Vom 17.-20. Juli 2008 versammelten sich promovierende Nachwuchswissenschaftler/innen zur DDR-Geschichte, der deutschen Teilung und ihrer Überwindung in der Stiftung Leucorea in Wittenberg, um sich über Methoden, Inhalte und Techniken im Umgang mit deutscher Zeitgeschichte nach 1945 auszutauschen. Sie waren der Einladung des Instituts für Hochschulforschung an der MLU Halle-Wittenberg (HoF) gefolgt, das die Tagung in Zusammenarbeit mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführte. Den Schwerpunkt dieser vierten Auflage der Promovierendentage hatten die Organisator/innen auf die Diskussion von Geschichte als Public History gelegt.
Nach einer Vorstellungsrunde und einer Führung durch das Lutherhaus fand am Donnerstagabend eine Podiumsdiskussion zum Thema „Public History: Die Rolle von Fachwissenschaft und Historiker/innen in der Öffentlichkeit“ statt. DOROTHEE WIERLING (Hamburg), GERHARD BESIER (Dresden), CHRISTOPH KLEßMANN (Potsdam) und BERND LINDNER (Leipzig) nahmen Stellung zu den Fragen von JENS HÜTTMANN (Berlin), der die Runde moderierte. Zur Verbindung von Geschichte, Museum und Öffentlichkeit betonte Lindner, der im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Ausstellungen erarbeitet, die seit den 1970er Jahren stetig steigende Popularität von Museen und insbesondere Geschichtsmuseen. Es komme im Zeitalter der Massenmedien darauf an, so Lindner, den Besucher/innen in angemessener Art und Weise entgegenzukommen. Für diese Popularisierungsstrategien helfe die Erkenntnis, dass das Fernsehen ein stark popularisiertes Vorwissen zur Verfügung stelle, auf dessen Inhalt und Ästhetik man zurückgreifen könne. Auf die Frage, wie es gelingen könne, kritische Forschung mit großer Reichweite zu verbinden, antwortete Kleßmann, Gründungsdirektor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, es komme auf die Einbindung der Forschung in den Praxisbetrieb der Universität an. Hier sei gerade die Rückmeldung von Studierenden von Belang, da sie hilfreiche Impulse für die Kommunikation von Forschungsergebnissen geben könne. Auf die Beobachtung Hüttmanns angesprochen, Zeitzeugen würden in der öffentlichen Darstellung von Geschichte immer wichtiger, reagierte Wierling, die in ihren eigenen Arbeiten viel mit der Methode der Oral History gearbeitet hat, mit einer Unterscheidung in der Nutzung von Zeitzeugeninterviews: Zeitzeugen erzählten sehr komplexe, uneindeutige und schwierige Geschichten. Forschung nehme diese im besten Fall ernst und nutze sie systematisch als Quellen, indem sie sie kontextualisiere. Öffentliche Zeitzeugen hingegen, wie sie das Fernsehen produziere, würden quasi auratisiert und kontextlos in eine unwissenschaftliche Erzählung eingebunden, zu der sie die nötigen Füllsätze beisteuerten. Allerdings, so fügte Wierling hinzu, müsse das Fernsehen keine Wissenschaft machen – und die Öffentlichkeit müsse sich auch nicht in dem Maße für Geschichte interessieren wie professionelle Historiker/innen. Aufgefordert, das problematische Verhältnis von populärer Geschichte und Fachwissenschaft zu beurteilen, entgegnete Besier, dass Bücher sich auch verkaufen müssten. Der Verweis auf die Bearbeitung eines Forschungsdesiderats allein reiche dazu nicht mehr aus.
Während auf dem Podium darüber Einigkeit herrschte, dass es legitim sei, die Ergebnisse eigener historischer Forschungen (auch) popularisierend darzustellen, so ließen die Diskutant/innen sowohl Formen und Strategien von Popularisierung offen, als auch mögliche Ängste (gerade bei Nachwuchswissenschaftlern) ob solcher Publikationen unreflektiert. Auf Nachfrage aus dem Publikum ermutigte Wierling mit Verweis auf Walter Benjamin zwar zur Gewitzt- und Verspieltheit.1 Doch die Diskussion der Frage nach dem Nutzen und Nachteil einer solchen Historie für das Leben als Nachwuchswissenschaftler/in blieb den Teilnehmer/innen der Promovierendentage selbst vorbehalten.
Der Freitag war größtenteils den sogenannten Stellvertreterpräsentationen gewidmet. Die Teilnehmenden fanden sich in Zweierteams zusammen und stellten sich gegenseitig ihre Dissertationsprojekte vor. Ziel war es, im anschließenden Plenum das Projekt der Partnerin bzw. des Partners präsentieren zu können und dabei auf Schwachstellen, unausgereifte Ideen und forschungspraktische Schwierigkeiten hinzuweisen. Zusätzlich dazu sollte das Vorbereitungsgespräch unter vier Augen dazu befähigen, Fragen aus dem Plenum bezüglich des Projekts der jeweils anderen Person zu beantworten. Dieser Perspektivwechsel diente dazu, eine Betriebsblindheit in eine Sensibilisierung für das Besondere an der eigenen Fragestellung, Problembearbeitung und Ergebnisdarstellung umzuwandeln.
Den Freitagabend bestritt SÖNKE NEITZEL mit seinem Vortrag „Zeitgeschichte im Fernsehen – eine Studie zur Wirkungsforschung“. Der Zeithistoriker hat neben seiner Tätigkeit in Forschung und Lehre an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz eine Beraterfunktion für die Redaktion Zeitgeschichte des ZDF inne. Diese Doppelfunktion machte ihn besonders interessant für den Brückenschlag zwischen historischer Forschung und Aufbereitung ihrer Ergebnisse für die massenhafte Rezeption. Er begann seine Ausführungen mit einem historischen Überblick über die Thematik Zeitgeschichte im Fernsehen. Anfang der 1960er Jahre habe das Dritte Reich als Thema dominiert, wobei die meisten Produktionen aus dem Ausland eingekauft gewesen wären. Aus historischen Filmaufnahmen, Experteninterviews, Neu-Drehs, Grafiken und Zeitzeugen als Zutaten habe sich das Genre Geschichtsdokumentation entwickelt, das 1984 einen einschneidenden Impuls erfahren habe: die Bildung der Redaktion Zeitgeschichte im ZDF, die Entstehung des Privatfernsehens sowie die Personalisierung und Emotionalisierung von Geschichte. Insbesondere die verschränkte Wirkung letzterer habe Sterben, Tod und massenhafte Gewalt zu populären Themen gemacht. Die Rivalität zwischen ARD und ZDF und die Herausbildung neuer Stile innerhalb des Genres harrten seiner Meinung nach noch der medienhistorischen Aufarbeitung. Emotionale wie inhaltliche Kritik am Genre habe sich vor allem am unreflektierten Zeitzeugengebrauch, den „Eine-Minute-30-Präzisierungen der Experten“ und den ewig gleichen Filmaufnahmen entzündet. Zu ergänzen wäre, dass Privataufnahmen in großer Zahl aufgekauft werden, damit sie für solche populären Produktionen zur Verfügung gestellt werden können – fehlende Überlieferungszusammenhänge und limitierter Zugriff erschweren hier geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte.
Bei der Erforschung der Wirkungen von Geschichtsdokumentationen im Fernsehen versucht Neitzel anhand von Fragebögen, das Wissen unterschiedlicher Zuschauergruppen vor und nach der Betrachtung einer Dokumentation zu ermitteln. Doch stünde man hier noch am Anfang. Seiner Meinung nach sei eine komplexe Forschung zu Akteuren, Inhalten und Publikum notwendig, um fruchtbare Wirkungsforschung zu betreiben. Erste Erkenntnisse hierzu könne eine Untersuchung der Befragung liefern, die er an 130 Personen durchgeführt hat. Schüler/innen aus der 9., 11. und 13. Stufe, Teilnehmer/innen aus einem Pro- und einem Hauptseminar und eine Senior/innengruppe hatten zunächst einen Fragebogen zum Russlandfeldzug 1941 ausgefüllt, danach die entsprechende Dokumentation angesehen und abschließend erneut Fragen zum Thema beantwortet. Die Messbarkeit der Wissensvermittlung sei an die Hauptaussage des Films sowie die Faktenvermittlung geknüpft gewesen. Die Auswertung der Bögen habe einen Lerneffekt sowohl in der Faktenvermittlung als auch in der Beurteilung komplexerer Zusammenhänge nachgewiesen. Unbeantwortet müsse die Frage nach der Nachhaltigkeit und der langfristigen Wirkung bleiben, weil hier noch keine Erfahrungswerte vorlägen. Außerdem fügte Neitzel relativierend hinzu, dass die Gruppe aufgrund ihrer Größe nicht repräsentativ gewesen sei, so dass die Ergebnisse nicht zu verallgemeinern wären. Allerdings bestünde das Desiderat, über 500 solcher Dokumentationen zu analysieren.
An dieses Desiderat und die allgemeine Machbarkeit solcher Wirkungsforschungen knüpften sich die Fragen und Anregungen im Anschluss an den Vortrag an. So könnten medienwissenschaftliche Methoden, unter anderem in Kombination mit Befragungen von Meinungsforschungsinstituten, die Basis für repräsentative Ergebnisse produzieren. Erschütternd sei hingegen die Tatsache, dass weder über die Intention der Macher solcher Dokumentationen genug bekannt sei, um diese einzuordnen. Noch seien sich diese selbst im Klaren darüber, was sie eigentlich beabsichtigten. Die Frage nach der Intention sei aber insofern wichtig, als dass hierdurch der Vorher-nachher-Erfolg einer intendierten Wissensvermittlung gemessen werden könnte. Äußerst fragwürdig im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen durch Fernsehdokus erscheinen gerade aus geschichtsdidaktischer Sicht die Gleichsetzungen von „Hauptaussage des Films“ mit „Darstellung des Krieges“ und „Wissen“ mit „Fakten und Daten“: Erstens kann eine Hauptaussage sich nicht lediglich auf eine Darstellung reduzieren lassen, sondern sie muss inhaltlich argumentieren und zu einem Sachurteil führen. Zweitens besitzt so genanntes Faktenwissen eine für historisches Lernen nicht ernst zu nehmende Halbwertszeit.2
Nach der Morgenrunde am Samstag, in der mit KATRIN HAMMERSTEIN (Heidelberg) und JAN SCHEUNEMANN (Leipzig) zwei ehemalige Teilnehmer/innen der Promovierendentage über Projektförderung und Konferenzorganisation informierten, stellte die Spiegel Online Redakteurin SOLVEIG GROTHE (Hamburg) das Zeitgeschichtsportal einestages vor.3 Im darauf folgenden Schreibworkshop erarbeitete sie mit den Teilnehmer/innen Kriterien für zeithistorisches Publizieren im Internet: eine kurze Gesamtlänge des Textes, aufgeteilt in Absatzeinheiten, die mit schlagzeilenartigen Überschriften versehen sind; dazu ein teaser, der zusammen mit dem Einstieg Appetit auf mehr macht. Bevor die Teilnehmer/innen selbst an solchen populären Texten arbeiteten, wurde zu Übungszwecken gemeinsam ein Text analysiert und kritisiert. In der abschließenden Präsentation der eigenen Texte entfaltete sich eine lebhafte Diskussion über das Für und Wider des Publizierens in populären Medien. Während sich einige mit der Sorge trugen, ihre Zeitzeugen durch eine „oberflächliche Behandlung des Themas“ zu vergrämen, sich in der Zunft einen schlechten Namen zu machen und ihre Ideen rauben zu lassen, beharrten andere Stimmen auf den Vorteilen einer populären Publikation: Wenn man reflektiere, für welches Medium man gerade schreibe, entgehe man der Gefahr, seinen Namen aufs Spiel zu setzen. In einem populären Medium könne man dann nicht nur „seine Pflöcke einschlagen“, sondern auch auf seine wissenschaftlichen Publikationen verweisen. Auf diese Weise bestünde die große Chance, sich mit seinem Beitrag in zeithistorische Debatten einzuschreiben, die immer auch öffentlichen Charakter haben. Diese Diskussion am Ende des Workshops offenbarte die Schwierigkeit, der Einsicht in die Relevanz von popularisierter Geschichte auch die entsprechenden Taten folgen zu lassen.
Das Gespräch mit dem Bremer Publizisten HERMANN VINKE bildete den Abschluss der Promovierendentage. Als Leiter des ARD-Rundfunkstudios Ostberlin Zeuge der Ereignisse von 1989 bis 1992 sowie als Autor der beiden Sachbücher Die DDR4 und Das Dritte Reich5 berichtete er von seiner Konzeption, die DDR in Erinnerung zu behalten. Im Vergleich mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit läge hier alles auf dem Tisch, was ihn hinsichtlich des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit optimistisch stimme. Allerdings stieße er in Ost wie West auf Widerstände und sähe noch viel Vermittlungsbedürfnis in der Gesellschaft. Weiße Flecken der Forschung, sofern er das beurteilen könne, bestünden in der Erforschung der zurecht viel kritisierten Treuhand, den gesundheitlichen Folgen der „Stasi-Effekte“ in den Menschen sowie der Aufarbeitung der Waldheimer Prozesse.
Die 4. Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte trugen mit ihrem Schwerpunkt auf Public History und ihren Implikationen hinsichtlich Öffentlichkeit und Popularisierung zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Methoden, Inhalten und Techniken im Umgang mit 'Streitgeschichte' bei. Die einzelnen Programmpunkte waren gut aufeinander abgestimmt, es blieb genügend Raum und Zeit zu Diskussion und Austausch auch außerhalb der offiziellen Veranstaltungen, so dass die so wichtigen Netzwerke (weiter-)gesponnen werden konnten. Für das kleine Jubiläum im kommenden Jahr ist den Veranstaltern eine erfolgreiche fünfte Auflage zu wünschen.
Kurzübersicht:
Podiumsdiskussion: "Public History: Die Rolle von Fachwissenschaft und
Historiker/innen in der Öffentlichkeit", Dorothee Wierling, Gerhard
Besier, Christoph Kleßmann, Bernd Lindner, Jens Hüttmann (Moderation)
Stellvertreterpräsentationen:
Anne Brey (Berlin/Mainz): Die Zensur in der Verlagslandschaft der Kinder- und Jugendliteratur der DDR in den 50er und 60er Jahren
Johanna Dietrich (Berlin): Das geteilte Berlin im Dokumentarfilm der beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990
Jörn-Michael Goll (Leipzig): Kontrollierte Kontrolleure – Die Bedeutung der Zollverwaltung für die 'politisch-operative' Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
Boris Hoge (Münster): Begegnungen mit Russland. Russland und seine Menschen im Spiegel der deutschen Literatur seit 1989
Johannes Keil (Berlin): Aufgaben der Universitäten der DDR bei der Weiterbildung - Darstellung am Beispiel der Humboldt Universität zu Berlin
Gerd Kühling (Berlin/Jena): NS-Erinnerung in Berlin. Gedenkpolitik im Zeichen des Ost-West-Konflikts
Ann-Kathrin Reichardt (Bremen): Die Zensur sowjetischer belletristischer Literatur in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren
Stefan Schmidt (Halle): "Arbeite mit, plane mit, regiere mit" - Partizipatorische Spielräume der DDR-Bevölkerung durch das Eingabewesen in der Ära Honecker am Beispiel der Wohnungs- und Umweltproblematik
Leonard Schmieding (Leipzig): Jugendkultur HipHop in der DDR 1983-1990
Thomas Schubert (Potsdam): Rudolf Bahros Versuche des Verstehens und der Loslösung von der DDR - Das Echo der Geschichte im biographischen Erinnern an den Kommunismus
Sven Schultze (Berlin/Potsdam): Die 'Grüne Woche' und die DDR-Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg in der deutschen Systemkonkurrenz 1948 bis 1961
Kristina Vagt (Hamburg): Internationale Gartenbauausstellungen in der Bundesrepublik und der DDR (1950-1975). Städtische Großereignisse als Verhandlungsräume von Politik, Wirtschaft, Natur, Kultur
Marcel vom Lehm (Berlin): Historiker und historische Kultur im Umgang mit der Zäsur 1943/45 in Deutschland und Italien
Matthias Wießner (Bayreuth/Leipzig): Institutionalisierung, politische, kulturelle, soziale und kommerzielle Bedeutung des Urheberrechts in der DDR
Vortrag: "Zeitgeschichte im Fernsehen – eine Studie zur
Wirkungsforschung"; Sönke Neitzel
Schreibworkshop: "Zeithistorisch Publizieren für Nicht-Spezialisten";
Solveig Grothe
Gespräch: "DDR-Geschichte in der deutschen Erinnerung"; Hermann Vinke
Anmerkungen:
1 „Nicht gelehrter sollen sie [die Besucher, L.S.] die Ausstellung verlassen, sondern gewitzter“. Walter Benjamin, Bekränzter Eingang. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. 11, Frankfurt am Main 1980, S. 559.
2 Gerhard Schneider, Neue Inhalte für ein altes Unterrichtsfach. Überlegungen zu einem alternativen Curriculum Geschichte in der Sekundarstufe I, in: Marko Demantowsky / Bernd Schönemann (Hrsg.), Neue geschichtsdidaktische Positionen, Bochum 2002, S. 119-141.
3 <http://einestages.spiegel.de> (24.09.2008).
4 Hermann Vinke, Die DDR. Eine Dokumentation mit zahlreichen Biografien und Abbildungen, Ravensburg 2008.
5 Ders., Das Dritte Reich. Eine Dokumentation mit zahlreichen Biografien und Abbildungen, Ravensburg 2005.