Kriegspläne im Kalten Krieg

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut (DHI) Moskau; Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA) Potsdam
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
16.05.2008 - 17.05.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Seiller, Johannes Gutenberg – Universität Mainz

Der Gegensatz zwischen dem Nordatlantikpakt (NATO) und dem Warschauer Pakt gehörte zu den prägenden Konflikten der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Während die Geschichte der Nordatlantischen Allianz mittlerweile als verhältnismäßig gut erforscht gelten kann, ist über den Warschauer Pakt vergleichsweise wenig bekannt, weil dessen Militärakten größtenteils noch unzugänglich sind. Dies gilt besonders für die strategischen Planungen.1 Vielversprechend ist die allmähliche Öffnung der Archive der ehemaligen osteuropäischen Mitgliedstaaten, die neue Einblicke in die Funktionsmechanismen des östlichen Bündnisses ermöglicht. Weit fortgeschritten sind die Forschungen zur Nationalen Volksarmee der DDR, deren Akten im Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg im Breisgau) eingesehen werden können. Die Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wurden vor kurzem im Internet veröffentlicht.2 In letzter Zeit kristallisierte sich heraus, dass die Geschichte der beiden Militärorganisationen kaum getrennt voneinander behandelt und verstanden werden kann. Vergleichende Arbeiten zu den Militärbündnissen im Kalten Krieg sind jedoch noch eher die Ausnahme. In diese Forschungslücke versuchten das DHI Moskau und das MGFA mit einem gemeinsamen Workshop zum Thema „Kriegspläne im Kalten Krieg“ zu stoßen, zu dem Wissenschaftler aus Deutschland, Dänemark, Österreich, Russland und den Niederlanden eingeladen waren. Ziel des zweitägigen Workshops (16./17. Mai 2008) war es, die Basis für eine vergleichende Analyse der beiden Bündnissysteme zu erarbeiten und Möglichkeiten und Grenzen einer gemeinsamen Vergleichsstudie zu diskutieren. Im Mittelpunkt der Veranstaltung sollte nicht die schlichte Nebeneinanderstellung der beiden Bündnisse und ihrer Mitgliedstaaten stehen, sondern die Erarbeitung eines wirklich komparativen Forschungsansatzes.
Thema des ersten, von FELIX SCHNEIDER (Landesverteidigungsakademie Wien) geleiteten Panels, waren Strategie und Operation. In seinem Initialvortrag vermittelte HELMUT HAMMERICH (MGFA, Potsdam) hierzu einen Forschungsüberblick. Dabei wies er vor allem auf die Forschungslücken bei den Operationsplanungen hin. Als Ausgangspunkt für vergleichende Untersuchungen auf strategisch-operativer Ebene nannte Hammerich die großräumigen Umfassungsoperationen der Sowjetunion in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Die Beweglichkeit und Mechanisierung der Streitkräfte mit der Fähigkeit zur konventionellen, wie auch zur atomaren Kriegführung, sei nach Kriegsende zentraler Bestandteil der Planungen der Militärs in Ost und West gewesen. Den Abschluss seines Vortrages bildete ein umfangreicher Fragekatalog für zukünftige Vergleichsarbeiten. Ergänzt wurden die Ausführungen durch MICHAIL LJOSCHIN (Institut für Militärgeschichte, Moskau), der insbesondere auf die sowjetische Perspektive und auf die verfügbaren bzw. bislang nicht zugänglichen Bestände des russischen Militärs einging. Im Mittelpunkt der darauffolgenden Diskussion standen die Möglichkeiten ihrer Offenlegung, wie auch die der „Überbrückung“ durch Ersatzüberlieferungen und Zeitzeugenbefragungen.
Das zweite Panel behandelte die Bündnispolitik; es wurde von WINFRIED HEINEMANN (MGFA, Potsdam) geleitet. In seinem Vortrag stellte JAN HOFFENAAR (Niederländisches Institut für Militärgeschichte, Den Haag) die aus seiner Sicht zentralen Fragestellungen vor. Er sprach sich für einen breiten Ansatz aus, dessen Hauptaugenmerk sich auf die militärische Komponente zu richten habe. Die gemeinsame Geschichte solle als dynamischer Prozess zwischen Absichten, Fähigkeiten und Perzeptionen innerhalb der Bündnisse selbst sowie zwischen den Bündnissen analysiert und beschrieben werden. Dabei sollten namentlich die politischen und militärischen Ziele des militärischen Streitkräfteaufbaus auf beiden Seiten, Quantität und Qualität von Kräften und Mitteln, die zugrundeliegenden wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten, wie auch die vorherrschende militärische Kultur behandelt werden. RÜDIGER WENZKE (MGFA, Potsdam) empfahl hingegen eine stärkere Konzentration auf ausgewählte Aspekte, etwa auf Zeitperioden oder Krisensituationen. Dabei gelte es zu hinterfragen, ob und inwiefern die Bündnisse als Kontrollsystem der beiden Hegemonialmächte USA und UdSSR zu verstehen seien. Ferner dürfe die ideologische Dimension des Kalten Krieges nicht vergessen werden.
Gegenstand der dritten Sektion unter der Leitung von VICTOR GAVRILOV (Institut für Militärgeschichte, Moskau) waren Landesverteidigung und Mobilisierungsfragen. Auch hier eröffnet sich ein umfangreiches Betätigungsfeld für die Geschichtsschreibung, wie TORSTEN DIEDRICH (MGFA, Potsdam) in seinem Initialvortrag anhand des Beispiels der DDR darzulegen vermochte. Bei einer Vergleichsstudie dürften die nationalen Perspektiven jedoch nicht aus den Augen verloren werden. Die Kenntnis der nationalen Politik sei Grundlage jeder Komparatistik. Man könne nicht von der bislang herrschenden Vorstellung ausgehen, der Warschauer Pakt sei ein monolithisches Gebilde gewesen. THOMAS WEGENER FRIIS (Universität Odense/Dänemark) schilderte unter Berücksichtigung der Quellenlage in den skandinavischen Ländern die Abwehrmaßnahmen Dänemarks im Ostseeraum für den Fall einer Invasion des Warschauer Vertrages. Beide Ausführungen zeigten, dass die Planungen der NATO und des Ostblocks zur Zivil- bzw. Territorialverteidigung, zur Luftverteidigung und zu den Mobilisierungsmaßnahmen noch kaum erforscht sind. Sicher scheint nur, dass der Zivilschutz für den Fall eines Atomkrieges sowohl diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhanges völlig unzureichend war.
Das letzte Panel befasste sich unter der Leitung IRINA BYSTROVAS (Akademie der Wissenschaften – Institut für Russische Geschichte, Moskau) mit Fragen der Rüstungspolitik und Rüstungswirtschaft beider Bündnisse. MATTHIAS UHL (DHI Moskau) skizzierte auf der Grundlage neu zugänglicher russischer Aktenbestände und unter Berücksichtigung der Strategie sowie außenpolitischer Schlüsselereignisse die finanzielle, personelle und materielle Entwicklung des sowjetischen Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre. Die Ausführungen dokumentierten die Aufrüstungsbemühungen der UdSSR, sowohl im nuklearen, als auch im konventionellen Bereich, legten jedoch auch die vorhandenen Schwächen und Defizite der sowjetischen Rüstungspolitik dar. Als zentrale Aspekte in weiterführenden Forschungen gelten Uhl die Entscheidungsprozesse im MIK, die Bedeutung des illegalen Technologietransfers und die Frage des Zusammenhanges zwischen Technik und Strategie. Daran anknüpfend, gab FLORIAN SEILLER (Universität Mainz) einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zur Rüstung im Rahmen des westlichen Militärbündnisses. Er zeigte eine Reihe neuer Forschungsfelder auf, die sich für eine vergleichende Studie eigneten. Anhand des Beispiels der zahlreichen Rüstungsgremien und -einrichtungen, die im Rahmen der NATO und der Westeuropäischen Union sowie auf zwischenstaatlicher Ebene ins Leben gerufen wurden, veranschaulichte er die beträchtliche Zersplitterung des westlichen Rüstungssektors. Demgegenüber habe die Rüstungsorganisation des Warschauer Paktes aufgrund der Dominanz der Sowjetunion und ihrer Industrie sowie aufgrund des planwirtschaftlichen Systems eine nahezu vollständige Vereinheitlichung bei Waffen, Gerät, Munition, Infrastruktur und Logistik erreicht.
Im Anschluss an die jeweiligen Vorträge und Kommentare diskutierten die Historiker, unter ihnen auch VLADIMIR IVKIN (Historisches Zentrum der Strategischen Raketentruppen, Odincovo), die Archivsituation, den Wert der bislang zur Verfügung stehenden Quellen, den Umgang mit Oral History, methodische Probleme und Möglichkeiten und Grenzen des Bündnisvergleichs. Hierbei wurde deutlich, dass es in einem ersten Schritt nicht möglich ist, sämtliche Aspekte der östlichen und westlichen Militärplanungen zu behandeln. Daneben zeigte sich, wie schwierig es ist, sich von der bisherigen Konzentration auf die nationalen Perspektiven zu lösen. Von zentraler Bedeutung wird nach einhelliger Auffassung der Zugang zu den relevanten Archiven sein. Während Teile der NATO-Archive für den Zeitraum bis Anfang der siebziger Jahre der Wissenschaft zugänglich gemacht wurden, gestaltet sich die Archivsituation in Russland noch schwierig, da wichtige Bestände, wie etwa die Operationspläne des Warschauer Paktes, nach wie vor als Verschlusssachen eingestuft sind und der Forschung nicht zur Verfügung stehen. Doch auch auf Seiten der NATO sind nicht alle aufschlussreichen Dokumente verfügbar. Offenbar fehlen Akten, die Einblicke in die Operationsführung der unteren militärischen Ebenen geben könnten.
Am Ende fasste DIETER KRÜGER (MGFA, Potsdam) die Ergebnisse zusammen und gab einen Ausblick auf die Fortsetzung des komparativ ausgelegten Diskussionsprozesses. Unter Berücksichtigung der im Rahmen der Veranstaltung diskutierten Vergleichsparameter sollen vergleichende Studien zu ausgewählten Themenbereichen verfasst und in einem weiteren Workshop vorgestellt werden. So sollen in kleinen Schritten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen NATO und Warschauer Pakt herausgearbeitet werden. Der Untersuchungszeitraum soll sich bis zum Beginn der 1970er Jahre erstrecken. Am Ende könnte ein Sammelband in deutscher und russischer Sprache erscheinen. Dass es dem DHI Moskau und dem MGFA gelang, Militärhistoriker aus Ost und West in einem Gemeinschaftsvorhaben über die ehemals verfeindeten Blöcke zu vereinen, ist außerordentlich erfreulich und dürfte wegweisend für zukünftige Forschungen sein.

Konferenzübersicht:

Panel I: Strategie und Operation – Panelleiter: Felix Schneider (Landesverteidigungsakademie Wien)
Initialvortrag: Helmut R. Hammerich (MGFA, Potsdam)
Kommentar: Michail Ljoschin (Institut für Militärgeschichte, Moskau)

Panel II: Bündnispolitik – Panelleiter: Winfried Heinemann (MGFA, Potsdam)
Initialvortrag: Jan Hoffenaar (Netherlands Institute of Military History, The Hague)
Kommentar: Rüdiger Wenzke (MGFA, Potsdam)

Panel III: Fragen der Landesverteidigung und Mobilisierung – Panelleiter: Victor Gavrilov (Institut für Militärgeschichte, Moskau)
Initialvortrag: Torsten Diedrich (MGFA, Potsdam)
Kommentar: Thomas Wegener Friis (Universität Odense/Dänemark)

Panel IV: Der Einfluss von Rüstung und Technik auf Strategie und Operation – Panelleiterin: Irina Bystrova (Akademie der Wissenschaften – Institut für Russische Geschichte, Moskau)
Initialvortrag: Matthias Uhl (DHI Moskau)
Kommentar: Florian Seiller (Universität Mainz)

Zusammenfassung: Dieter Krüger (MGFA, Potsdam)

Anmerkungen:
1 Einen guten Forschungsüberblick über den Kalten Krieg und die beiden Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt bieten insbesondere die Internetportale des Cold War International History Project und des Parallel History Project on Cooperative Security:
http://wilsoncenter.org/index.cfm?topic_id=1409&fuseaction=topics.homehome; http://www.php.isn.ethz.ch
2http://www.nationaler-verteidigungsrat.de


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Epoche(n)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts