare von JOCHEN-CHRISTOPH KAISER, (Marburg) und HARTMUT REMMERS (Osnabrück). Hartmut Remmers ging in seinen Überlegungen von Max Weber und Jürgen Habermas aus, um die Theoreme der Bürokratisierung und Ökonomisierung zu problematisieren. Außerdem skizzierte er das Verhältnis von zunehmender Ökonomisierung und abnehmenden Sinnstiftungsmöglichkeiten in der Pflege. Kaiser fragte nach dem historischen Ertrag dieses ersten protestantischen Frauenberufs, der in seiner engen Verklammerung von Alltag und Frömmigkeit singulär gewesen sei. Der historischen Rekonstruktion der evangelischen Schwesternschaften des Kaiserswerther Verbandes als einer spezifisch protestantischen Lebens-, Dienst- und Glaubensgemeinschaft, die es in dieser Form nicht mehr gebe, erlaube ein besseres Verständnis heutiger Konstellationen von Diakonie und Gesellschaft. Dies sei eine Möglichkeit, Orientierungs- und Handlungswissenschaften, mithin die beiden Sektionen, miteinander in Verbindung zu setzen. Abschließend warf Kaiser die Frage auf, wer nach der Erosion der weiblichen Diakonie, nach dem Schwinden der Diakonissen bei gleichzeitigem Ausbau der ehemals von ihnen getragenen Institutionen, deren Berufungsverständnis und Funktion auszufüllen bereit und in der Lage wäre.
Insgesamt hätte man der erfreulich vielfältigen Tagung bisweilen einen noch stärkeren Bezug zum Thema, der Geschichte der diakonischen Pflege im 19. und 20. Jahrhunderts gewünscht. Insbesondere im zweiten Teil der ersten Sektion war der Bezug zum eigentlichen Gegenstand ein eher mittelbarer. Zwar erwies sich die Konfrontation historisch-soziologischer und pflegeperspektivischer Perspektiven als anregend, doch wäre eine deutlichere Bezugnahme der beiden Sektionen aufeinander hilfreich und über den Aspekt des Religiösen als verbindendes Moment auch durchaus möglich gewesen. Alles in allem jedoch ist den Organisatorinnen der Tagung aber für ein facettenreiches und interessantes Programm zu danken.
Eine Publikation der Beiträge ist geplant.
Kurzübersicht:
Gunnar Stollberg, Universität Bielefeld
Zum sozialen Wandel der Krankenversorgung im 19. und 20. Jahrhundert
Karen Nolte, Julius Maximilians Universität Würzburg
Wahrheit am Krankenbett. Krankenschwestern und Ärzte zum Umgang mit Sterbenden im 19. Jahrhundert
Susanne Kreutzer, Leibniz-Universität Hannover
Abschied von der „Ganzheitspflege“. Umbrüche im Schwestern-Patientenverhältnis in den 1960er-Jahren
Sabine Bartholomeyczik, Universität Witten/Herdecke
Professionelle Pflege heute – einige Thesen
Manfred Hülsken-Giesler, Universität Osnabrück
Transformationen pflegerischen Handelns durch Operationalisierung
Marianne Tolar/Ina Wagner, Technische Universität Wien
Computer und Pflege – eine widersprüchliche Beziehung
Ullrich Bauer/Lukas Slotala, Universität Bielefeld
Ökonomisierung der Pflege – Aushandlungsprozesse zwischen berufsethischer Werteorientierung und ökonomischem Erfolg
Alexandra Manzei, Technische Universität Berlin
Über die Digitalisierung der Intensivmedizin. Pflege im Spannungsfeld zwischen Ökonomisierung und Patientenorientierung
Rajah Scheepers, Leibniz-Universität Hannover
Einführung: Diakonie nach 1945 im Kontext der Kirchen- und Theologiegeschichte
Hans Otte, Landeskirchliches Archiv Hannover
Ein schwieriges Erbe – Die Hannoversche Landeskirche nach 1945
Hans-Walter Schmuhl, Universität Bielefeld
Neubeginn sozialer Staatlichkeit nach 1945
Norbert Friedrich, Leiter der Fliedner-Kulturstiftung, Kaiserswerth
60 Jahre DIAKONIA – Die internationale und ökumenische Entwicklung der Weiblichen Diakonie nach 1945
Relinde Meiwes, Freiberufliche Historikerin Berlin
Katholische Schwestern in den Frauenkongregationen des 19. und 20. Jahrhunderts
Uwe Kaminsky, Ruhr-Universität Bochum
Die innere Mission Kaiserswerths im Ausland. Von der Evangelisation zum Bemühen um die Dritte Welt
Michael Häusler, Archiv und Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin, „Können Männer pflegen?“ Zum Verhältnis von Männlicher und Weiblicher Diakonie
Ute Gause, Ruhr-Universität Bochum
„Aufbruch der Frauen“ – Das vermeintlich „Weibliche“ der Weiblichen Diakonie
Jochen-Christoph Kaiser, Philipps-Universität Marburg
Kommentar und Bilanz zur Sektion „Religiöse Gemeinschaft“
Hartmut Remmers, Universität Osnabrück
Kommentar und Bilanz zur Sektion „Krankenpflege“