Lehnswesen im 12. Jahrhundert: Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz

Lehnswesen im 12. Jahrhundert: Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz

Organisatoren
Jürgen Dendorfer; Roman Deutinger
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2008 - 19.09.2008
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Von
Konrad Frenzel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Lange Zeit galt in der Mediävistik das Lehnswesen als das wesentliche Ordnungsgefüge der mittelalterlichen Gesellschaft. Zudem war man seit den Arbeiten Heinrich Mitteis’ und François-Louis Ganshofs am Beginn des 20. Jahrhunderts der Auffassung, das Phänomen in seiner Grundstruktur sowie seiner historischen Entwicklung vollständig erfasst zu haben. Die Forschung wandte sich folgerichtig anderen Aspekten zu – wie etwa der symbolischen Kommunikation oder der Konfliktbewältigung. Das klassische Bild vom Lehnswesen blieb aber weiterhin ein sicher geglaubter Wissensbestand. Erst aufgrund der Fundamentalkritik seitens der englischen Historikerin Susan Reynolds in ihrer Monographie Fiefs and Vassals von 1994 entspann sich eine intensivierte Forschungstätigkeit. Hierbei wurde vor allem die Karolingerzeit betrachtet, für die sich ergab, dass das traditionelle Modell der Geschichte der feudo-vasallitischen Zusammenhänge auf einer äußerst ungenügenden Quellenbasis aufbaute. Das 12. Jahrhundert, nach der klassischen Lehre die Hochzeit des Lehnswesens, wurde allerdings in der recht zügig wieder abflauenden Forschungstätigkeit kaum berücksichtigt. Damit dieses Desiderat in Angriff genommen werde, haben die Münchner Mediävisten JÜRGEN DENDORFER und ROMAN DEUTINGER ausgewiesene Experten für diesen Zeitraum zu einer zweieinhalbtägigen Tagung versammelt, die sich der Thematik in drei Sektionen annahm.

Die erste Sektion war dem Ziel gewidmet, zu zeigen, in welchen historischen Kontexten die klassische Lehre vom Lehnswesen erarbeitet wurde, um so ihre Zeitgebundenheit vor Augen zu führen. WERNER HECHBERGER (Koblenz) stellte die Genese des traditionellen Lehrgebäudes 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert dar. Dabei verwies er eingehend darauf, dass die Diskussion von Beginn an unter dem Vorzeichen politischer Diskussionen gestanden habe.
HANS-HENNING KORTÜM (Regensburg) nahm im Anschluss mit Heinrich Mitteis und Otto Brunner zwei prominente Klassiker der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte in Augenschein, deren vollkommen unterschiedliche, ja gegensätzliche Stellung zur nationalsozialistischen Diktatur einen unübersehbaren Niederschlag in ihren Arbeiten gefunden habe. So habe Mitteis ein sehr staatsrechtlich geprägtes Modell der Geschichte der mittelalterlichen Gemeinwesen gezeichnet, während Brunner – ein Profiteur des Nationalsozialismus - den Staatsbegriff abgelehnt und hingegen die „politische Einheit eines Volkes“ als Gegenstand der Verfassungsgeschichte herausgestellt habe.

Der Erkenntnis, dass das traditionelle Verständnis feudaler und vasallitischer Strukturen auf einem methodisch bedenklich dünnen Quellenfundament aufruht, sollte die zweite Sektion Rechnung tragen, in der die Überlieferung des 12. Jahrhunderts eingehend analysiert wurde. Um vergleichbare Ergebnisse zu erlangen, hatten die Veranstalter einen Kriterienkatalog entwickelt. Mithin hob sich diese als Workshop konzipierte Sektion von der ersten, einer klassischen Vortragstagung entsprechenden, ab. Es ergab sich dadurch eine gewisse Parallelität in der Anlage und in den Ergebnissen der einzelnen Beiträge – die durchaus erwünscht war.

Die Sektion war in zwei Panels unterteilt, deren erstes sich mit urkundlichen Quellen befasste. Hier machte RUDOLF SCHIEFFER (München) den Anfang, indem er darlegte, was den Herrscherdiplomen von Lothar III. bis Friedrich I. (die Urkunden Heinrichs VI. liegen noch nicht in einer Edition vor) bezüglich des Lehnswesens zu entnehmen ist. KARL-HEINZ SPIEß (Greifswald) nahm in seinem Vortrag die ersten vier Lehnsverzeichnisse aus den deutschsprachigen Teilen des Reiches (dasjenige im Codex Falkensteinensis, das Bolander Lehnsbuch, das Verzeichnis des Rheingrafen Wolfram und die Verlustaufstellung Erzbischofs Konrads von Mainz) in den Blick.
Beschäftigten sich diese beiden ersten Vorträge des ersten Panels mit dem Lehnswesen hinsichtlich des gesamten Reichsgebiets, so stellten die folgenden vier Vorträge die Verhältnisse in den privaturkundlichen Überlieferungen einzelner Herrschaftsgebiete im deutschsprachigen Teil desselben dar. HUBERTUS SEIBERT (München) legte die Präsenz lehnrechtlicher Begriffe und Sachverhalte im Herzogtum Bayern dar, wobei er vor allem Traditionsbücher heranzog, da die Überlieferung von Privaturkunden in Bayern erst im 12. Jahrhundert einsetze. Mit der Sankt Gallener Urkundenüberlieferung warf THOMAS ZOTZ (Freiburg im Breisgau) für das Herzogtum Schwaben zunächst einen Blick in das frühe Mittelalter. Dann wandte er sich mittels historiographischer Quellen dem 11. Jahrhundert und schließlich auf der Basis der Privaturkunden dem 12. Jahrhundert zu, um so eine längere Entwicklungslinie aufzuzeigen. OLIVER AUGE (Greifswald) sah sich vor das Problem gestellt, dass eine nennenswerte Urkundenüberlieferung für die Herzogtümer Mecklenburg und Pommern aufgrund ihrer erst im 12. Jahrhundert erfolgten Eingliederung ins Reich erst im 13. Jahrhundert vorliege. So weitete er den Untersuchungszeitraum bis 1250 aus und zog für das 12. Jahrhundert Werke der Geschichtsschreibung heran. Den hingegen auch im 12. Jahrhundert reichhaltigen Urkundenbestand der Erzbischöfe von Mainz und Köln wertete STEFAN BURKHARDT (Heidelberg) aus. Bezüglich der Bedeutung der Vasallität für die politische Interaktion in den Erzstiften lenkte er zusätzlich den Blick auf hierfür einschlägige Phänomene wie die gut bezeugte Existenz von Lehnshöfen oder die kriegerischen Unternehmungen der Erzbischöfe.
Die letzten drei Vorträge des ersten Panels befassten sich mit den Verhältnissen in den nicht deutschsprachigen Gebieten des Reiches. Wie sich das Lehnswesen in der Mark Verona und im Regnum Italicum im 12. Jahrhundert darstellte, referierte DANIELA RANDO (Pavia). Sie konnte dabei auf die für das Lehnswesen in Italien bekanntlich sehr reichhaltige Quellenbasis aus Urkunden und normativem Schriftgut zurückgreifen. DIRK HEIRBAUT (Gent) stellte den Stand des Lehnswesens in Flandern und Niederlothringen anhand von Urkunden dar, die anders als spezifische feudale Dokumente wie Lehnsverzeichnisse in großer Zahl vorhanden seien. Dabei verdeutlichte er, wie weit voraus Flandern seinen direkten Nachbargebieten in Bezug auf feudo-vasallitische Institutionen war. Sei das Lehnswesen in der Provence, wie FLORIAN MAZEL (Rennes) im Anschluß ausführte, auch von weniger großer Bedeutung gewesen als in den benachbarten Gebieten Languedoc und Katalonien, so war er aufgrund der weitentwickelten Schriftlichkeit – darunter beispielsweise etwas mehr als hundert Treueide – doch in der Lage, die provencalischen Lehnsverhältnisse recht detailliert zu beschreiben.
Das zwei Beiträge umfassende zweite Panel war dem Bild des Lehnswesens in historiographischen und literarischen Texten des 12. Jahrhunderts gewidmet. STEFFEN PATZOLD (Tübingen) legte die Präsenz von Elementen des Lehnwesens in schwäbischen und lotharingischen Klosterchroniken dar. Als besonders ergiebig habe sich der an den Metzer Bischof gerichtete Brief Rudolfs von St. Trond, der in die Fortsetzung der von diesem begonnenen Chronik des Klosters inseriert wurde, erwiesen – so dass die Analyse dieses Schreibens folgerichtig den Schwerpunkt bildete. Der poetischen Thematisierung feudo-vasallitischer Zusammenhänge in der mittelhochdeutschen Epik nahm sich JAN-DIRK MÜLLER (München) an. Dabei bezog er sich auf das Rolandslied, den Herzog Ernst und das Nibelungenlied. Hieraus konnte er alle Belege von man oder lehen im Wortlaut vortragen, was verdeutliche, dass sich die Literatur des 12. Jahrhunderts mit Fragen des Lehnswesens nicht allzu intensiv befasse.

Als Ergebnisse der Vorträge dieser Sektion kann resümierend festgehalten werden: Erstens lässt sich bezüglich der Terminologie feststellen, dass in den deutschsprachigen Gebieten des Reiches das vieldeutige beneficium der häufiger verwendete Begriff für ein Lehen war als das eindeutigere Wort feudum, das allerdings zum Ende des 12. Jahrhunderts immer öfter entgegentritt. In Flandern ist vom Anfang des Jahrhunderts bis zu seinem Ende erkennbar, dass feudum das Wort beneficium nach und nach völlig verdrängt, ein Vorgang der in Italien und der Provence bereits weitgehend an sein Ende gekommen zu sein scheint, denn hier wird regulär von feudum gesprochen. Mithin scheint sich vom Süden und Südwesten ausgehend ein Prozess zunehmender Präzision in der Benennung des Lehngutes in den Quellen greifen zu lassen. Die Bezeichnung des Lehnnehmers zeigt keine ähnlich homogene Entwicklung: Je nach Region überwiegt eines der Wörter homo, miles oder fidelis. Die Bezeichnung vasallus bzw. vassus kommt in der Überlieferung hingegen nur sehr selten vor.
Zweitens lassen sich, was die gegenseitigen Pflichten von Lehnsgeber und Lehnsnehmer angeht, aus den Quellen nur ganz selten konkrete Angaben gewinnen. Die in der klassischen Lehre als dominant angesehene militärische Ausrichtung einer Lehnsbindung lässt sich nur für die Provence und Oberitalien bestätigen. Ansonsten scheint Unterstützung im Krieg nur einer der möglichen Dienste in einem sehr breiten Spektrum von Verpflichtungen des Mannes gewesen zu sein. Die Schuldigkeit des Herren lässt sich noch schlechter greifen und bestand möglicherweise allein in der materiellen Ausstattung seiner Getreuen.
Drittens ergibt sich eine enorme Bandbreite an Möglichkeiten, was ein Lehen sein konnte und was für Personen Lehen empfangen konnten. Von Landgütern und Gebäuden über unfreie Personen bis hin zu Rechten und Einnahmen aus Zöllen und Märkten konnte im Grunde alles, was jemand besitzen oder worüber jemand verfügen konnte, als Lehngut vergeben werden. Und nicht nur Adlige, sondern auch einfache Freie, Stadtbürger, aber auch Kommunen, Klerikergemeinschaften und in Einzelfällen auch Unfreie konnten belehnt werden. Aus diesen deutlich erkennbaren Umständen ergibt sich wiederum eine Bestätigung für den bereits oben beschriebenen multifunktionalen Charakter des Lehnswesens im 12. Jahrhundert.
Viertens lässt sich für die deutschsprachigen Gebiete des Reiches in den Quellen für das 12. Jahrhundert kein zwingender Konnex zwischen Vasallität bzw. Mannschaft auf der einen und Belehnung auf der anderen Seite feststellen. Gewiss konnte ein Vasall belehnt werden, aber es gab auch Vasallen ohne Lehen. Und viele Personen, die ein Lehen überlassen bekamen, werden in keiner Weise als Vasallen des Lehnsgebers benannt oder dargestellt. Anders verhält es sich in den Gebieten im äußersten Westen und in Italien: Hier gab es zwar Vasallen ohne Lehen, um belehnt zu werden, mussten aber Mannschaft und Treueid geleistet werden.
Fünftens ergibt sich die Tendenz, dass lehnrechtliche Elemente und Sachverhalte im Verlauf des 12. Jahrhunderts im zunehmenden Maße in den Quellen aus dem Reich zu greifen sind. Dabei hatten die Gebiete im Westen des Reiches und Reichsitalien hier eine eindeutige Vorreiterrolle inne. Feudo-vasallitische Strukturen sind in den Quellen aus diesen Gebieten nicht nur quantitativ mehr behandelt worden, es zeigt sich zudem eine weitaus stärkere Systematisierung in ihrer Gestaltung als im deutschen Regnum. Für die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts zeichnet sich jedoch auch für diesen Bereich eine starke Intensivierung ab. Es liegt nahe, einen wichtigen Faktor dafür im verstärkten Kontakt zu den italischen Reichsgebieten seit der Regierung Friedrich Barbarossas zu erblicken.

Im Abendvortrag trug STEFAN WEINFURTER (Heidelberg) einen Erklärungsentwurf für die im Laufe des 12. Jahrhunderts zu beobachtende zunehmende Bedeutung und Systematisierung des Lehnswesens vor: Feudo-vasallitische Strukturen seien an die Stelle des im frühen Mittelalter für sich allein hochwirksamen Eides getreten, der, beginnend mit der 1076 päpstlicherseits erfolgten Suspendierung der Fürsten von der eidlichen Bindung gegenüber Heinrich IV., immer mehr seine verpflichtende Kraft für das Verhalten der Großen verloren habe.

In der dritten Sektion sollten Ereignisse und Sachverhalte des 12. Jahrhunderts, die im traditionellen Verständnis unter lehnrechtlichen Vorzeichen betrachtet wurden, unter dem veränderten Blickwinkel des aktuellen Forschungstandes in Augenschein genommen werden. JÜRGEN DENDORFER (München) setzte sich kritisch mit der seit einem grundlegenden Aufsatz Peter Classens als Standardwissen geltenden These, dass schon vor dem Wormser Konkordat über eine lehnrechtliche Anbindung des Episkopats an den König diskutiert wurde, auseinander. Das einzige in den Quellen wurzelnde Argument, die Diskussion um das von den Bischöfen künftig dem König zu leistende hominium, konnte Dendorfer mit Verweis auf die sich bei einer Durchsicht der zeitgenössischen Quellen ergebenden Mehrdeutigkeit des Begriffes entkräften. Die im Wormser Kompromiss gefundene Lösung mit der königlichen Szepterinvestitur in die Temporalien habe später aber geradezu zur lehnrechtlichen Deutung eingeladen.
Drei zentrale Begebenheiten im Verhältnis Kaiser Friedrich Barbarossas und Papst Hadrians IV. analysierte ROMAN DEUTINGER aufs Neue: den Konflikt um den Stratordienst bei Sutri 1155, die im selben Jahr geschehene Entrüstung Barbarossas über die Bildunterschrift unter den Fresken der Kaiserkrönung Lothars III. im Lateran sowie die Streitigkeiten um die Übersetzung des Wortes beneficium auf dem Hoftag von Besançon. Es zeige sich an den Ereignissen im Lateran und in Besançon, wie die Doppeldeutigkeit der Begriffe in das Bewußtsein der Akteure trete – ein Prozess, der im weiteren Verlauf maßgeblich zur rechtlichen und rituellen Systematisierung des Lehnswesens beigetragen habe.
GERTRUD THOMA (München) zeigte anhand von Urbaren aus dem südbayerischen und österreichischen Raum, dass der Begriff beneficium im 12. Jahrhundert häufig auch im Bereich grundherrschaftlicher Überlieferung anzutreffen ist. Er meine dort entweder Ämterlehen für Mitglieder der familia mit speziellen Aufgaben, abgabenpflichtige Leihegüter (die späteren Zinslehen) oder ein Stück Land in einer bestimmten Größenordnung. Im 13. Jahrhundert trete bezüglich jeder der drei Bedeutungsvarianten feudum an die Stelle von beneficium.
Der bislang noch als aktueller Forschungstand geltenden Ansicht, dass ministerialische Dienstlehen von den vasallitischen – 'echten' – Lehen von Beginn an kategorisch unterschieden worden seien, widersprach JAN KEUPP (München) entschieden. Der Verzicht auf eine Mannschaftsleistung bei der Vergabe von Lehen an Ministeriale sei erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts mit der zunehmenden Tendenz zur Heirat von Dienstleuten zweier verschiedener familiae, der sogenannten Ausheirat, üblich geworden.
GERHARD LUBICH (Bochum) formulierte die These, dass die Instrumentalisierung des Lehnwesens für eine Festigung des kaiserlichen Einflusses gegenüber den Fürsten unter Friedrich Barbarossa nicht, wie in der Forschung bislang angenommen, eine Neuerung, sondern vielmehr ein konservativer Zug in der Regierung des Kaisers gewesen sei. Das Verhältnis zwischen den Königen im ostfränkischen Reich zu den Herzögen könne nämlich bereits für das 10. Jahrhundert als Lehnsbindung aufgefasst werden.
PHILIPPE DEPREUX (Limoges) zeigte anhand der Chronik Galberts von Brügge die Mehrdeutigkeit des Symbols des Handganges auf. So berichte Galbert einerseits, dass die Bürger Brügges Wilhelm Clito, dem Nachfolger des ermordeten Grafen von Flandern, bei ihrer kollektiv vollzogenen Untertanenhuldigung ebenso den Handgang leisteten wie später die Vasallen des vormaligen Grafen bei der Erneuerung des Lehnsverhältnisses.
Wie sich Lehnsbeziehungen zu den beiden anderen wichtigen Formen interpersonaler Bindungen im hohen Mittelalter – Verwandtschaft und Freundschaft – verhielten, führte KLAUS VAN EICKELS (Bamberg) aus. Dabei sei nicht durchweg davon auszugehen, dass es sich um konkurrierende Phänomene gehandelt habe, häufig habe das eine das andere vielmehr ergänzt.
Somit konnten in dieser Sektion einige wesentliche Ergebnisse der zweiten Sektion bestätigt und ergänzt werden: Neben Begriffen wie beispielsweise beneficium waren auch Ritualhandlungen wie der Handgang durchaus vieldeutig und können daher für sich allein genommen nicht als Indiz für eine feudo-vasallitische Bindung gewertet werden. Hierfür muss zukünftig viel mehr das ganze Bündel an einzelnen Gesichtspunkten, die vereint ein solches Verhältnis konstituierten, nachgewiesen oder aus dem Kontext erschlossen werden. Das Lehnswesen war zudem nicht das alleinige Ordnungsgefüge der mittelalterlichen Welt, sondern muss stets im Zusammenhang und in der Wechselwirkung mit anderen Formen sozialer Bindung – allen voran Verwandtschaft und Freundschaft – betrachtet werden.

Die Ergebnisse der Tagung stellen, wie auch Roman Deutinger in seiner Zusammenfassung betonte, nunmehr den aktuellen Forschungsstand zum Lehnswesen im Reich des 12. Jahrhunderts dar, von dem künftig auszugehen sein wird. Eine derart intensive und umfangreiche Analyse der Quellen ist vorher nicht in Angriff genommen worden.
BRIGITTE KASTEN (Saarbrücken) und STEFAN ESDERS (Berlin) nahmen im Anschluss an die Zusammenfassung Stellung zu den Ergebnissen der Tagung. Nach Kasten seien einige Parallelen zur Erforschung des Lehnswesens im 9. Jahrhundert festzustellen. Sie formulierte die These, dass bezüglich der feudo-vasallitischen Strukturen um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine neue Epoche begonnen habe. Als einen Aspekt der noch intensiver erforscht werden müsse, benannte sie die sich aus den Ämterlehen ergebenden herrschaftlichen Implikationen des Lehnswesens. Stefan Esders wies auf einige strukturelle Gesichtspunkte hin: So sei ein Grundmovens der Entwicklung feudaler Beziehungen die Notwendigkeit, große Räume mit begrenztem Personal zu verwalten, gewesen. Wesentlicher als das dingliche Element an sich sei der Gedanke der Leihe gewesen. Der Treueid habe für die Lehnsgeber anscheinend nicht zuletzt den Zweck gehabt, eine Rechtsgrundlage zu erlangen, mittels derer ein späterer Entzug eines Lehens begründet werden konnte.
Die Münchner Tagung hat die Mediävistik dem Ziel einer Revision des allzu schematischen und idealtypischen klassischen Bildes von der Geschichte des Lehnswesens hin zu einem neuen, auf solider Quellenbasis aufbauendem, Verständnis dieses Phänomens einen großen Schritt näher gebracht.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Forschungskonstrukte

Moderation: Martina Giese (München)

Werner Hechberger (Koblenz): Das „Lehnswesen“ als Deutungselement der Verfassungsgeschichte des 12. Jahrhunderts in der Forschung

Hans-Henning Kortüm (Rgensburg): Mittelalterliche Verfassungsgeschichte im Bann der Rechtsgeschichte zwischen den Kriegen – Heinrich Mitteis und Otto Brunner

Sektion II: Quellenbefunde (Workshop)

Moderation: Martina Giese (München), Jörg Peltzer (Heidelberg), Irmgard Fees (München)

Panel I: Urkunden

Rudolf Schieffer (München): Das Lehnswesen in den Königsurkunden von Lothar III. bis Heinrich VI.

Karl-Heinz Spiess (Greifswald): Das Lehnswesen in den frühesten Lehnsverzeichnissen

Das Lehnswesen in der privaturkundlichen Überlieferung...

Hubertus Seibert (München): ... des Herzogtums Bayern

Thomas Zotz (Freiburg): ... des Herzogtums Schwaben

Oliver Auge (Greifswald): ... des Nordostens

Stefan Burkhardt (Heidelberg): ... der Hochstifte Mainz und Köln

Daniela Rando (Pavia): Gli istituti feudali della „Marca veronese“ (e del „Regno d’ Italia“) nel secolo XII

Dirk Heirbaut (Gent): Feudalism in the charters of Flanders and Lower Lotharingia

Florian Mazel (Rennes): La féodalité dans les actes du XII siècle en Provence

Panel II : Historiographie, volkssprachliche Quellen

Steffen Patzold (Tübingen): Das Lehnswesen in der klösterlichen Historiographie des 12. Jahrhunderts

Jan-Dirk Müller (München): Die Ordnung des rîche in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts

Öffentlicher Abendvortrag:
Stefan Weinfurter (Heidelberg): Lehnswesen und Rationalisierungsprozess. Grundlagen der neuen Ordnung im hohen Mittelalter

Sektion III: Deutungsrelevanz

Moderation: Robert Gramsch (Jena)

Jürgen Dendorfer (München): Das Wormser Konkordat. Ein Schritt auf dem Weg zur Feudalisierung der Reichsverfassung?

Roman Deutinger (München): Kaiser und Papst: Friedrich I. und Hadrian IV.

Gertrud Thoma (München): Leiheformen zwischen Grundherrschaft und Lehnswesen

Jan Keupp (München): Die Bedeutung des Lehnswesens für die Entstehung der Ministerialität

Philippe Depreux (Limoges): Lehnsrechtliche Symbolhandlungen: Handgang und Investitur

Gerhard Lubich (Bochum): Lehnsgeber und Lehnsnehmer: Herrschende und Beherrschte?

Klaus van Eickels (Bamberg): Verwandtschaft, Freundschaft und Vasallität – Der Wandel von Konzepten personaler Bindung im 12. Jahrhundert

Schlussdiskussion – Round Table

Moderation: Roman Deutinger (München), mit Statements von Brigitte Kasten (Saarbrücken) und Stefan Esders (Berlin)


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